TOD FREI!
Vom real existierenden Surrealismus als höchste Form eines irrealen Sozialismus am Beispiel der Editionen Caligo und Braegen
Vor ihrer Verschriftung war Dichtung Gesang. Auf die Ost-Berliner Punkband The Leistungsleichen angewendet, traf diese Erkenntnis mit der offenkundigen Einschränkung zu, daß weder Dichtung noch Gesang zu ihrem Repertoire zählten. Die strophenlosen Texte reihten mantrenhafte Nihilismen aneinander und ihr Herausgekläffe setzte sich kaum dem Verdacht aus, man könne etwa singen. Immerhin sprachen die Texte für einen Ausdruckszwang, mit Dichtung allerdings verband sie soviel wie die Proklamation eines ewigen Neins mit Poesie verbunden sein kann. Als Ausrufer dieser Band schien es mir entbehrlich, meine Schlagzeilen aufzuschreiben, und so markierte das Ungeschriebene den Beginn meines Schreibens. … und ein Brief Ronald Lippoks.
Ronald trommelte vormals bei der Ostberliner Protopunkband Rosa Extra. Punk war für ihn weniger ein Zustand als ein Transitraum, durch den man ging, wenn man woanders ankommen wollte. Uns beide führte nicht eine gemeinsame Vergangenheit in der Szene zusammen. In einer Phase, in welcher Punk auch an Gravitationskraft auf meine Umlaufbahn eingebüßt hatte, diagnostizierten wir aneinander ein unsortiertes Faible für DADA und für den Surrealismus. Als Avantgarden der Vorzeit standen sie in meiner Emanzipations-Genese von Elternhaus und Szene nicht so sehr für eine klassische Moderne als vielmehr für Postpunk. Letztlich mit dem Resultat, aus der Punkszene, die zur Punkbewegung wurde, auszuchecken und mich über die folgenden Jahre in die Literaten- und Künstlerszene des Prenzlauer Bergs einzuschreiben. Wenn auch als schwer lesbare Notiz an ihrem Rande.
Ihrer Natur nach am Rande nicht zu denken, war eine künstlerische Tendenz, die ohne große Umstände das sub-kulturelle Geschmackszentrum Ostberlins besetzte. Als ständige Vertretung eines unausgesprochenen Konsenses war die Libido zwischen Punks und Neuen Wilden ohne weiteres erklärlich. Andererseits waren Ronald und ich uns in unserer Verwunderung darüber einig, daß die Maler in der Punkszene und in deren Weichbild meist einem großspurigen Schmalspur-Expressionismus huldigten und nicht nur ihre Jugend verschwendeten, sondern auch sehr viel Farbe. Der subversive Witz von DADA und der Sinn für das Obskure und Abwegige des Surrealismus schienen uns mit dem nihilistischen Wesen von Punk und seinem pittoresken Ornat direkter in Verbindung zu stehen. Unmittelbarer noch als mit seinem expressiven Element, welches seine anarchische und äußerst pastose Niederkunft auf Leinwand wie einen von kühler Ekstase gesteuerten Reflex abrief. Als Farbreflexe wirkten diese Bilder echauffiert, als Einfälle ohne Ideen jedoch genügsam – sie schienen ihren Wert aus ihrer bloßen Existenz abzuleiten.
Eines Tages klemmte also ein Brief an meiner Tür. Ronald trug mir an, ein der „surrealistischen Sache verpflichtetes Schriftstück herauszugeben“. Er schrieb: „Was mir vor Augen steht ist eher eine Dokumentation surrealistische Aktivitäten, nichts programmatisches im Stile der Manifeste, also: automatische Texte und Zeichnungen zufälliger und autovisiater Natur, Cadavre Exquis, Irrenzeichnungen, irreführende, pseudowissenschaftliche Traktate, surrealistische Bilder, Skulpturen, Fetische, Dokumentationen bizarrer Ereignisse und Konstellationen. Kurz gesagt, Reflexionen, die die Dinge in jenem irrisierenden Glanz erscheinen lassen, von dem ich annehme, daß er kulturlos genug ist, um von allen geliebt zu werden.“ Unterzeichnet war dieser Brief und Taufschein mit einem frischen „TOD FREI“.
Ich sah im Osten keine Sonne. Viele Freunde hatten sich bereits gen Westen verflüchtigt, etliche warteten darauf, sie mögen endlich in Unehren aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden. Einer allgemeinen Endzeitstimmung in der ersten Hälfte der 80er Jahre entsprechend, sah auch ich nur Licht in Richtung seines Untergangs. Im Widerspruch dazu suchte ich jedoch nach einem Grund, um im Land zu bleiben. Anlaß war die Liebe und die liebe Familie. Doch die Fliehkräfte waren groß. Es entbehrte jeden Sinns, sich diesem schlechten Witz von einem Staatsgebilde als bloßem Platzhalter einer Verachtung für seine dünkelhafte Dissidenz gegen die eigene Bevölkerung zu erhalten. Der Gruß „TOD FREI“ wirkte wie die Signatur unter einer Idee, die mir zunächst eine Konfrontation mit den eigenen Talenten oder deren Fehlen versprach, aber auch einen Konflikt mit der Mutter aller Behörden anmoderierte.
In gewisser Weise drückten wir uns den Stempel eines belebenden Freitods auf. Unbeabsichtigt, aber gewollt, befreiten wir uns von der letztlich vagen Möglichkeit, durch die Protektion des Staates angeschoben, innerhalb seiner trostlosen Strukturen noch etwas reißen zu dürfen. Es war nur eine Frage der Zeit und des Umfangs unserer Aktivitäten, bis hinter unseren Namen ein klares „Erledigt“ stand.
Ich für meine Person kann behaupten, im Moment meines ungefähren Bekenntnisses zur Kunst für den Staat als Künstler tot gewesen zu sein. Das wirkte erleichternd.
Ronald malte, womit gesagt war, daß ich die Texte innerhalb unseres Unternehmens beisteuern würde – ohne je geschrieben zu haben, um zu schreiben. Die technischen Voraussetzungen für eine solche Anmaßung waren gegeben, ein absolutes Privileg in einem System, das die Möglichkeiten, genehmigungsfrei zu vervielfältigen oder zu drucken, konsequent unterband und unter Strafe stellte. Die strapazierte Ausnahme bestand im Siebdruck, allerdings mit der gesetzlich festgeschriebenen Auflage, daß dieser ausschließlich zum privaten Gebrauch, daher zum Drucken etwa von Einladungskarten oder dem Bedrucken von Servietten und ähnlich relevanten Printmedien zu geschehen hatte.
Ich arbeitete als Drucker im Progress Filmverleih, der, wie in der DDR anders kaum vorstellbar, das Monopol auf den Vertrieb von Filmen innehatte. Es war ein Traumjob auf unterem Niveau. In einer kleinen Werkstatt, die auch das Papier- und Farbenlager beherbergte, war ich völlig auf mich gestellt. Meine Aufgabe bestand darin, Betriebs-Kollektivverträge, fragwürdige Filmstatistiken und hausinterne Mitteilungen zu drucken. Dafür standen mir drei verschiedene Druck- bzw. Vervielfältigungsverfahren zur Verfügung. Für den Druck von Texten, denen eine längere Halbwertzeit unterstellt wurde, arbeitete ich mit einer A4-Rominor-Offsetdruckmaschine. Für die bloße Vervielfältigung von Texten, deren kürzer angelegte Lebensdauer mit ihrer offensichtlichen Entbehrlichkeit kongruent war, wurden mir zumeist Wachsmatrizen geliefert. Abhängig vom Zustand der Schreibmaschinentypen, mit denen sie getippt wurden, lieferten diese Matrizen ein mehr oder weniger verlaufenes Schriftbild, als würde man mit Altöl in Schwämmchentechnik drucken. Für Texte oder Mitteilungen, die ihre Entbehrlichkeit noch ins Überflüssigsein zu steigern vermochten, kam das Ormig-Verfahren zum Einsatz. Es basierte auf Spiritusbasis, hinterließ ein bläulich-violettes Schriftbild, welches sich allmählich in ein rosa-aprikot-farbenes Wasserzeichen verwandelte, ehe es sich mit den Jahren ganz verflüchtigte.
Angewendet auf meine Texte aus dieser Zeit wäre dieser Effekt durchaus wünschenswert gewesen; sich langsam ausblendend wären auch sie heute in den Zustand des Ungeschriebenen entrückt. Aufgelöst in subliminalen Spiritusdämpfen und geschluckt von jenem Ur-Dampf, welcher in der römischen Mythologie „Caligo“ hieß, unter anderem Ursprung des Chaos gewesen sein soll, in jedem Fall aber als Titel unseres surrealistischen Periodikums für überaus passend befunden wurde (1). Diese Namenswahl ist heute schwer nachvollziehbar und rächte sich insofern, da ich immer wieder nach einer neuen Ausgabe von „Clavigo“ gefragt wurde. Einmal abgesehen vom Ursprung des Chaos als einer letzten Punk-Referenz war es wohl ein altersgerechter und daher ungefilterter Romantizismus, der mir den Sinn für die Erdung alles Erhabenen umwölkte. Andererseits war dieser Titel auch wieder die exakte Entsprechung eines Umnebeltseins der meisten Gedichte und Texte in den Heften. Seine Wahl war insofern konsequent und in ihrem Fehlgriff folgerichtig.
Die erste Ausgabe war die roheste, amateurhafteste und deshalb vielleicht charmanteste von dreien. Wenn dieser ersten, aber auch den beiden folgenden Ausgaben von Caligo, eine Bedeutung beizumessen ist, dann dem illustrativen Teil an Zeichnungen, Collagen und Cadavre Exquis. Sie wirken bis heute fremd, zeichenhaft und aufgeladen. Die Texte dagegen machten die vulgärsurrealistischen Pausenclowns zwischen den Bildern, denen sie auch kein Narrenspiegel sein konnten. In ihrer rührenden Arroganz waren sie von soetwas wie dem Djin einer reaktionären Neuererbewegung besessen. Immerhin wurden die Hefte in Literatenkreisen mit einer Nachsicht zur Kenntnis genommen, die sich mit einem amüsierten, aber ehrlichen Wohlwollen gegenüber der absoluten Wirrnis ihres Inhalts paarte. Bert Papenfuß nannte die erste Ausgabe ein „surrealistisches Fanzine“, und traf damit den Kern eines praktizierenden Fantums, welches sich mir heute als der kurze Arm einer über ihr Bestehen hinaus verlängerten Bewegung erschließt. Allen drei Ausgaben ist vielleicht ihr Sinn für das Experiment zugute zu halten, selbst wenn dieses seit Jahrzehnten ausgereizt war. Eine Avantgarde, die kehrt machte, sich selbst entgegen marschierte und beim Aufprall mit ihrem Original durch das Zeitloch ihrer Wirkungsgeschichte fiel.
Heute stellt sich mir Caligo als eine Versuchsanordnung, als ein Fall von experimenteller Archäologie dar: man hantierte mit verschütteten Techniken, um zu begreifen, was man zwar begriffen, aber nicht erfahren hatte. Andererseits fanden wir uns erfahrungsgemäß auch in der Realität eines irrealen Sozialismus wieder, der in seinen Paradoxien oder phantastischsten Wendungen durchaus einem real existierenden Surrealismus entsprach. Vielleicht ergab sich aus der gefürchteten Wesensverschiebung eines instabilen Systems die beinahe flächendeckenden Abwesenheit surrealistischer Literatur und Veröffentlichungen innerhalb einer verkrampft Realismus-fixierten Kulturpolitik (2).
Unsere Hingabe an die surrealistische Idee hatte ihre Ursache auch in den DDR-eigenen Exorzismen, welche den Surrealismus durch seine Nähe zum Anarchismus und seinen Rosenkrieg mit dem Kommunismus als spätbürgerlich, kleinbürgerlich, scheinrevolutionär und durch sein Bekenntnis zur Irrationalität für irrelevant erklärten. Im Übrigen wurde ihm wahrscheinlich einfach nur verübelt, daß er dem Realismus eine Silbe voranstellte, die nicht auf seine sozialistische Variante hinauslief. Diese Abneigung war ein Motiv unserer Zuneigung. In ihr lag unser Impuls begründet, auf artifizielle Weise kulturlos genug zu sein, um für Irritationen zu sorgen. Die Hefte waren dann wohl nicht viel mehr als drei Klingelstreiche an den Amtszellen der Staatssicherheit (3). Dabei handelte es sich auch nur um das einsame Zentralorgan einer Outsiderkunst im Offground des Prenzlauer Bergs, die in ihrer Phantasterei nie eingemeindet wurde. Ihren Status könnten sie rückblickend vielleicht aus ihrer Kontextlosigkeit ziehen.
Caligo stand auch für eine Ausdifferenzierung jener Szene, die von Außenstehenden meist als homogen verstanden wurde, jedenfalls bis zu ihrer sichtbaren Parzellierung nach ihrem Ende. Die drei Ausgaben mögen immerhin ein Beispiel dafür sein, daß die Weise, auf welche selbstverlegte Zeitschriften entstanden, für ihre Rezeption ebenso relevant ist wie die Art ihrer Ausrichtung. Verabsolutiert wäre diese Vermutung nur unter Vorbehalten zu bejahen. Im Falle der Zeitschrift Caligo und ihres Folgeprojektes Braegen ist ihr ganz sicher zuzustimmen. Sie sind auch das Produkt der Umstände ihrer Entstehung, diese aber waren mitunter surrealistischer als das Ergebnis selbst.
Die Auflagenhöhe von dreißig bis vierzig Exemplaren war keiner bibliophilen Marotte geschuldet. Sie richtete sich nach dem absurd aufwendigen Vervielfältigungsverfahren. Undurchsichtigen Intervallen folgend erhöhte sich die Auftragsfrequenz in der Hausdruckerei des Progress mitunter, dann wieder ruhte ihr Betrieb bis zu drei Wochen und ich blieb in meiner Untätigkeit dankenswerterweise mir selbst überlassen. In diesen Zeiten glich mein Anstellungsverhältnis im eigentlichen Sinne einer Leerstelle. Ich füllte sie, indem ich die von Ronald in seinem Brief annoncierten Texte nach Gutdünken verfaßte und mit Vervielfältigungstechniken experimentierte.
Schließlich benutzte ich für die Herstellung von Caligo ein Verfahren, welches zur Vervielfältigung nicht vorgesehen war. Um mit der Rominor zu arbeiten, mußte man zuvor die Druckplatten herstellen. Dazu war es unerläßlich, den Text oder das Bild auf eine dünne, lichtempfindliche Aluminiumplatte zu übertragen. Das geschah auf eine umständliche Weise mittels Belichtung und anschließender Beschichtung. Die beinahe alchemistisch anmutende Verfahrensweise, die Anwendung eines Graphitgranulats, unter ständigem Wenden der Druckplatten in einer Art Blackbox, hat sich meinem Langzeitgedächtnis in ihrem exakten Ablauf sanft entzogen. Was sich meinem Gedächtnis, in wörtlicher Entsprechung des Produktionsvorgangs, eingebrannt hat, ist das sogenannte Einbrennverfahren. Es war der letzte Akt des druckvorbereitenden Prozesses und diente dazu, das Graphitpulver des auf die Aluminiumplatten reproduzierten Schriftbildes zu fixieren. Dies wiederum geschah in einer Art offener Mikrowelle, in welcher die Druckplatten einer zwanzig- bis dreißigsekündigen Hitzewelle von mehreren hundert Grad ausgesetzt wurden.
Die verkürzte Darstellung bzw. ausgiebige Schilderung des gesamten Vorgangs dient lediglich der Feststellung, daß ich dieses Fotoeinbrennverfahren von Druckplatten auf Schreibmaschinenpapier übertrug. Jede Seite mußte, entsprechend der Auflage, dreißig- bis vierzigmal abgelichtet und ihr Inhalt von einer galvanisierten Fotoplatte, wie in einem Frotageverfahren, auf Papier durchgepaust werden. Schon dieses Manöver war nicht selten von Mißerfolg gekrönt und ich war gezwungen, es oft zu wiederholen. Gelang es, stand mir jedesmal das Abenteuer bevor, das Papier mit dem noch nicht fixierten Motiv dem Einbrennverfahren auszusetzen. Ich überantwortete das A4-Blatt dem Fixator und regelte die Zeit von zwanzig auf zwei Sekunden runter. Daraufhin löste ich die Hitzezufuhr in Intervallen mehrfach aus, da nur eine Bestrahlung den Toner auf dem Papier nicht fixierte.
Bei einem Schreibmaschinenpapier, welches roch wie handgeschöpft aus Staub, war dieses Verfahren naturgemäß denkbar ungeeignet. Trotz der Abstände zum Auskühlen des Papiers zwischen den Hitzewellen wurde der Fixator nicht selten zum Krematorium. Das war besonders tragisch, wenn ich die Rückseite einer gelungenen Vorderseite fixierte, die dann mit in Rauch aufging und ich den ganzen Prozeß für zwei Seiten wiederholte. Das Wagnis stand zum Aufwand in keinem Verhältnis. Von ganz anderer Brisanz war, daß der Geruch verbrannten Papiers einer Druckerei eher wesensfremd war. Ich durchlief diesen Schöpfungsakt immer mit der Gefahr seiner Entdeckung durch das unvermittelte Eintreten von Mitarbeitern des Hauses. Die erste Ausgabe von Caligo umfaßt vierundzwanzig Seiten, daher zwölf Doppelseiten, plus einer Seite für den Titel. Bei einer Auflage von dreißig Exemplaren, die eher einem Restposten entsprach, mußte ich diesen Vorgang in seiner Produktionsarchaik dreihundertundneunzig mal durchlaufen. Nicht eingerechnet die Versuche, die ich aufgrund ihres Mißlingens wiederholte.
Doch die Fehlschläge bestanden nicht selten auch im Gelingen unvorhersehbarer Ergebnisse, die Ronald und mich entzückten. Mitunter wirkten die Reproduktionen wie leicht erblindet, größere schwarze Flächen deckten häufig nicht und wiesen gewissermaßen im Zentrum ihres schärfsten Sehens Flecken wie lichte Irritationen auf. Diese Schwarzpausen schlugen mit leichten Brandspuren auf ihren Rückseiten durch. Das Papier wurde an solchen Stellen brüchig, wirkte aber, als würde es unter den Motiven der anderen Seite einen leichten Ölfilm ausschwitzen. Solche Effekte auf einem Papier, dessen gefühlter Holzgehalt den des Papiergehalts zu überschreiten schien, verliehen den Heften eine abgewetzte Haptik, die Caligo erst recht aus der Zeit fallen ließ. Dieses Entrücktsein verflüchtigte sich etwas in der dritten und letzten Ausgabe von Caligo.
Der Progress Filmverleih schaffte sich das erste Kopiergerät aus DDR-eigener Produktion an. In seinem Kopierverhalten war es insofern verhaltensauffällig, da es häufig indisponiert war und einer ständigen Betreuung durch ein speziell geschultes Wartungspersonal bedurfte. Eigentlich war die Entwicklung eines im internationalen Standard normal proportionierten Farbkopierers geplant. Heraus kam ein Schwarzweißkopierer zum Handgeld von dreißigtausend Mark der DDR, ein Ungetüm von beinahe 100 Kilo Gewicht in den Maßen einer kleinen Tiefkühltruhe. Dieses Gerät mit dem etwas kriegsmarinehaften Namen Seecop erhöhte allerdings die Produktionsfrequenz auf bis zu stolze sechzehn Kopien pro Minute und senkte das Konspirationsniveau. Ich kopierte mit ihm die gesamte dritte Caligo-Ausgabe und Teile der ersten und einzigen Ausgabe des Braegen. (4)
Der Schritt von dem einen zum anderen Heft war ein produktionsbedingter, aber auch ein editorischer. Anders als in Caligo bot der Braegen nun weiteren Autoren die Gelegenheit, regressive Tendenzen auszuleben. Durch Rolf Schillings epische Ultimaten an die Moderne und Joachim Werneburgs sanften und frommen Rückschrittsglauben fiel der Braegen dann auch noch einmal in der Zeit zurück und war nun ästhetisch im 19. Jahrhundert gelandet. Dieser Eindruck stand in einem seltsamen Kontrast zu den sinnlichen Gedichten Conny Schleimes, die etwas von einem konfrontativen Raunen hatten, welches eher kritisch als entrückt wirkte. Die Texte aus meiner Werkstatt glichen zu diesem Zeitpunkt einem Pseudolatein, einer konkreten Poesie, die ihre Wurzeln im Symbolismus hatte und nicht von DADA herrührte. Erging sie sich dagegen in lyrischer Prosa, dann glich sie einer rein assoziativen Endzeitpoesie, die noch jeden Sinn den Bildern opferte. Gekrönt wurde das Texte-Medley durch einen Beitrag Gert Neumanns, dessen abstrakter Barock in seinem ornamentalen Aufklärungsgestus den Inhalt des Braegen gewissermaßen löschte. Alles, was am Braegen hoher Ton war, relativierte er durch den analytischen Tonfall seiner Gesprächsobduktionen. Eine zweite Hälfte des Heftes setzte die Tradition der nicht-repräsentativen Umfrage aus Caligo fort und forderte die Angeschriebenen auf, sich, ausgehend vom Begriff des Schwarzen Humors, zur Farbe ihres eigenen Humors zu äußern. Mit durchwachsenem Erfolg…
Braegen war aufwendig gestaltet und um ein Layout voller Details bemüht, soweit dies unter den nicht-legalen Bedingungen, unter denen das Heft entstand, möglich war. Die Titel auf Vor- und Rückseite sowie die Zeichnungen von Ronald waren Siebdrucke, Gunnar Porikys steuerte eine sogenannte Lipographie bei, die fotomechanisch durch Manipulationen mit dem Entwickler entstand. Beiden Editionen, Caligo und Braegen, war gemeinsam, daß es sich ganz eindeutig nicht um Literaturzeitschriften handelte. Das Medium war Fetisch seiner selbst und der Aufwand, den ich betrieb, um die Hefte zu verwirklichen, der Ernst, mit welchem ich mich auf die Suche nach Autoren für den Braegen begab, beherrschte über zwei Jahre die Chronologie meines Daseins. Gerade bei der Konzeption des Braegen kam es mir darauf an, keine Edition herauszubringen, die im Abklatschverfahren zur Ariadnefabrik oder Verwendung erschien. So bestand der Wert dieser Untergrundtätigkeit auch weniger im künstlerischen Resultat als im Wert einer Tat, mitten in der Hauptstadt, dem Epizentrum eines nervösen Stillstands.
Von der Herstellung der Hefte aus eigener Hand war ich jedoch bald abgeschnitten. Heute vermute ich, daß der Auslöser für diese Entwicklung die flüchtige Begegnung mit einem jungen Mann war, der in irgendeiner verwandtschaftlichen Beziehung zu der staatlicherseits exkommunizierten Liedermacherin Bettina Wegner stand. Ich lernte ihn 1986 kennen, seine Ausreise stand unmittelbar bevor. Er besuchte mich in meiner Enklave im Progress. Vielleicht wollte er mir Texte für Caligo geben, ich weiß es nicht mehr. Es wurde jedenfalls ein kurzer Besuch: Wir unterhielten uns, die Tür flog auf wie eingetreten, der Technische Direktor des Hauses, ein Mann namens Mehlhorn, brach ein in unser Gespräch. Mit dem Gehabe eines Feldjägers verfügte er über meinen Gast wie über einen Deserteur. Da war kein Recht mehr, außer dem, was er Hausrecht nannte.
Es war nicht selten, daß Freunde mich besuchten, nie war der Progress Filmverleih Sperrgebiet, mit einem Mal jedoch schien er ein geheimer Ort nationalen Interesses. Die Situation war in ihrer Unverhältnismäßigkeit verstörend. Mehlhorn forderte die Herausgabe des Ausweises. Als mein Gast in einem wacker zu nennenden Anflug von Widerstandsgeist zunächst einmal den Grund zu erfahren wünschte, wurde der Herr des Hauses und seiner Gäste massiv. Ansonsten ein für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich pragmatisch handelnder Mensch, reagierte er mit einer gebremsten Wut, die nur deren Eruption ankündigte. Er bekam den Ausweis, las den Namen, den er längst kannte und verwies den Eindringling seines Hoheitsgebietes. Mich ignorierte er vollständig, was in einem deklarierten Gegensatz zu seiner kumpel- bis onkelhaften Art stand, die er mir sonst angedeihen ließ.
Die Folgen für die Zukunft übersah ich nicht. Aber eine Mitarbeiterin des Hauses, die mir zugetan war, ließ sich in der Werkstatt blicken und warnte mich, daß Mehlhorn in der nächsten halben Stunde eine Durchsuchung meiner Wirkungsstätte veranlassen würde. Also handelte ich für den Moment. Ich war immer vorsichtig gewesen, doch einige Blätter und Druckplatten, Zeugnisse meiner Nebentätigkeit, waren in der Werkstatt versteckt. Zu einem Paket verschnürt, deponierte ich alles außen auf einem der Fensterbretter der parterre gelegenen Druckerei und verließ das Haus am Pförtner vorbei. Der Progress Filmverleih befand sich unmittelbar an der Spree. Mit dem unguten Gefühl, daß ich mich so selbst überführte, nahm ich das Paket und versenkte es am Ufer gegenüber der Nationalgalerie. Es sollte unauffällig geschehen, doch mir war, als ließe ich einen schweren Anker fallen.
Von der Durchsuchung weiß ich nur, daß sie stattfand. Für ihre Dauer hatte ich die Werkstatt zu verlassen. Unmittelbare Konsequenzen trafen mich nicht, langfristige schon, ich registrierte sie damals jedoch als solche nicht. Mir bleibt nur im Nachhinein zu mutmaßen, daß ich, um Aufsehen zu vermeiden, langsam aus der Druckerei gedrängt wurde. Zunächst beförderte man mich vom Parterre des Hauses in dessen Keller und berief mich als Drucker in einer zweiten Funktion zum Heizer. Eine erstaunliche Maßnahme, da Mehlhorn die Druckerei immer zum Herzstück seines Einsatzgebietes erklärte und nicht müde wurde, mir die Wichtigkeit meines Postens vor Augen zu führen. Nicht ohne die Gabe zur Motivation, denn er war den Problemen der Druckerei gegenüber aufgeschlossen.
Ich heizte also zwei mächtige Öfen mit einer Braunkohle, die den Namen nicht verdiente, denn ich heizte mit dem letzten Dreck erschöpfter Tagebaue. Der Keller war von einer unfaßbaren Trostlosigkeit. In den riesigen Räumen lagerten ganze Halden einer Kohlemoräne, aus welcher, wie Prototypen eines Seismographen, überlange Thermometer ragten. Alle paar Stunden hatte ich sie abzulesen, denn auch wenn das Zeug einen Brennwert hatte, der unter dem von Blumenerde lag, so konnte es sich seltsamerweise doch selbst entzünden. In dem Keller hingen tote Leitungen, sie stammten wohl noch aus der Zeit seiner Erbauung. Wie mißlungene Improvisationen seines Grundrisses wirkten die toten Absätze und Gänge, die von jedem Lichteinfall abgeschnitten waren und bei deren Anblick ich mich fragte, ob sie ihre Existenz einst nachvollziehbaren Wegen oder etwa der Exzentrik eines Architekten verdankten. Es war ein toter Ort, eine surrealistische Kulisse, deren morbides Charisma ich in überdrehten Fotografien feierte, die ich dann eine Etage höher vervielfältigte.
Von der Geschichte des Kellers hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung. Ich kann das heute kaum bedauern. Mitte der 90er Jahre las ich ein Buch mit dem Titel „Stella“. In ihm schildert der Autor Peter Weyden die deprimierende Biografie einer Jüdin. Während des zweiten Weltkrieges spürte sie andere Juden auf und lieferte sie ans Messer, um sich und ihre Eltern vor der Deportation zu bewahren. Ein Satz stand in diesem Buch, der mir den Keller des Progress Filmverleihs viele Jahre später wieder vergegenwärtigte: er besagte, daß die „U-Boote“, untergetauchte Juden, nach ihrer Ergreifung im Keller der Burgstraße 26 ersten verschärften Verhören durch die Gestapo unterzogen wurden. Das war exakt die Adresse des Progress, und der tote Ort in seinem Fundament schien durch seine abgeschiedene Weitläufigkeit ohne Zweifel zum Ort des Todes oder zu dessen Vorhölle geeignet.
In einer beklemmenden, wenn auch harmlosen Anreicherung dieses Schreckens machte ich dort während meines Heizerdaseins völlig unbefangen Fotos mit Selbstauslöser. Auf ihnen ist ein verhülltes Opfer zu sehen, das auch einen vermummten Täter darstellen könnte. Eines dieser Fotos ist in der Nummer zwei von Caligo abgebildet, ein anderes dann auf der Rückseite eines Heftes, welches ich als letzte illegale Amtshandlung im Progress herstellte.
Das Heft trug den Titel Autodafé, ich druckte es im Offset in einer Massen-Auflage von einhundert Exemplaren. Dabei handelte es sich um ein fiktives Verhörprotokoll, welches als Schattentext angelegt war, in dessen Verlauf ein „menhiristisches“ Manifest ans Licht drängte. Seinen verstiegenen Inhalt zusammenfassend möchte ich nur soviel anmerken: das Kind war behindert, man liebt es trotzdem. Das könnte Rainer Schedlinski ähnlich empfunden haben, denn er fragte an, ob er den Text in der Ariadnefabrik veröffentlichen könne. Ich kannte ihn bis dahin nur dem Namen und einiger seiner Gedichte nach. Durch diese Veröffentlichung und den so entstandenen Kontakt wurde er zu etwas wie einem stillen Förderer und unterstützte meine Aktivitäten. Er vermittelte mir die Adresse von Egmont Hesse, stellte mich im Wiener Café Detlef Opitz vor und machte mich z.B. mit Elke Erb bekannt.
Schon bei meiner ersten Begegnung mit ihr schlug er Elke Erb vor, mich zum Schein als Haushaltshilfe einzustellen damit ich nicht wegen Asozialität belangt werden könne. Auch wenn diese Anstellung nicht zustande kam, war seine Bemühung zu einem Zeitpunkt, an dem ich einmal ohne Anstellung war, äußerst verdienstvoll. Er wußte, daß ich lose mit der oppositionellen „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ assoziiert war und leicht in die Mühlen der gängigen Repressionsmechanismen geraten könnte. Ab und an versorgte ich das Hausblatt der Initiative, den Grenzfall, mit Wachsmatrizen und der entsprechenden Farbe aus den Beständen des Progress. Wer mich kannte, wußte, daß ich über einen direkten Zugang zu Drucktechnik und -zubehör verfügte. Irgendwann fragte Rainer Schedlinski mich, ob ich nicht eine A4-Druckmaschine aus dem Progress besorgen könne, um die Ariadnefabrik schnell und ohne den bisherigen Aufwand zu produzieren.
Sicher war die Abzweigung einer Druckmaschine aus dem Volkseigentum zum Einsatz für eindeutig gesetzwidrige Zwecke kein Kapitalverbrechen, aber sie war auch kein Bagatelldelikt. Doch ich fühlte mich herausgefordert und fand die Idee naheliegend, wenn auch verwegen. Seit Monaten stand auf dem Hof des Progress ein LKW-Hänger, auf dem ausrangierte Rominor- und Wachsmatrizenmaschinen lagen. Ohne recht zu wissen, wie ich es angehen wollte, bot ich Rainer Schedlinski an, diesen Hänger zu plündern und eine Maschine als Summe einzelner Teile über ein paar Wochen zusammenzutragen. Dazu kam es nicht, denn in einer merkwürdigen Beschleunigung dessen, was man Stillstand nennt, lag der Hänger nicht länger auf Reede und war mit seiner Fracht von heute auf morgen verschwunden.
Bald darauf wurde ich zu Mehlhorn in die Chefetage gerufen. Durchdrungen von väterlichem Ernst sorgte er sich um meine Zukunft und fragte nach meinen Plänen. Ich konnte sie ihm nicht darlegen, ich hatte keine. Mit der Legende, ich sei zu Höherem berufen, beförderte er mich aus der Druckerei heraus und versetzte mich in den Filmeinsatz. Verbunden mit der klaren Direktive, daß ich möglichst bald irgendwas in Richtung Kulturpolitik studieren und vorher erst einmal zur Armee gehen sollte.
Diese Finte war mir als solche nicht bewußt, ich durchschaute sie nicht. Arglos und erhöht bezog ich im dritten Stockwerk ein eigenes Büros von ca. acht Quadratmetern. Dieses Gelaß war mit Büromöbeln aus den dreißiger oder vierziger Jahren bestückt, sein Fenster ging hinaus auf einen Schacht, dessen Beschreibung als ein finsteres Loch noch auf zu viel Licht schließen ließe. Das Wort „kafkaesk“ wird gern auf Situationen angewandt, die in ihrer Absurdität auch eine diffuse Bedrohung beinhalten. Ohne mich seines inflationären Gebrauchs oder einer schmückenden Selbstbezichtigung verdächtig zu machen, kann ich sagen: meine Situation war kafkaesk. Isoliert und abgeschoben in eine Kammer von Büro war ich nun innerhalb des Betriebes ohne Auftrag und praktisch arbeitslos. Hin und wieder wurde ich ins Kopierwerk nach Johannisthal oder ins Studio für Dokumentarfilme am Hausvogteiplatz geschickt. Wozu eigentlich, entzog sich damals wie heute meiner Kenntnis. Oft lungerte ich einfach in den Betriebskantinen rum, in welchen die Küchenemissionen der letzten dreißig Jahre schwelten.
Ein eher angenehmer Effekt meiner Beschäftigungslosigkeit war die Möglichkeit, mir in den Vorstellungen der hausinternen Filmvorführung Produktionen anzusehen, die erst ein halbes Jahr später in die Kinos kamen. Doch zumeist saß ich in meiner Loge ohne Aussicht und schrieb oder kombinierte am Inhalt des Braegen herum. Immer mit der Bedrohung durch den zu erwartenden Marschbefehl. Ich erinnere mich sehr genau, daß Rainer Schedlinski mich einmal mit den Worten vor meiner Einberufung warnte, Leute wie ich würden bei der NVA kaputtgehen. Seine Warnung schien mir plausibel und trug nicht zu meiner Beruhigung bei.
Inzwischen war mein Vorgänger in der Progress-Druckerei zu meinem Nachfolger berufen worden. Seiner Unzuverlässigkeit wegen hatte man mich zwei Jahre zuvor als Drucker eingestellt. Ich empfand das zumindest als verwunderlich. Konnte ich früher drauflos drucken, gab ich nun ihm die Texte und Zeichnungen zur Vervielfältigung. Selbstverständlich wollte er bezahlt sein. Wie in seiner offiziellen Funktion, so machte er auch in seiner konspirativen Tätigkeit seine Sache schlecht, die Seiten waren von einer indiskutablen Qualität und oft nicht zu gebrauchen. Er leierte die Drucke ein zweites Mal durch und selbstredend zahlte ich auch diesen Versuch. Irgendwann gab ich es auf. Und zwar ganz.
Es war deutlich, die Druckerei war mir als Produktionsstätte entzogen. Im Januar 1987 kündigte ich im Progress Filmverleih. Mit dieser Kündigung erfolgte auch die Absage an die Gesetzmäßigkeit meiner Wehrpflicht. Und ich verstellte mir endgültig die beängstigende Aussicht auf ein wegweisendes Studium, dessen anschließende Laufbahn keinerlei Überschneidung mit meinem Hang, gezielt durchs eigene Leben zu marodieren, aufwies. Ich verlegte die Produktionsstätte des Braegen kurzerhand in eine andere Betriebsdruckerei, unweit des Progress, ebenfalls am Hackeschen Markt gelegen. Durch meine Arbeit bestand der Kontakt zu einem Kollegen. Hans hieß der Drucker, eine schlichte Seele mit der körperlichen Präsenz eines gealterten Fleischergehilfen. Er hatte den Tick, eine Silbe, die sich wie „liewers“ anhörte, als Bindemittel in die merkwürdige Ziellosigkeit seiner Sätze einzufügen. Einmal fragte ich ihn, ob dies eine regionale Eigenart sei, doch er wußte nicht, wovon ich sprach.
Zu Anfang ging ich in seine Werkstatt und brachte ihm, was zu drucken war. Das funktionierte sehr gut, als gelernter Drucker war Hans ein penibler und äußerst sortierter Arbeiter. Später beorderte er mich in seine Wohnung, wo er mich im Flur oder in der Küche empfing. Zeitgleich ließ die Qualität seiner Arbeit auf dramatische Weise nach. Ich bezahlte auch die Fehldrucke, um ihn bei Laune zu halten. Sein Horizont mochte kein weiter gewesen sein, doch die miserable Qualität seiner Arbeit war eindeutig unter seinem Niveau. Es hätte mir auffallen können. Auch dieses Mal dachte ich mir nichts dabei und erst im Laufe einer verzögerten Reflexion dieser Zeit beschlich mich der Verdacht, meine Drucksachen und mein Budget könnten auf diese Weise durch die Staatssicherheit sabotiert worden sein. Denn um den Braegen endlich auf den Weg zu bringen, brachte ich noch ein Faß ohne Boden zum Überlaufen. Nach seinem Erscheinen errechnete ich, daß mich dieses eine Heft ungefähr zweitausendfünfhundert Mark in der Herstellung gekostet hatte.
Als auch der Druckabfall von Hans nicht mehr schönzuzahlen war, landete ich schließlich in der betriebseigenen Druckerei im „Haus der Elektrotechnik“ am Alexanderlatz. Der Drucker dort fertigte mich immer zwischen Tür und Angel ab, ohne seine Angstschwelle je zu überschreiten. Ich gab diese Quelle schnell wieder auf und geriet an eine stille Helferin, die in der evangelischen Studentengemeinde in der Immanuelkirchstraße arbeitete und an dem dortigen Xerox-Gerät ab und an für mich kopierte. Die Folien für die Siebdruckvorlagen ließ ich von einem Fotografen herstellen, der zuverlässig, desinteressiert und teuer war. Rainer Schedlinski führte mich in die Werkstatt des Siebdruckers Wolfgang Mau in der Greifenhagener Straße ein. Mau war ein spröder, etwas unzugänglicher Zeitgenosse. Die Begegnungen mit ihm waren seltsam beziehungslos. Mit dem unbefriedigenden Gefühl, er höre nicht zu, wenn die Drucke und das zu verwendende Papier besprochen wurden, überließ ich ihm bangen Herzens die Umsetzung des Bildes, das ich mir vom Braegen machte. Wochenlang fragte ich umsonst wegen der Siebdrucke an, die längst in der Welt sein sollten, aber immer noch im Orbit meines Hoffens kreisten. Nach einer Zeit, die einer gefühlten Epoche glich, zahlte ich dann wie für Express – doch das Ergebnis von Maus Arbeit erfüllte alle Erwartungen. Am Ende hielt man in Händen, was man vor Augen hatte.
Eine weitere Wendung zum Positiven entkrampfte die Situation. Rainer Schedlinski bot mir an, die Ariadnefabrik abzutippen. Der Mitherausgeber Andreas Koziol hatte dies bisher allein übernommen. Die Ariadnefabrik wurde nicht gedruckt oder vervielfältigt, sondern bestand aus einseitigen Schreibmaschinendurchschlägen. Ihre Auflage betrug sechzig Exemplare bei einem Umfang von fünfzig bis sechzig Seiten, sie erschien sechsmal im Jahr. Meine Freundin band als gelernte Sortimentsbuchbinderin immer meine Hefte. Sie unterstützte auch dieses Unternehmen und steuerte von ihren Valuta-Reserven eine Computerschreibmaschine bei, die ein Heidengeld kostete. Wie die Maschine ihren Weg von West- nach Ostberlin nahm, ist eine Spur, die verloren ging, ich kann sie nicht zurückverfolgen. Die brother ax 35 verfügte über ein Display von einer ganzen Schreibmaschinenzeile und konnte eine A4-Seite speichern. Das Rattern der Maschine verwandelte unsere Hinterhofwohnung in eine Fernschreiberzentrale. Der Lärm war gut bezahlt, die wichtigste Folge dieser Anschaffung bestand jedoch darin, daß ich nun in der Herstellung des Braegen beinahe unabhängig war. Ich überantwortete einen Großteil der bisher vervielfältigten Seiten dem Müll und mit ihnen das Geld, das sie gekostet hatten.
Im Mai 1989 endlich erschien die Nummer I des Braegen. Die äußere Anmutung des Heftes war eine schwarze Blaupause seines eher esoterischen Inhalts. Mir schwebte vor, seine konservative Tendenz durch eine zweite Nummer neu zu justieren. Den Textteil sollte im wesentlichen ein Zirkel von Freaks beisteuern, Freunde aus Punktagen, die sich Die Zeugen Yamahas nannten, sich in einem Privat-Esperanto untereinander verständigten und kollektiv Nonsenstexte sowie Fake-Adaptionen von Libretti berüchtigter Operetten verzapften. Andererseits arbeitete ich selbst an Texten, die in Reaktion auf die Utopiendämmerung im Lande explizit politisch waren. Aber eben das Auslaufen einer Gesellschaft über alle Grenzen hinweg bedeutete dann auch das Ende meiner Pläne für eine Neuausrichtung des Braegen. Doch während die DDR sich langsam verlief und die Republik zur „ehemaligen“ ausgerufen wurde, arbeitete ich weiter an einer zweiten Nummer. Die Mittelseite mit einer Grafik von Andreas Koziol war, gemessen am bisherigen Slowfox, im Quickstep gedruckt. Ebenso die beiden Titelblätter mit dem „Wimpermann“ als Motiv, einer automatischen Zeichnung Ronalds, die schon in der ersten Nummer von Caligo auftauchte.
Mir und anderen erschloß sich erst spät, daß mit der Eingemeindung der DDR in ein anderes System, inklusive der damit einhergehenden Zeitverschiebung, dem Untergrund der Grund seiner Existenz entzogen war. Noch im Dezember ´89 entstand die Idee einiger Herausgeber, eine gemeinsame Kopierzentrale einzurichten, in der dann jeder tatsächlich unabhängig Editionen herstellen konnte. Sascha Anderson machte von Westberlin aus solchen Plänen schnell ein Ende, indem er sie ausweitete und in logischer Konsequenz der Ereignisse die Gründung eines Verlages, des späteren Druckhaus Galrev, vorantrieb.
Wie oft zuvor war er der Initiator einer Idee, zu deren Verhinderer er schlußendlich wurde. In der Folge seiner Enttarnung machte eine zweite die Runde, die mich um einiges persönlicher traf. Der Dichter und Poststruktualist Rainer Schedlinski war selbst Teil eines DDR-immanenten Irrsinns, welchen er äußerst präzise, doch in einem klassischen Fall von Projektion, am offenen System operierte, aber nicht an der geschlossenen Gesellschaft seiner eigenen Person ablas. Seine „IM-Tätigkeit“, wie es neutralisierend hieß, hatte etwas Gespenstisches und vermittelte mir das klamme Gefühl, es die Jahre zuvor mit einem Geist zu tun gehabt zu haben, mit einer „unwirklichen Wirklichkeit“, wie er selbst einmal die DDR beschrieb.
Nicht weniger dramatisch als das Stalking durch die Staatssicherheit, ist die Kontamination eines Künstlerkreises durch seine Tangenten bis in dessen äußere Ringe hinein. Sascha Anderson und Rainer Schedlinski haben eine ganze Szene beschädigt und in einen nicht enden wollenden Stellvertreterkrieg verstrickt. Zu erleben wie der Verlag, inklusive seiner Gesellschafter und Autoren, in Sippenhaft genommen wurde und die Arbeit von zwei Jahren vor die Journaille ging, vor die Allesfresser und feuilletonzahmen Wölfe wie Biermann – das war das Ende eines Anfangs, der eine Fortsetzung mit den Mitteln der Jetztzeit und eine Literatur des past forward versprach. Wie alle anderen Verlagsangehörigen beantragte ich bei der Gauck-Behörde eine sogenannte „Akteneinsicht“ mit Dringlichkeitsstatus. Bald darauf erreichte mich die Auskunft, daß zu meiner Person Aktendeckel ohne Inhalt existierten, ich aber Gegenstand einer Operativen Personenkontrolle gewesen sei, ihr Deckname: „OPK Progress“.
Rainer schrieb eine Poesie, die betont sachlich sprach und sich der Welt gegenüber neutral gab. Doch um wieder einmal Autor und Werk zu trennen, letztlich aber voneinander abzuleiten, bleibt festzustellen, er selbst ist nie neutral gewesen. Nicht in seiner dankenswerten Protektion, nicht durch seine unverzeihliche Denunziation. Letzteres wurde eines Morgens zur Gewißheit.
Auf dem Weg zum Verlag lief ich die Hagenauer Straße entlang. Ein Auto hielt neben mir, einer der Gesellschafter des Verlages stieg aus, überreichte mir kommentarlos einen A4-Umschlag und fuhr weiter. Ich interessierte mich nicht gleich für seinen Inhalt. Etwas später öffnete ich ihn, Rainer arbeitete im selben Raum. Der Umschlag enthielt einige Seiten seiner Akte, die mich betrafen. Zunächst würdigte sein Bericht mein Treiben, was im Rahmen eines Stasi-Bulletins seltsam anmutete. Dann wurde seitenweise Informationsplunder aktenkundig. Bis auf eine Stelle: sie betraf die Auswertung eines von mehreren Aufträgen, die Rainer in Bezug auf meine Personalie erteilt bekam. Dort stand zu lesen, er solle mich anregen, aus dem Progress Filmverleih eine Druckmaschine zu organisieren. Auf die Nachricht, ich hätte mich seiner Anfrage gegenüber aufgeschlossen gezeigt, wurde erwogen, mich unter irgendwelchen Vorwänden zu verhaften. Einige Sätze später verwarf man diese Idee. Ich reichte Rainer die Seiten rüber: Er nahm, las und dementierte.
Mit der Einrichtung eines Druckhauses, einer verlagseigenen Druckerei, wurde eine Gelegenheits-Logistik auf eine proffessionelle Ebene verlagert. Mit der Gründung eines Verlages hob sich die illegale Existenz einer Szene auf ein Niveau oberhalb eines Untergrunds. Der „Underground“ stellte ohnehin ein Zertifikat dar, auf welches die wenigsten Autoren Wert legten. Zwei von ihnen waren dann auch mehr Underground als alle anderen. Durch die Folgen ihrer Enttarnung wurde das Druckhaus Galrev isoliert und war als Forum einer einst unter Quarantäne stehenden Autoren- und Malergeneration nicht länger zu halten, auch nicht mittels seiner praktizierten Öffnung nach Westen.
Die Idee war einmal, den Begriff der „unabhängigen Editionen“ neu zu bewahrheiten und loszulösen von seinem illegalen Effet. Wir wollten frei veröffentlichen, und dies ohne jede technische Prohibition. Letzteres ist bis heute möglich. Das Druckhaus überdauerte Galrev als das produktionstechnische Fragment eines Verlages, der seinen Geist aushauchte.
Dieser Text ist Auszug aus dem im Verlag “Verbrecher” 2009 erschienenen Buch „Die Addition der Differenzen – Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989“ (Herausgeber: Uwe Warnke, Ingeborg Quaas). Der Autor und Ostberliner Künstler Henryk Gericke betreibt heute die Staatsgalerie Prenzlauer Berg.
Anm. des Autors:
(1) Alle drei Nummern wurden durch headliner-hafte Untertitel eingeläutet. Diese waren leichten Verschiebungen unterworfen. Auf der ersten Ausgabe war zu lesen: „Dokumentation automatischer und zwanghafter Entäußerungen zur Rehabilitierung der anderen VVirklichkeit“. Auf der zweiten Nummer hieß es dann: „Zwanghafte Entäußerungen zur Überwindung der inneren und äußeren Wirklichkeit“. Das dritte Heft wurde durch „Zwanghafte Entäußerungen zur Schaffung einer neuen Wirklichkeit“ annonciert.
(2) Die große Ausnahme unter kleineren bildete das 1986 bei Reclam Leipzig erschienene Buch „Surrealismus in Paris, 1919-1939“, herausgegeben von Karlheinz Barck. In einer in die Breite gehenden Dichte versammelte es die zentralen Texte und Poeme des Surrealismus. Der Essay des Herausgebers zeichnete sich durch eine neue Sachlichkeit gegenüber der Geschichte des Surrealismus aus. Gemessen an der DDR-immanenten Nicht-Rezeption und eines lexikalischen Verweises des Surrealismus wäre eher eine tendenziöse Retour-Kutsche von Nachwort zu erwarten gewesen.
(3) Aus diesem Grund, aber auch durch die Lust an der Identitätsverschiebung, wählten Ronald Lippok und ich Pseudonyme. Ronald zeichnete mit Long Gompa, dem Namen eines tibetischen Mönches, den der englische Surrealist Roland Penrose in einem Buch erwähnte. Long Gompa stand im Ruf, von Berg zu Berg springen und so beinahe gleichzeitig an mehreren Orten auftauchen zu können. Ich firmierte unter Laszlo Toth, dem Namen eines wahnhaft religiösen, ungarisch- stämmigen Australiers. 1972 schlug er während einer Messe, die der Pabst in Rom zelebrierte, mit einem Vorschlaghammer der Pieta von Michelangelo die Nase und eine Hand ab, worauf die versammelte Christengemeinde ihn beinahe lynchte. Die letzte existierende Surrealistengruppe schlug Laszlo Toth im selben Jahr als Preisträger der Plastikbiennale in Venedig vor.
(4) Der Untertitel des Braegen, „Zeitschrift für Graphomanie und Pandemie“, setzte sich von denen der Caligo-Hefte immerhin durch eine Sinnfreiheit ab, die in ihrer behaupteten Verachtung für den Vorgang des Schreibens durchaus authentisch und nicht ohne Ironie war.