TOD FREI!

Vom real existierenden Surrealismus als höchste Form eines irrealen Sozialismus am Beispiel der Editionen Caligo und Braegen

Vor ihrer Verschriftung war Dichtung Gesang. Auf die Ost-Berliner Punkband The Leistungsleichen ange­wendet, traf diese Erkenntnis mit der offenkundigen Einschränkung zu, daß weder Dichtung noch Gesang zu ihrem Repert­oire zählten. Die strophenlosen Texte reihten mantrenhafte Nihilismen aneinan­der und ihr Her­ausgekläffe setzte sich kaum dem Verdacht aus, man könne etwa singen. Immer­hin sprachen die Texte für einen Ausdrucks­zwang, mit Dichtung aller­dings verband sie soviel wie die Proklamation eines ewigen Neins mit Poesie verbun­den sein kann. Als Ausrufer die­ser Band schien es mir entbehrlich, meine Schlag­zeilen auf­zuschreiben, und so mar­kierte das Ungeschriebene den Be­ginn meines Schrei­bens. … und ein Brief Ro­nald Lippoks.

Ronald trommelte vormals bei der Ostberliner Protopunkband Rosa Ex­tra. Punk war für ihn weniger ein Zu­stand als ein Transitraum, durch den man ging, wenn man woanders ankommen wollte. Uns beide führte nicht eine gemeinsa­me Vergangen­heit in der Szene zusammen. In einer Phase, in welcher Punk auch an Gravi­tationskraft auf meine Um­laufbahn einge­büßt hatte, diagnostizierten wir aneinander ein unsortiertes Faible für DADA und für den Surrealismus. Als Avantgarden der Vorzeit standen sie in meiner Emanzipations-Ge­nese von Eltern­haus und Szene nicht so sehr für eine klassische Moderne als vielmehr für Postpunk. Letzt­lich mit dem Re­sultat, aus der Punkszene, die zur Punkbewegung wur­de, auszuchecken und mich über die folgenden Jahre in die Literaten- und Künstlersze­ne des Prenzlauer Bergs einzuschrei­ben. Wenn auch als schwer lesbare Notiz an ihrem Rande.

Ihrer Natur nach am Rande nicht zu denken, war eine künstlerische Tendenz, die ohne große Umstände das sub-kulturelle Geschmacksz­entrum Ostberlins besetzte. Als ständige Vertretung eines un­ausgesprochenen Konsenses war die Libido zwischen Punks und Neuen Wilden ohne weiteres er­klärlich. Anderer­seits waren Ronald und ich uns in unse­rer Verwunderung dar­über einig, daß die Maler in der Punksze­ne und in de­ren Weichbild meist einem großspurigen Schmalspur-Expressionis­mus huldig­ten und nicht nur ihre Ju­gend ver­schwendeten, sondern auch sehr viel Farbe. Der sub­versive Witz von DADA und der Sinn für das Obskure und Abwegige des Surrea­lismus schienen uns mit dem nihilistischen Wesen von Punk und sei­nem pittores­ken Ornat direk­ter in Verbindung zu ste­hen. Unmittelbarer noch als mit seinem ex­pressiven Element, welches seine anarchi­sche und äußerst pastose Nie­derkunft auf Lein­wand wie einen von kühler Ekstase gesteu­erten Reflex abrief. Als Farbreflexe wirkten diese Bil­der echauffiert, als Einfäl­le ohne Ide­en jedoch ge­nügsam – sie schienen ihren Wert aus ihrer bloßen Existenz abzu­leiten.

Eines Tages klemmte also ein Brief an meiner Tür. Ronald trug mir an, ein der „surrealistischen Sache verpflich­tetes Schriftstück herauszugeben“. Er schrieb: „Was mir vor Augen steht ist eher eine Dokument­ation surrealistische Aktivitä­ten, nichts programmatisches im Stile der Manifeste, also: auto­matische Texte und Zeich­nungen zufäl­liger und au­tovisiater Natur, Cadavre Exquis, Irrenzeich­nungen, irreführende, pseudowissenschaftliche Trakta­te, surrealistische Bil­der, Skulpturen, Fetische, Dokumentationen bizarrer Ereignisse und Kon­stellationen. Kurz ge­sagt, Re­flexionen, die die Dinge in jenem irrisierenden Glanz erscheinen lassen, von dem ich annehme, daß er kultur­los genug ist, um von allen geliebt zu werden.“ Unterzeichnet war dieser Brief und Taufschein mit einem frischen „TOD FREI“.

Ich sah im Osten keine Sonne. Viele Freunde hatten sich bereits gen Westen verflüchtigt, etliche warteten dar­auf, sie mögen endlich in Unehren aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden. Einer allge­meinen Endzeitstim­mung in der ers­ten Hälfte der 80er Jahre entsprechend, sah auch ich nur Licht in Richtung seines Unterg­angs. Im Wi­derspruch dazu suchte ich je­doch nach einem Grund, um im Land zu bleiben. Anlaß war die Liebe und die liebe Familie. Doch die Flieh­kräfte wa­ren groß. Es ent­behrte jeden Sinns, sich diesem schlech­ten Witz von einem Staatsgebilde als bloßem Platzhalter einer Verachtung für sei­ne dün­kelhafte Dissidenz gegen die eigene Bevölkerung zu erhalten. Der Gruß „TOD FREI“ wirkte wie die Signatur unter einer Idee, die mir zunächst eine Kon­frontation mit den ei­genen Ta­lenten oder deren Fehlen versprach, aber auch einen Konflikt mit der Mutter aller Behör­den anmo­derierte.

In ge­wisser Weise drückten wir uns den Stempel eines belebenden Freitods auf. Unbeab­sichtigt, aber ge­wollt, befreiten wir uns von der letztlich vagen Möglichkeit, durch die Protektion des Staates an­geschoben, inner­halb seiner trostlosen Strukturen noch etwas reißen zu dürfen. Es war nur eine Frage der Zeit und des Umfangs unserer Aktivitä­ten, bis hinter unseren Namen ein klares „Erledigt“ stand.

Ich für meine Person kann behaupten, im Mo­ment mei­nes ungefähren Bekenntnisses zur Kunst für den Staat als Künstler tot gewesen zu sein. Das wirkte erleich­ternd.

Ronald malte, womit gesagt war, daß ich die Texte innerhalb unseres Unternehmens beisteu­ern wür­de – ohne je geschrieben zu haben, um zu schreiben. Die technischen Voraussetzungen für eine solche An­maßung wa­ren gege­ben, ein absolutes Privileg in einem System, das die Möglichkeiten, genehmi­gungsfrei zu verviel­fältigen oder zu drucken, konsequent unterband und unter Strafe stellte. Die strapa­zierte Ausnahme bestand im Siebdruck, aller­dings mit der gesetzlich festgeschriebenen Auf­lage, daß die­ser aus­schließlich zum privaten Ge­brauch, daher zum Drucken etwa von Einladungskar­ten oder dem Be­drucken von Servietten und ähnlich rele­vanten Printmedien zu geschehen hatte.

Ich arbeitete als Drucker im Progress Filmverleih, der, wie in der DDR anders kaum vorstellbar, das Monop­ol auf den Vertrieb von Filmen innehatte. Es war ein Traumjob auf unterem Niveau. In einer klei­nen Werk­statt, die auch das Papier- und Farbenlager beherbergte, war ich völlig auf mich gestellt. Mei­ne Aufga­be be­stand darin, Betriebs-Kollektivverträge, fragwürdige Filmstatistiken und hausinterne Mitteilung­en zu dru­cken. Dafür standen mir drei verschiedene Druck- bzw. Verviel­fältigungsverfahren zur Verfügung. Für den Druck von Texten, denen eine längere Halbwertzeit unterstellt wurde, ar­beitete ich mit einer A4-Ro­minor-Offsetdruckma­schine. Für die bloße Vervielfältigung von Tex­ten, deren kürzer an­gelegte Lebensdauer mit ihrer offen­sichtlichen Entbehrlichk­eit kongruent war, wurden mir zu­meist Wachsmatrizen geliefert. Ab­hängig vom Zustand der Schreib­maschinentypen, mit denen sie getippt wur­den, lieferten diese Matrizen ein mehr oder we­niger verlaufenes Schriftbild, als würde man mit Alt­öl in Schwämmchentechnik dru­cken. Für Texte oder Mitteilung­en, die ihre Ent­behrlichkeit noch ins Überflüssigsein zu steigern ver­mochten, kam das Ormig-Ver­fahren zum Ein­satz. Es basierte auf Spiritus­basis, hinterließ ein bläulich-violettes Schrift­bild, wel­ches sich allmählich in ein rosa-apri­kot-farbenes Wasserzei­chen verwandelte, ehe es sich mit den Jahren ganz ver­flüchtigte.

Angewendet auf meine Texte aus die­ser Zeit wäre dieser Effekt durchaus wünschenswert gewesen; sich lang­sam aus­blendend wären auch sie heute in den Zustand des Ungeschriebenen entrückt. Aufgelöst in subli­minalen Spiritusdämpfen und geschluckt von jenem Ur-Dampf, welcher in der römischen Mytholog­ie „Calig­o“ hieß, unter an­derem Ursprung des Chaos gewesen sein soll, in jedem Fall aber als Titel unse­res sur­realistischen Peri­odikums für überaus passend befunden wurde (1). Diese Namens­wahl ist heute schwer nachvollzieh­bar und rächte sich insofern, da ich immer wieder nach einer neuen Ausgabe von „Clavigo“ gefragt wur­de. Einmal abgesehen vom Ur­sprung des Chaos als einer letzten Punk-Refe­renz war es wohl ein altersgerech­ter und daher un­gefilterter Romantizismus, der mir den Sinn für die Er­dung alles Erha­benen umwölkte. Ander­erseits war dieser Titel auch wieder die ex­akte Entspre­chung eines Umnebeltseins der meisten Gedichte und Texte in den Heften. Seine Wahl war inso­fern konsequent und in ihrem Fehlgriff folgerich­tig.

Die erste Ausgabe war die roheste, amateurhafteste und deshalb vielleicht charmanteste von dreien. Wenn dieser ersten, aber auch den beiden folgenden Ausgaben von Ca­ligo, eine Bedeu­tung beizu­messen ist, dann dem illustra­tiven Teil an Zeichnungen, Col­lagen und Cadavre Exquis. Sie wirken bis heute fremd, zei­chenhaft und aufgela­den. Die Texte dagegen machten die vulgär­surrealistischen Pausenclowns zwischen den Bil­dern, denen sie auch kein Narrenspiegel sein konnten. In ihrer rührenden Arroganz waren sie von soetwas wie dem Djin einer reaktio­nären Neuererbewe­gung besessen. Immerhin wurden die Hefte in Li­teratenkreisen mit einer Nach­sicht zur Kennt­nis ge­nommen, die sich mit einem amüsierten, aber ehrlichen Wohl­wollen ge­genüber der abso­luten Wirrnis ihres Inhalts paarte. Bert Papenfuß nannte die erste Ausgabe ein „surrealistis­ches Fanzine“, und traf damit den Kern ei­nes praktizierenden Fantums, welches sich mir heute als der kurze Arm einer über ihr Bestehen hinaus verlängerten Bewegung erschließt. Allen drei Aus­gaben ist viel­leicht ihr Sinn für das Experi­ment zugute zu hal­ten, selbst wenn die­ses seit Jahrzehnten aus­gereizt war. Eine Avantgar­de, die kehrt machte, sich selbst ent­gegen mar­schierte und beim Auf­prall mit ihrem Origi­nal durch das Zeit­loch ihrer Wirkungsge­schichte fiel.

Heute stellt sich mir Ca­ligo als eine Versuchsanordnung, als ein Fall von experi­menteller Archäologie dar: man hantierte mit verschüttet­en Techniken, um zu be­greifen, was man zwar be­griffen, aber nicht erfahren hatte. Ande­rerseits fanden wir uns erfahrungsgemäß auch in der Realität eines irrealen Sozialismus wieder, der in seinen Paradoxi­en oder phantastischsten Wendungen durchaus ei­nem real existierenden Surrealismus entsprach. Vielleicht ergab sich aus der gefürchteten Wesensverschiebung eines instabilen Systems die beinahe flächendec­kenden Abwe­senheit surrealisti­scher Li­teratur und Veröffentlichun­gen inner­halb einer verkrampft Realismus-fixierten Kulturpolitik (2).

Unsere Hingabe an die surrealistische Idee hatte ihre Ur­sache auch in den DDR-eige­nen Exorzismen, wel­che den Surrealism­us durch seine Nähe zum Anarchismus und seinen Rosenkrieg mit dem Kom­munismus als spätbürgerlich, klein­bürgerlich, scheinrevolutio­när und durch sein Be­kenntnis zur Irrationalität für irrelevant er­klärten. Im Übrigen wurde ihm wahr­scheinlich ein­fach nur verübelt, daß er dem Realismus eine Sil­be voranstell­te, die nicht auf seine sozia­listische Vari­ante hinaus­lief. Diese Abnei­gung war ein Motiv un­serer Zunei­gung. In ihr lag unser Impuls be­gründet, auf artifizielle Weise kulturlos genug zu sein, um für Irri­tationen zu sor­gen. Die Hefte waren dann wohl nicht viel mehr als drei Klingelstreiche an den Amtszellen der Staatssi­cherheit (3). Dabei handelte es sich auch nur um das einsame Zentralorgan einer Outsiderkunst im Offground des Prenz­lauer Bergs, die in ihrer Phantasterei nie eingemeindet wur­de. Ihren Status könn­ten sie rückblickend vielleicht aus ihrer Kon­textlosigkeit ziehen.

Caligo stand auch für eine Ausdifferenzier­ung jener Szene, die von Außen­stehenden meist als ho­mogen verstan­den wurde, jedenfalls bis zu ihrer sichtbaren Parzellierung nach ihrem Ende. Die drei Ausgaben mögen immerhin ein Beispiel dafür sein, daß die Weise, auf welche selbstverlegte Zeitschriften ent­standen, für ihre Rezepti­on ebenso rele­vant ist wie die Art ihrer Ausrichtung. Ver­absolutiert wäre diese Vermu­tung nur unter Vorbehalten zu bejahen. Im Falle der Zeit­schrift Caligo und ih­res Fol­geprojektes Braegen ist ihr ganz si­cher zuzustimmen. Sie sind auch das Produkt der Umstän­de ihrer Entstehung, diese aber waren mitunter surrealistischer als das Ergebnis selbst.

Die Auflagenhöhe von dreißig bis vierzig Exemplaren war keiner bibliophilen Marotte geschuldet. Sie rich­tete sich nach dem absurd aufwendigen Vervielfältigungsverfahren. Undurchsichti­gen In­tervallen fol­gend er­höhte sich die Auftragsfrequenz in der Hausdruckerei des Progress mitunter, dann wieder ruhte ihr Betrieb bis zu drei Wo­chen und ich blieb in meiner Untätigkeit dankenswerter­weise mir selbst überlassen. In diesen Zeiten glich mein Anstellungs­verhältnis im eigentlichen Sinne einer Leerstelle. Ich füllte sie, indem ich die von Ronald in seinem Brief annon­cierten Tex­te nach Gut­dünken verfaßte und mit Vervielfältigungs­techniken experi­mentierte.

Schließlich be­nutzte ich für die Herstellung von Caligo ein Verfahren, welches zur Vervielfältigung nicht vorgesehen war. Um mit der Rominor zu arbeiten, mußte man zuvor die Druckplatten herstellen. Dazu war es unerläßlich, den Text oder das Bild auf eine dünne, lichtempfindliche Alumi­niumplatte zu übertragen. Das geschah auf eine umständliche Weise mit­tels Be­lichtung und anschließender Be­schichtung. Die beinahe alchemistisch an­mutende Verfahrensweise, die An­wendung eines Graphitgranulats, unter ständigem Wenden der Druckplatten in einer Art Blackbox, hat sich meinem Lang­zeitgedächtnis in ihrem exakten Ablauf sanft entzogen. Was sich meinem Ge­dächtnis, in wörtli­cher Entspre­chung des Produktionsvorgangs, eingebrannt hat, ist das soge­nannte Einbrennver­fahren. Es war der letzte Akt des druckvorbereitenden Prozesses und diente dazu, das Graphit­pulver des auf die Aluminiumplatten reproduzierten Schriftbildes zu fixieren. Dies wie­derum geschah in einer Art offener Mikro­welle, in welcher die Druckplatten einer zwanzig- bis dreißigse­kündigen Hitze­welle von mehreren hundert Grad ausgesetzt wurden.

Die verkürzte Darstellung bzw. ausgiebi­ge Schilde­rung des gesamten Vorgangs dient le­diglich der Feststellung, daß ich dieses Fotoein­brennverfahren von Druckplatten auf Schreibmaschinenpapier übertrug. Jede Seite mußte, entsprechend der Auflage, dreißig- bis vierzigmal abgelichtet und ihr Inhalt von einer galvani­sierten Fotoplatte, wie in einem Frotageverfah­ren, auf Pa­pier durchgepaust werden. Schon dieses Manöver war nicht selten von Mißerfolg gekrönt und ich war gezwungen, es oft zu wiederholen. Ge­lang es, stand mir jedesmal das Abenteuer bevor, das Papier mit dem noch nicht fixierten Motiv dem Einbrennverfah­ren auszusetzen. Ich überantwortete das A4-Blatt dem Fixator und regelte die Zeit von zwanzig auf zwei Sekun­den runter. Daraufhin löste ich die Hitzezu­fuhr in Intervallen mehrfach aus, da nur eine Be­strahlung den Toner auf dem Papier nicht fi­xierte.

Bei ei­nem Schreibmaschinen­papier, welches roch wie handgeschöpft aus Staub, war dieses Verfahren na­turgemäß denkbar ungeeignet. Trotz der Abstände zum Auskühlen des Papiers zwischen den Hitzewellen wur­de der Fixator nicht selten zum Krematorium. Das war besonders tragisch, wenn ich die Rücksei­te einer gelungenen Vorderseite fixierte, die dann mit in Rauch auf­ging und ich den ganzen Prozeß für zwei Seiten wiederholte. Das Wagnis stand zum Aufwand in keinem Verhältnis. Von ganz anderer Bri­sanz war, daß der Geruch verbrannten Papiers einer Druckerei eher wesensfremd war. Ich durchlief diesen Schöpfungsakt immer mit der Gefahr seiner Entde­ckung durch das unvermittelte Eintret­en von Mitarbeitern des Hauses. Die erste Ausgabe von Caligo umfaßt vierundzwanzig Seiten, daher zwölf Doppelseiten, plus ei­ner Seite für den Titel. Bei einer Auflage von drei­ßig Exemplaren, die eher einem Restposten entsprach, muß­te ich diesen Vorgang in sei­ner Pro­duktionsarchaik dreihundertundneunzig mal durchlaufen. Nicht eingerech­net die Versuche, die ich auf­grund ihres Mißlingens wiederholte.

Doch die Fehlschläge bestanden nicht selten auch im Gelingen unvorherseh­barer Ergeb­nisse, die Ronald und mich entzückten. Mitunter wirkten die Repro­duktionen wie leicht er­blindet, grö­ßere schwarze Flächen deckten häufig nicht und wie­sen gewisserma­ßen im Zentrum ihres schärfsten Sehens Fle­cken wie lichte Irritationen auf. Diese Schwarzpausen schlugen mit leich­ten Brand­spuren auf ihren Rückseiten durch. Das Papier wurde an sol­chen Stellen brüchig, wirk­te aber, als würde es unter den Motiven der anderen Sei­te einen leichten Ölfilm ausschwitzen. Solche Effekte auf einem Pa­pier, des­sen gefühlter Holzgehalt den des Pa­piergehalts zu überschreiten schien, verliehen den Heften eine abgewetzte Haptik, die Caligo erst recht aus der Zeit fal­len ließ. Dieses Entrücktsein verflüchtigte sich etwas in der dritten und letz­ten Ausga­be von Caligo.

Der Progress Filmver­leih schaffte sich das erste Kopiergerät aus DDR-eigener Produktion an. In seinem Kopierverhal­ten war es inso­fern verhaltensauffällig, da es häufig indisponiert war und einer ständi­gen Betreuung durch ein speziell ge­schultes Wartungspersonal bedurfte. Eigentlich war die Entwick­lung ei­nes im inter­nationalen Standard normal proportion­ierten Farbkopierers geplant. Her­aus kam ein Schwarz­weißkopierer zum Handgeld von dreißigtau­send Mark der DDR, ein Ungetüm von beinahe 100 Kilo Gewicht in den Maßen ei­ner kleinen Tiefkühltruhe. Dieses Gerät mit dem etwas kriegsmari­nehaften Na­men Seecop erhöhte aller­dings die Pro­duktionsfrequenz auf bis zu stolze sechzehn Kopien pro Mi­nute und senkte das Konspirationsni­veau. Ich ko­pierte mit ihm die gesamte dritte Caligo-Ausgabe und Tei­le der ersten und einzigen Ausgabe des Brae­gen. (4)

Der Schritt von dem einen zum anderen Heft war ein produkti­onsbedingter, aber auch ein editorischer. Anders als in Caligo bot der Braegen nun weiteren Autoren die Gelegen­heit, regressive Tendenzen auszuleben. Durch Rolf Schil­lings epi­sche Ultimaten an die Moderne und Joachim Wer­neburgs sanften und frommen Rück­schrittsglauben fiel der Braegen dann auch noch einmal in der Zeit zurück und war nun ästhetisch im 19. Jahrhun­dert gelandet. Dieser Eindruck stand in einem seltsamen Kontrast zu den sinnli­chen Gedichten Conny Schlei­mes, die etwas von einem konfrontati­ven Raunen hatten, welches eher kri­tisch als ent­rückt wirkte. Die Texte aus mei­ner Werkstatt glichen zu die­sem Zeitpunkt ei­nem Pseudolatein, einer konkreten Poesie, die ihre Wurzeln im Sym­bolismus hatte und nicht von DADA herrühr­te. Erging sie sich dagegen in lyri­scher Prosa, dann glich sie ei­ner rein assoziati­ven Endzeitpoesie, die noch jeden Sinn den Bil­dern opferte. Ge­krönt wurde das Texte-Medley durch einen Beitrag Gert Neumanns, dessen abstrak­ter Barock in seinem orna­mentalen Aufklärungsges­tus den In­halt des Braegen ge­wissermaßen löschte. Al­les, was am Braegen hoher Ton war, relativierte er durch den analyti­schen Tonfall sei­ner Ge­sprächsobduktionen. Eine zweite Hälfte des Heftes setzte die Tradition der nicht-reprä­sentativen Um­frage aus Caligo fort und forderte die Angeschriebenen auf, sich, ausgehend vom Begriff des Schwarzen Humors, zur Farbe ihres eigenen Hu­mors zu äußern. Mit durchwachsenem Erfolg…

Braegen war aufwendig gestaltet und um ein Layout voller Details bemüht, soweit dies unter den nicht-legalen Be­dingungen, unter denen das Heft entstand, möglich war. Die Titel auf Vor- und Rückseite so­wie die Zeichnun­gen von Ronald waren Siebdrucke, Gunnar Porikys steuerte eine sogenannte Lipographie bei, die foto­mechanisch durch Manipulationen mit dem Entwickler entstand. Beiden Editionen, Caligo und Braegen, war gemeinsam, daß es sich ganz eindeutig nicht um Literatur­zeitschriften handelte. Das Medi­um war Fetisch seiner selbst und der Auf­wand, den ich betrieb, um die Hefte zu verwirklichen, der Ernst, mit welchem ich mich auf die Suche nach Auto­ren für den Braegen begab, beherrschte über zwei Jahre die Chronologie meines Daseins. Gerade bei der Kon­zeption des Braegen kam es mir darauf an, keine Editi­on herauszubringen, die im Ab­klatschverfahren zur Ariad­nefabrik oder Verwendung erschien. So bestand der Wert dieser Untergrund­tätigkeit auch weniger im künst­lerischen Resultat als im Wert einer Tat, mitten in der Hauptstadt, dem Epi­zentrum eines ner­vösen Stillstands.

Von der Herstellung der Hefte aus eigener Hand war ich jedoch bald abgeschnitten. Heute vermute ich, daß der Auslöser für diese Entwicklung die flüchtige Begegnung mit einem jungen Mann war, der in irgendeiner verwandtschaftli­chen Be­ziehung zu der staatli­cherseits exkommunizierten Liedermacherin Bettina Wegner stand. Ich lernte ihn 1986 ken­nen, seine Ausreise stand unmittelbar be­vor. Er besuchte mich in meiner Enklave im Pro­gress. Vielleicht wollte er mir Texte für Caligo geben, ich weiß es nicht mehr. Es wurde jedenfalls ein kurzer Besuch: Wir unterhiel­ten uns, die Tür flog auf wie eingetreten, der Technische Direktor des Hauses, ein Mann namens Mehlhorn, brach ein in unser Ge­spräch. Mit dem Gehabe eines Feldjägers verfügte er über meinen Gast wie über einen Deserteur. Da war kein Recht mehr, außer dem, was er Hausrecht nannte.

Es war nicht selten, daß Freunde mich besuchten, nie war der Progress Film­verleih Sperrgebiet, mit einem Mal jedoch schien er ein geheimer Ort nationalen Interesses. Die Situation war in ihrer Unverhältnismäßigkeit verstörend. Mehlhorn forderte die Herausgabe des Auswei­ses. Als mein Gast in einem wacker zu nennenden Anflug von Widerstandsgeist zunächst einmal den Grund zu erfah­ren wünschte, wurde der Herr des Hauses und seiner Gäste massiv. Ansonsten ein für DDR-Verhältnisse ungewöhn­lich pragmatisch handelnder Mensch, reagierte er mit einer gebremsten Wut, die nur deren Eruption ankün­digte. Er bekam den Ausweis, las den Namen, den er längst kannte und verwies den Eindringling seines Hoheitsgebiet­es. Mich ignorierte er vollständig, was in einem deklarierten Gegensatz zu seiner kumpel- bis on­kelhaften Art stand, die er mir sonst angedeihen ließ.

Die Folgen für die Zukunft übersah ich nicht. Aber eine Mitarbeiterin des Hau­ses, die mir zugetan war, ließ sich in der Werkstatt blicken und warnte mich, daß Mehlhorn in der nächsten halben Stunde eine Durchsuchung meiner Wirkungsstätte veranlassen würde. Also handelte ich für den Mo­ment. Ich war immer vorsichtig gewesen, doch einige Blätter und Druckplatten, Zeugnisse mei­ner Nebentätigkeit, wa­ren in der Werkstatt versteckt. Zu einem Paket verschnürt, deponierte ich alles außen auf einem der Fensterbretter der parterre gelegenen Druckerei und verließ das Haus am Pförtner vorbei. Der Progress Film­verleih befand sich unmit­telbar an der Spree. Mit dem unguten Gefühl, daß ich mich so selbst überführte, nahm ich das Paket und versenkte es am Ufer gegen­über der Nationalgalerie. Es soll­te unauffäll­ig geschehen, doch mir war, als ließe ich einen schweren Anker fallen.

Von der Durchsuchung weiß ich nur, daß sie stattfand. Für ihre Dauer hatte ich die Werk­statt zu verlassen. Unmittelbare Konsequen­zen trafen mich nicht, langfristige schon, ich regis­trierte sie damals jedoch als sol­che nicht. Mir bleibt nur im Nachhinein zu mutmaßen, daß ich, um Aufsehen zu vermeiden, langsam aus der Druckerei gedrängt wurde. Zunächst be­förderte man mich vom Parterre des Hauses in dessen Keller und be­rief mich als Drucker in einer zweiten Funktion zum Heizer. Eine erstaunliche Maßnahme, da Mehlhorn die Druckerei immer zum Herzstück seines Einsatz­gebietes erklär­te und nicht müde wurde, mir die Wichtigkeit meines Postens vor Augen zu führen. Nicht ohne die Gabe zur Motivation, denn er war den Problemen der Druckerei gegen­über aufge­schlossen.

Ich heizte also zwei mächtige Öfen mit einer Braun­kohle, die den Namen nicht verdiente, denn ich heizte mit dem letzten Dreck erschöpft­er Tagebaue. Der Keller war von einer unfaßbaren Trostlo­sigkeit. In den riesigen Räumen lagerten gan­ze Halden einer Koh­lemoräne, aus welcher, wie Prototypen eines Seismographen, überlange Thermometer ragten. Alle paar Stunden hatte ich sie abzulesen, denn auch wenn das Zeug einen Brennwert hatte, der unter dem von Blumenerde lag, so konnte es sich seltsamer­weise doch selbst entzünden. In dem Keller hingen tote Lei­tungen, sie stammten wohl noch aus der Zeit seiner Erbauung. Wie mißlungene Improvisationen seines Grundrisses wirk­ten die toten Absätze und Gänge, die von jedem Lichteinfall abge­schnitten waren und bei deren Anblick ich mich fragte, ob sie ihre Existenz einst nachvoll­ziehbaren Wegen oder etwa der Exzentrik eines Architekten verdankten. Es war ein toter Ort, eine surrealistische Kulis­se, deren morbi­des Charisma ich in überdrehten Fotografien feierte, die ich dann eine Etage hö­her vervielfältigte.

Von der Geschichte des Kellers hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung. Ich kann das heute kaum bedaue­rn. Mitte der 90er Jahre las ich ein Buch mit dem Titel „Stella“. In ihm schildert der Au­tor Pe­ter Wey­den die deprimierende Biografie einer Jü­din. Während des zweiten Weltkrieges spürte sie ande­re Ju­den auf­ und lieferte sie ans Messer, um sich und ihre Eltern vor der Deportation zu bewahren. Ein Satz stand in die­sem Buch, der mir den Keller des Progress Filmverleihs viele Jahre später wieder vergegenwärt­igte: er besagte, daß die „U-Boote“, untergetauch­te Juden, nach ihrer Ergreifung im Keller der Burg­straße 26 ersten verschärf­ten Verhören durch die Gestapo unter­zogen wurden. Das war exakt die Adresse des Progress, und der tote Ort in seinem Funda­ment schien durch seine abgeschiedene Weitläufig­keit ohne Zweifel zum Ort des Todes oder zu dessen Vorhölle ge­eignet.

In einer beklem­menden, wenn auch harmlosen An­reicherung dieses Schre­ckens machte ich dort während meines Heizerdaseins völlig unbefangen Fotos mit Selbstauslöser. Auf ih­nen ist ein verhülltes Opfer zu sehen, das auch einen ver­mummten Tä­ter darstel­len könnte. Eines dieser Fotos ist in der Nummer zwei von Caligo ab­gebildet, ein anderes dann auf der Rückseite eines Heftes, wel­ches ich als letzte illegale Amtshandlung im Pro­gress her­stellte.
Das Heft trug den Titel Autodafé, ich druckte es im Offset in einer Massen-Auflage von einhundert Exemplar­en. Dabei handelte es sich um ein fiktives Verhörprotokoll, welches als Schattentext angelegt war, in des­sen Verlauf ein „menhiristisches“ Manifest ans Licht drängte. Seinen verstiegenen Inhalt zusammen­fassend möchte ich nur soviel anmerken: das Kind war be­hindert, man liebt es trotzdem. Das könnte Rai­ner Schedlin­ski ähn­lich empfun­den haben, denn er fragte an, ob er den Text in der Ariadnefabrik veröffentli­chen könne. Ich kannte ihn bis dahin nur dem Namen und einiger seiner Gedichte nach. Durch diese Veröffentli­chung und den so entstandenen Kontakt wurde er zu etwas wie einem stillen Förderer und unter­stützte meine Aktivitäten. Er vermittelte mir die Adresse von Egmont Hesse, stellte mich im Wiener Café Detlef Opitz vor und machte mich z.B. mit Elke Erb bekannt.

Schon bei meiner ersten Begeg­nung mit ihr schlug er Elke Erb vor, mich zum Schein als Haushaltshilfe einzustellen damit ich nicht we­gen Asozialität belangt werden könne. Auch wenn diese Anstellung nicht zustande kam, war seine Bemühung zu einem Zeitpunkt, an dem ich einmal ohne Anstellung war, äußerst verdienst­voll. Er wußte, daß ich lose mit der oppositionellen „In­itiative für Frieden und Menschenrechte“ assoziiert war und leicht in die Mühlen der gängigen Re­pressionsmechanismen ge­raten könnte. Ab und an versorgte ich das Haus­blatt der Initiative, den Grenzfall, mit Wachsmatrizen und der ent­sprechenden Farbe aus den Beständen des Progress. Wer mich kannte, wußte, daß ich über einen direkten Zugang zu Drucktech­nik und -zubehör verfügte. Irgendwann fragte Rainer Schedlinski mich, ob ich nicht eine A4-Druck­maschine aus dem Progress besorgen könne, um die Ariadnefabrik schnell und ohne den bisherigen Aufwand zu produzie­ren.

Sicher war die Abzweigung ei­ner Druckmaschine aus dem Volkseigentum zum Einsatz für eindeutig ge­setzwidrige Zwecke kein Kapitalver­brechen, aber sie war auch kein Bagatelldelikt. Doch ich fühlte mich herausgefor­dert und fand die Idee naheliegend, wenn auch verwegen. Seit Monaten stand auf dem Hof des Progress ein LKW-Hänger, auf dem ausrangierte Rominor- und Wachsmatrizenmaschinen lagen. Ohne recht zu wissen, wie ich es angehen wollte, bot ich Rainer Schedlinski an, die­sen Hänger zu plündern und eine Maschi­ne als Summe einzelner Teile über ein paar Wochen zusammenzutragen. Dazu kam es nicht, denn in einer merkwürdigen Be­schleunigung dessen, was man Stillstand nennt, lag der Hän­ger nicht länger auf Reede und war mit seiner Fracht von heute auf morgen ver­schwunden.

Bald darauf wurde ich zu Mehlhorn in die Chefetage gerufen. Durchdrungen von väterlichem Ernst sorgte er sich um meine Zukunft und fragte nach meinen Plänen. Ich konnte sie ihm nicht darlegen, ich hatte keine. Mit der Le­gende, ich sei zu Höherem berufen, beförderte er mich aus der Druckerei heraus und versetzte mich in den Filmeinsatz. Verbunden mit der klaren Direktive, daß ich möglichst bald irgendwas in Richtung Kultur­politik studie­ren und vorher erst einmal zur Armee gehen sollte.

Diese Finte war mir als solche nicht bewußt, ich durchschaute sie nicht. Arglos und erhöht bezog ich im dritten Stockwerk ein eigenes Büros von ca. acht Quadrat­metern. Dieses Gelaß war mit Büromöbeln aus den dreißiger oder vierziger Jahren be­stückt, sein Fenster ging hinaus auf einen Schacht, des­sen Beschreibung als ein finsteres Loch noch auf zu viel Licht schließen ließe. Das Wort „kafkaesk“ wird gern auf Situationen angewandt, die in ihrer Absurdität auch eine dif­fuse Bedro­hung beinhalten. Ohne mich sei­nes inflatio­nären Gebrauchs oder einer schmückenden Selbstbe­zichtigung verdächtig zu machen, kann ich sa­gen: meine Situation war kafkaesk. Isoliert und abgeschoben in eine Kammer von Büro war ich nun innerhalb des Be­triebes ohne Auftrag und praktisch arbeitslos. Hin und wieder wurde ich ins Kopierwerk nach Johannis­thal oder ins Stu­dio für Dokumentarfilme am Hausvogtei­platz geschickt. Wozu eigentlich, entzog sich da­mals wie heu­te meiner Kenntnis. Oft lungerte ich einfach in den Be­triebskantinen rum, in welchen die Küchenemissionen der letzten dreißig Jahre schwelten.

Ein eher angenehmer Effekt meiner Beschäfti­gungslosigkeit war die Möglich­keit, mir in den Vorstellungen der hausinternen Filmvorführung Produk­tionen anzusehen, die erst ein halbes Jahr spä­ter in die Kinos kamen. Doch zumeist saß ich in meiner Loge ohne Aussicht und schrieb oder kombinierte am In­halt des Braegen herum. Immer mit der Be­drohung durch den zu erwartenden Marschbefehl. Ich erinnere mich sehr ge­nau, daß Rai­ner Schedlinski mich ein­mal mit den Worten vor meiner Einberufung warnte, Leute wie ich würden bei der NVA kaputtgehen. Seine Warnung schien mir plausibel und trug nicht zu mei­ner Beruhigung bei.

Inzwischen war mein Vorgänger in der Progress-Druckerei zu meinem Nachfolger berufen worden. Seiner Unzuverlässigkeit wegen hatte man mich zwei Jahre zuvor als Drucker eingestellt. Ich empfand das zumin­dest als ver­wunderlich. Konnte ich früher drauflos drucken, gab ich nun ihm die Texte und Zeich­nungen zur Vervielfältig­ung. Selbst­verständlich wollte er bezahlt sein. Wie in seiner offiziellen Funkti­on, so machte er auch in seiner konspira­tiven Tätigkeit seine Sache schlecht, die Seiten waren von einer indisku­tablen Qualität und oft nicht zu gebrau­chen. Er leierte die Drucke ein zweites Mal durch und selbstredend zahl­te ich auch diesen Ver­such. Ir­gendwann gab ich es auf. Und zwar ganz.

Es war deutlich, die Druckerei war mir als Produktionsstät­te entzogen. Im Januar 1987 kündigte ich im Progress Filmver­leih. Mit dieser Kündigung erfolgte auch die Absage an die Gesetzmäßig­keit meiner Wehrpflicht. Und ich verstellte mir endgültig die beängstigende Aussicht auf ein wegweisendes Studiu­m, dessen anschlie­ßende Lauf­bahn keinerlei Überschneidung mit meinem Hang, gezielt durchs eigene Le­ben zu ma­rodieren, aufwies. Ich verlegte die Produktionsstätte des Braegen kurzerhand in eine andere Betriebs­druckerei, unweit des Pro­gress, ebenfalls am Hackeschen Markt gelegen. Durch meine Arbeit bestand der Kontakt zu einem Kol­legen. Hans hieß der Drucker, eine schlichte Seele mit der körperlichen Präsenz ei­nes geal­terten Flei­schergehilfen. Er hatte den Tick, eine Silbe, die sich wie „liewers“ an­hörte, als Binde­mittel in die merkwürdig­e Ziel­losigkeit seiner Sätze einzufü­gen. Einmal fragte ich ihn, ob dies eine regio­nale Eigenart sei, doch er wußte nicht, wovon ich sprach.

Zu Anfang ging ich in seine Werk­statt und brachte ihm, was zu drucken war. Das funk­tionierte sehr gut, als gelernter Drucker war Hans ein penibler und äußerst sor­tierter Arbeiter. Später beordert­e er mich in seine Wohnung, wo er mich im Flur oder in der Küche emp­fing. Zeitgleich ließ die Qualität sei­ner Arbeit auf dramatische Weise nach. Ich bezahlte auch die Fehldrucke, um ihn bei Laune zu halten. Sein Ho­rizont moch­te kein weiter gewesen sein, doch die miserable Qualität sei­ner Arbeit war ein­deutig unter sei­nem Ni­veau. Es hätte mir auffal­len können. Auch dieses Mal dachte ich mir nichts dabei und erst im Laufe einer verzö­gerten Reflexion dieser Zeit be­schlich mich der Verdacht, meine Drucksachen und mein Budget könnten auf diese Weise durch die Staatssi­cherheit sabotiert worden sein. Denn um den Braegen endlich auf den Weg zu brin­gen, brachte ich noch ein Faß ohne Boden zum Überlaufen. Nach seinem Erscheinen errechnete ich, daß mich die­ses eine Heft unge­fähr zweitau­sendfünfhundert Mark in der Her­stellung gekostet hatte.

Als auch der Druckabfall von Hans nicht mehr schön­zuzahlen war, landete ich schließlich in der betriebseigenen Druckerei im „Haus der Elek­trotechnik“ am Alex­anderlatz. Der Dru­cker dort fertigte mich immer zwischen Tür und Angel ab, ohne seine Angst­schwelle je zu über­schreiten. Ich gab diese Quelle schnell wieder auf und geriet an eine stille Helferin, die in der evangelischen Studentengemeinde in der Immanuelkirchstraße arbeitete und an dem dortigen Xerox-Gerät ab und an für mich kopierte. Die Folien für die Siebdruckvorla­gen ließ ich von einem Foto­grafen herstellen, der zuverlässig, desin­teressiert und teuer war. Rainer Sched­linski führte mich in die Werk­statt des Siebdruckers Wolfgang Mau in der Greifenhagener Straße ein. Mau war ein spröder, et­was unzu­gänglicher Zeitgenosse. Die Begegnungen mit ihm waren seltsam beziehungslos. Mit dem unbefriedi­genden Gefühl, er höre nicht zu, wenn die Dru­cke und das zu verwen­dende Papier besprochen wurden, über­ließ ich ihm ban­gen Herzens die Umsetzung des Bil­des, das ich mir vom Braegen machte. Wochen­lang frag­te ich um­sonst wegen der Siebdrucke an, die längst in der Welt sein sollten, aber immer noch im Orbit mei­nes Hoffens kreisten. Nach ei­ner Zeit, die einer gefühlten Epo­che glich, zahlte ich dann wie für Express – doch das Ergebnis von Maus Arbeit erfüllte alle Erwartungen. Am Ende hielt man in Händen, was man vor Augen hatte.

Eine weitere Wendung zum Positiven entkrampfte die Situation. Rainer Schedlinski bot mir an, die Ariad­nefabrik abzutippen. Der Mitherausgeber Andreas Koziol hatte dies bisher allein über­nommen. Die Ariadne­fabrik wurde nicht gedruckt oder vervielfältigt, son­dern bestand aus einseitigen Schreibmaschinendurch­schlägen. Ihre Aufla­ge betrug sechzig Exemplare bei einem Umfang von fünfzig bis sechzig Seiten, sie erschien sechsmal im Jahr. Meine Freundin band als gelernte Sortimentsbuchbinderin immer meine Hefte. Sie un­terstützte auch dieses Unternehmen und steuerte von ihren Valuta-Reserven eine Computer­schreibmaschine bei, die ein Heidengeld kostete. Wie die Maschine ihren Weg von West- nach Ostberlin nahm, ist eine Spur, die verloren ging, ich kann sie nicht zurückverfolgen. Die brother ax 35 verfügte über ein Display von einer ganzen Schreibmaschinenzei­le und konnte eine A4-Seite speichern. Das Rattern der Maschine verwandelte unsere Hinter­hofwohnung in eine Fernschreiber­zentrale. Der Lärm war gut bezahlt, die wichtigste Folge die­ser Anschaffung bestand jedoch darin, daß ich nun in der Herstellung des Braegen beinahe unab­hängig war. Ich überantwortete einen Großteil der bisher vervielfältig­ten Seiten dem Müll und mit ihnen das Geld, das sie ge­kostet hatten.

Im Mai 1989 endlich erschien die Nummer I des Braegen. Die äußere Anmutung des Heftes war eine schwarze Blaupause seines eher esoterischen Inhalts. Mir schwebte vor, seine konservative Tendenz durch eine zweite Nummer neu zu justieren. Den Textteil sollte im wesentlichen ein Zirkel von Freaks beisteuern, Freunde aus Punktagen, die sich Die Zeugen Yamahas nannten, sich in einem Privat-Esperanto untereinander verständigten und kollektiv Non­senstexte so­wie Fake-Adaptionen von Libretti berüchtigter Operetten verzapften. Andererseits arbeitete ich selbst an Texten, die in Reaktion auf die Utopiendämmerung im Lande explizit politisch waren. Aber eben das Auslau­fen einer Gesellschaft über alle Grenzen hinweg bedeutete dann auch das Ende meiner Pläne für eine Neuausrich­tung des Braegen. Doch während die DDR sich langsam verlief und die Republik zur „ehemali­gen“ ausgerufen wurde, arbeite­te ich weiter an einer zweiten Nummer. Die Mittelseite mit einer Grafik von An­dreas Koziol war, gemessen am bisherigen Slowfox, im Quickstep gedruckt. Ebenso die beiden Titelblätter mit dem „Wimper­mann“ als Motiv, einer automati­schen Zeichnung Ronalds, die schon in der ersten Nummer von Ca­ligo auftauch­te.

Mir und anderen erschloß sich erst spät, daß mit der Eingemeindung der DDR in ein anderes Sys­tem, inklusive der da­mit ein­hergehenden Zeit­verschiebung, dem Untergrund der Grund seiner Existenz entzogen war. Noch im Dezember ´89 entstand die Idee einiger Her­ausgeber, eine ge­meinsame Kopierzentrale ein­zurichten, in der dann jeder tatsächlich unabhängig Editionen herstellen konnte. Sascha Anderson machte von Westberlin aus solchen Plänen schnell ein Ende, indem er sie aus­weitete und in logi­scher Konsequenz der Ereig­nisse die Gründung eines Verla­ges, des späteren Druckhaus Galrev, voran­trieb.

Wie oft zuvor war er der Initiator ei­ner Idee, zu deren Verhinde­rer er schlußendlich wurde. In der Folge seiner Enttarnung machte eine zweite die Runde, die mich um einiges persönlicher traf. Der Dichter und Poststruktualist Rainer Schedlinski war selbst Teil eines DDR-immanenten Irrsinns, welchen er äußerst präzise, doch in einem klassischen Fall von Projektion, am offenen System operierte, aber nicht an der geschlossenen Gesellschaft seiner eigenen Person ablas. Seine „IM-Tätigkeit“, wie es neutralisie­rend hieß, hatte etwas Gespenstisches und vermittel­te mir das klamme Ge­fühl, es die Jahre zuvor mit ei­nem Geist zu tun ge­habt zu ha­ben, mit einer „unwirklichen Wirklichkeit“, wie er selbst einmal die DDR beschrieb.

Nicht weniger drama­tisch als das Stalking durch die Staats­sicherheit, ist die Kontamination eines Künstlerkrei­ses durch seine Tangenten bis in dessen äuße­re Ringe hinein. Sascha Anderson und Rainer Schedlinski haben eine ganze Szene beschä­digt und in einen nicht enden wollenden Stellvertreterkrieg verstrickt. Zu erleben wie der Ver­lag, inklusive seiner Gesellschafter und Au­toren, in Sippenhaft genommen wur­de und die Arbeit von zwei Jahren vor die Journaille ging, vor die Allesfresser und feuilletonzahmen Wölfe wie Biermann – das war das Ende eines Anfangs, der eine Fortsetzung mit den Mit­teln der Jetztzeit und eine Literatur des past for­ward versprach. Wie alle anderen Verlags­angehörigen be­antragte ich bei der Gauck-Behörde eine sogenannte „Akteneinsicht“ mit Dring­lichkeitsstatus. Bald darauf er­reichte mich die Auskunft, daß zu meiner Person Akten­deckel ohne Inhalt existiert­en, ich aber Ge­genstand einer Operativen Personenkon­trolle gewesen sei, ihr Decknam­e: „OPK Progress“.

Rainer schrieb eine Poesie, die betont sachlich sprach und sich der Welt gegenüber neutral gab. Doch um wieder einmal Autor und Werk zu trennen, letztlich aber voneinander abzuleiten, bleibt festzustellen, er selbst ist nie neu­tral gewesen. Nicht in seiner dankenswerten Protektion, nicht durch seine unverzeihliche Denunziation. Letzteres wurde eines Mor­gens zur Gewißheit.

Auf dem Weg zum Verlag lief ich die Hagenauer Straße ent­lang. Ein Auto hielt ne­ben mir, einer der Gesellschafter des Verlages stieg aus, über­reichte mir kommentarlos einen A4-Umschlag und fuhr weiter. Ich interes­sierte mich nicht gleich für seinen In­halt. Etwas später öffnete ich ihn, Rainer ar­beitete im selben Raum. Der Um­schlag enthielt einige Seiten seiner Akte, die mich betrafen. Zu­nächst würdigte sein Bericht mein Treiben, was im Rahmen eines Stasi-Bulletins seltsam anmutete. Dann wurde seitenweise Infor­mationsplunder aktenkundig. Bis auf eine Stelle: sie betraf die Auswertung eines von mehreren Aufträgen, die Rainer in Be­zug auf meine Perso­nalie erteilt bekam. Dort stand zu lesen, er solle mich anregen, aus dem Progress Filmver­leih eine Druckma­schine zu organis­ieren. Auf die Nachricht, ich hätte mich seiner Anfrage gegenüber aufgeschlossen ge­zeigt, wur­de erwo­gen, mich un­ter irgendwelchen Vorwänden zu verhaften. Einige Sätze später verwar­f man diese Idee. Ich reichte Rainer die Seiten rüber: Er nahm, las und dementierte.

Mit der Einrichtung eines Druckhauses, einer verlagseigenen Druckerei, wurde eine Gelegenheits-Logistik auf eine proffessionelle Ebene verlagert. Mit der Gründung eines Verlages hob sich die ille­gale Existenz einer Szene auf ein Niveau ober­halb eines Untergrunds. Der „Underground“ stellte ohnehin ein Zertifikat dar, auf welches die wenigsten Autoren Wert legten. Zwei von ihnen waren dann auch mehr Underground als alle anderen. Durch die Folgen ihrer Enttarnung wurde das Druckhaus Galrev isoliert und war als Forum einer einst unter Quarantäne ste­henden Autoren- und Malergene­ration nicht länger zu halten, auch nicht mittels seiner praktizierten Öffnung nach Westen.

Die Idee war einmal, den Begriff der „unab­hängigen Editionen“ neu zu bewahrheiten und loszulösen von seinem illegalen Effet. Wir wollten frei veröffentlichen, und dies ohne jede technische Prohibition. Letz­teres ist bis heute möglich. Das Druckhaus überdauerte Galrev als das produktionstechnische Fragment eines Verlages, der seinen Geist aushauchte.

Dieser Text ist Auszug aus dem im Verlag “Verbrecher” 2009 erschienenen Buch „Die Addition der Differenzen – Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989“ (Herausgeber: Uwe Warnke, Ingeborg Quaas). Der Autor und Ostberliner Künstler Henryk Gericke betreibt heute die Staatsgalerie Prenzlauer Berg.

Anm. des Autors:

(1) Alle drei Nummern wurden durch headliner-hafte Untertitel eingeläutet. Diese waren leichten Ver­schiebungen unterw­orfen. Auf der ersten Ausgabe war zu lesen: „Dokumentation automati­scher und zwanghaf­ter Entäuße­rungen zur Rehabilitierung der anderen VVirklichkeit“. Auf der zweiten Nummer hieß es dann: „Zwanghafte Entäuße­rungen zur Überwindung der inneren und äußeren Wirklichkeit“. Das dritte Heft wurde durch „Zwanghaf­te Entäußerun­gen zur Schaffung einer neuen Wirklichkeit“ annonciert.

(2) Die große Ausnahme unter kleineren bildete das 1986 bei Reclam Leipzig erschienene Buch „Surrealismus in Pa­ris, 1919-1939“, herausgegeben von Karlheinz Barck. In einer in die Breite gehen­den Dichte versammelte es die zentralen Texte und Poeme des Surrealismus. Der Essay des Heraus­gebers zeichnete sich durch eine neue Sachlichkeit gegen­über der Geschichte des Surrealismus aus. Gemessen an der DDR-immanenten Nicht-Rezeption und eines lexikalischen Verweises des Surrealis­mus wäre eher eine tendenziöse Retour-Kut­sche von Nachwort zu erwarten ge­wesen.

(3) Aus diesem Grund, aber auch durch die Lust an der Identitätsverschiebung, wählten Ronald Lippok und ich Pseudony­me. Ronald zeichnete mit Long Gompa, dem Namen eines tibetischen Mönches, den der englische Sur­realist Ro­land Penrose in einem Buch erwähnte. Long Gompa stand im Ruf, von Berg zu Berg springen und so bei­nahe gleich­zeitig an mehreren Orten auftauchen zu können. Ich firmierte unter Laszlo Toth, dem Namen eines wahnhaft religiösen, unga­risch- stämmigen Australiers. 1972 schlug er während einer Messe, die der Pabst in Rom zelebrierte, mit ei­nem Vor­schlaghammer der Pieta von Michelangelo die Nase und eine Hand ab, worauf die versam­melte Christen­gemeinde ihn beinahe lynchte. Die letzte existierende Surrealistengruppe schlug Laszlo Toth im sel­ben Jahr als Preisträ­ger der Plastikbiennale in Venedig vor.

(4) Der Untertitel des Braegen, „Zeitschrift für Graphomanie und Pandemie“, setzte sich von denen der Caligo-Hefte im­merhin durch eine Sinnfreiheit ab, die in ihrer behaupteten Verachtung für den Vorgang des Schreibens durchaus au­thentisch und nicht ohne Ironie war.