2009, so November wie möglich, eröffnete eine Ausstellung im Prenzlauer Berg einen flüchtigen Überblick auf die Ostberliner Literaten- und Künstlerszene der letzten langen Dekade im kurzen Dasein der DDR. Die durchaus geglückte Ausstellung mit dem durchaus mißglückten Titel „poesie des untergrunds“ hatte es sich im past-forward-Verfahren zum Anliegen gemacht, auf die Geschichte sowie, in zentraler Randlage ihres Raumes, auf die Nebenwirkungen und auf die Folgen einer schwer auseinanderdriftenden Künstlergemeinde von Dichtern, Musikern, Malern, Fotografen, Renegaten und Kunden hinzuweisen.
Dieses Sittengemälde einer Szene wurde allerdings vom beispielhaften Verrat zweier Dichter kontaminiert, die in der Rezeption nicht selten mit ihren Klarnamen stellvertretend für viele andere stehen, da sie unter Decknamen für das Ministerium für Staatssicherheit schrieben.
Der Plan einer ausgestellten Bilanz reifte immer unter der Gefahr, daß zwei ihrer Protagonisten, als wahrhaft graue Eminenzen hinter den Existenzen vieler, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und von der eher sperrigen Poesie auf den Klartext der Protokolle lenken. Sascha Anderson, als Gravitationszentrum eines Kreises von Künstlern, ist derjenige von zwei Namen, welcher gewissermaßen als ein Markenname für Verrat steht. Seine Person verdeckte in der andauernden Fassungslosigkeit und meist stereotypen öffentlichen Wahrnehmung einen zweiten Namen, der eine nicht minder fragwürdige Aura verströmt.
Rainer Schedlinski war einer der Herausgeber des essayistisch veranlagten Periodikums „ariadnefabrik“. (Der Name des zweiten Herausgebers soll an dieser Stelle ungenannt bleiben, da es als sicher gelten kann, daß er keinerlei Wert darauf legt, mit einer Hefte-Folge in Verbindung gebracht zu werden, deren Abonnent das Ministerium für Staatssicherheit war.)
Über den Denunzianten Rainer Schedlinski zu sprechen bedeutet in der üblichen Weise, zumeist über den Dichter und Denker zu schweigen. Und dies meint wohl kaum die viel zitierte Trennung von Dichter und Werk, welche ohnehin nach Belieben aufgehoben ist, wenn es darum geht, die Gedichte und Essays als persönliche Verpflichtungserklärung oder als verspiegeltes Geständnis gegenzulesen. Rainer Schedlinski war ja nicht nur ein inoffizieller Mitarbeiter, sondern auch ein bekennender Struktualist. Seine Gedichte sind von einer kargen Sprache, deren Nüchternheit an Teilnahmslosigkeit grenzt. Die Worte sind nur das, was sie sagen, ihre Eindeutigkeit zielt auf eine unverstellte Sicht der Dinge. Auf den Irrsinn eines verrückten Systems weisend, denken seine Essays die Verhältnisse vom Kern ihres ganzheitlichen Irrtums her. Sie erkannten, was offensichtlich war und dennoch offensichtlich neben der Erkenntnis lag.
Man liegt nicht falsch, Rainer Schedlinski einen aufgeklärten Geist zu nennen, der Kritik an der Aufklärung übte. Die Aufklärung rotierte ihm um Denkfiguren, die nicht von der tatsächlichen Gestalt eines gesellschaftlichen Phänomens ausgingen, sondern von einem Ideal, welches sie postulierte und damit sozusagen zielgerichtet verfehlte. Die Einsichten Schedlinskis hatten durch ihre zirkuläre Verbreitung eine äußerst begrenzte Wirkung und absurderweise war er als Stasi-Zuträger auch noch subversiv gegen die eigene Subkultur, welche letztlich seine einzige, aber betrogene Leserschaft darstellte. Dennoch waren seine Aufsätze im Idealstaat DDR von einiger Brisanz, selbst wenn damals alles brisant war, was vom Staatsnarzismus abwich.
Die Brisanz seiner Essays machte jedoch vor dem Irrsinn der eigenen Person halt. Er predigte Einsicht in die Verhältnisse und agierte verdeckt in ihnen. Er analysierte den Wahnsinn und war Teil seiner Methoden. Dieser Konflikt ist sehr viel aufschlußreicher als die Akteneinsicht in die Protokolle seines Verrats. Denn Schedlinski verriet ja nicht nur Weggefährten und Freunde. Die Dekonstruktion der hilflosen Reflexe und absurden Mechanismen eines untergehenden Staates liest sich in den Essays auch heute als eine gültige Analyse. Doch in gespaltener Übereinstimmung von Werk und Autor kündet sie auch vom Drama des Verrats eines Schriftstellers am eigenen Denken und an der eigenen Sprache.
So schwer Rainer Schedlinskis Verrat an anderen wiegt, so hartnäckig er seinen Spitzel-Status verleugnete, er hat sich vor seiner Enttarnung zunächst einmal selbst verraten. Soviel ist sicher, doch an diesem Punkt beginnt die Spekulation um seine Person. Vom Wesen her ein großer Relativierer, war ihm der Struktualismus vielleicht eine Basis, weil er zumindest ahnen mußte, daß er seine Existenz menschlich und künstlerisch irgendwann nur noch relativieren könne. Die Unvernunft einer ritualisierten Aufklärung zu kritisieren liest sich nun wie die Anmoderation, die Aufklärung seines Verrats könne nie komplex genug sein, um ihn in vollem Umfang schuldig zu sprechen. In ihren Schlußfolgerungen lesen sich seine Aufsätze als würde er die Aufklärung um die eigene Verantwortung an systemerhaltenen Maßnahmen herumlenken.
Sein bekennender Struktualismus wäre als eine Parodie auch so verstehen, daß er sich getarnt als Rainer Schedlinski in die Strukturen anderer begab. Überhaupt muß sein Leben vom fließenden Strukturwechsel zwischen den Systemen, zwischen Szene und Stasi, bestimmt gewesen sein. Auch sein Schreiben. Es liegt in der Natur des Genres, daß auch die Lyrik Rainer Schedlinskis nicht ohne Bild und Ton auskommt. Doch aus heutiger Perspektive drängt sich der Eindruck auf, daß in seinen beinahe tonlosen Gedichten, wie in der bilderlosen Sprache der Staatssicherheit, die Metaphern zu Codes mutierten. Was bleibt von solch einer Sprache nach dem Infarkt der DDR? Vermutlich ist sie in anderen Codes aufgegangen.
Die Systemanalysen Schedlinskis jedenfalls wären heute von einigem Wert, würden sie weiterhin geschrieben und veröffentlicht auch gelesen. Gerade in einer Zeit, in welcher die DDR, von ihrer pseudohistorischen Aufarbeitung verzerrt, nur dazu dient, in einer Art natürlicher Systemauslese die Bundesrepublik Deutschland als das reinere Gesellschaftsmodel zu inszenieren. Doch, soweit bekannt, hat Rainer Schedlinski aufgehört zu schreiben. Und sollte er schreiben, bliebe er ohnehin, wie in der DDR, ganz oder weitgehend unveröffentlicht. Nimmt man die Idee auf, daß zu schreiben immer auch die Verlagerung des kindlichen Spieltriebs in die Spracharbeit bedeutet, so hatte der Dichter Schedlinski ausgespielt, und verspielt sowieso.
Im DRUCKHAUS GALREV, das 1990 von Schriftstellern und Herausgebern der Literatenszene des Prenzlauer Bergs gegründet wurde, erwies sich Rainer Schedlinski als ein illusionsloser Pragmatiker, der die Mechanismen der neuen Bedingungen unter einer alten Gesellschaftsordung schnell erfasste. Er wuchs hinein in die Rolle eines Geschäftsführers, der zunächst offen und nach seiner Enttarnung aus dem Hintergrund, sich gezwungen sah, die ökonomische Basis vom Druckhaus gegen die ursprüngliche literarische Ausrichtung des Verlags zu verteidigen. Es mag sein, daß sich während dieses Prozesses sein Spieltrieb von der Sprache in eine monetäre und technische Funktionalität wandelte. Und es mag sein, daß er sich auf diese Weise letztlich von der Weitergabe von Erkenntnis durch Poesie auf die Gewinnung von Elektrizität verlegte.
Rainer Schedlinski ist heute Betreiber einer Firma namens Thermalforce. Ihre Entstehung und ihr Erfolg gehen auf das Patent für einen thermoelektrischen Generator zurück, den er wohl im Eigenbau am Wohnzimmertisch konstruierte und im Keller der Geschäftsräume von Galrev zusammenschraubte. Was soll man dazu sagen? Vielleicht, daß Energie nicht verloren geht? Hier geht es ja nicht allein um die Umwandlung von Wärme in Energie, es ist die Wandlung von Poesie in ihr Gegenteil, in eine reine Funktionalität. Letztlich wird diese Entwicklung aber auch der Erkenntnis geschuldet sein, daß die eigene Sprache nicht länger imstande ist, Energien freizusetzen, indem sie z.B. Wärme oder Kälte erzeugt. Den Texten war es nicht länger möglich, durch eine runtergeregelte Empathie zu glänzen, mit der Rainer Schedlinski einmal sprach: „ernst sind die äcker & ernst / die häuser vor den äckern / die hecken sind / ernst und gezeichnet“.
Heute schreibt er: „thermalforce.de liefert thermoelektrische Generatoren, Zubehör für deren thermische und elektrische Montage, sowie einsatzbereite Generatorenmodule. Zudem finden Sie hier eine große Auswahl an Kühlkörpern, Wärmetauschern, Anschlüssen, Pumpen, Reglern, Wärmeleitmitteln, Meßgeräten und sonstigem Zubehör.“ Dies ist der Gebrauchstext für ein neutrales Sujet, die Lyrik einer kalten Funktionalität und daher die Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln. Die tradierte Lesart einer solchen Wandlung wäre wohl die des Verräters, der zum biederen Einzelhändler wird.
Es ergäbe wenig Sinn und würde der Person Schedlinskis nicht gerecht, einen Denunzianten zu denunzieren. Aufgeladener ist die Interpretation, daß sich der Dichter eines kühlen Sprechens dem Handel von Wärmeleitmitteln widmet. So abwegig diese Entwicklung scheinen mag, sie ist geradliniger als der Weg, den Sascha Anderson seit seiner Enttarnung geht. Er behauptet bei Vernissagen und Lesungen verbissen den öffentlichen Raum und versucht weiter im Literaturbetrieb, bezeichnenderweise im Frankfurter Gutleut-Verlag, mitzumischen. Andersens Autobiografie fand keine Leser.
Rainer Schedlinski könnte erkannt haben, daß es ein letzter Akt des Sprechens ist, zu schweigen, wenn einem niemand mehr eine Zeile abnimmt, geschweige denn ein Wort glaubt. Die Hingabe an die Erzeugung von Energie durch Wärme mag eine Folge der Kälte sein, mit der man seiner Person heute begegnet.
Dieser Text von Henryk Gericke erschien am 1. Oktober 2010 unter der Überschrift „Die Poesie der Kälte“ in der Wochenzeitung „Freitag“. Der Autor und Ostberliner Künstler Henryk Gericke betreibt heute die Staatsgalerie Prenzlauer Berg.