Ägypten zugewandt
Der Präsident von Ägypten, Mohammed Mohammed Mursi Isa al-Ayyat, war heute auf Besuch in der Finanzmacht Deutschland. Zu den derzeitigen Unruhen, der politischen Situation, sowie den anstehenden Neuwahlen in der Republik Ägypten nun eine kleine Einschätzung.
Und ein guter Rat.
Zuerst: was ist das einzige Interesse aller „westlichen“ Regierungen (also der in Washington plus Anhang und Gefolgschaft) sowie aller drumherum gebauten entsprechenden internationalen Organisationen wie dem „Internationalen Währungsfonds“, der „Weltbank“, etc, pp, was Ägypten angeht? Es ist das einzige Interesse des weltweiten Banken-Systems, der Geldhändler, der feudalen Oberschicht in Ägypten und darüber hinaus. Es ist das einzige Interesse des Kapitals. Und das besteht zu tun und zu lassen was es will. Ergo soll Artikel 206 der Verfassung Ägyptens verschwinden, koste es was es wolle – ob Bürgerkrieg, Militärputsch, Massenmord, Attentate, „Schwarzer Block“, absolute Perversion durch die üblichen geheimen Anti-Terror-Unverdächtigen (z.B. der lieben Kollegen in Berlin die schon der Mubarak-Diktatur die Stange geschüttelt haben), whatever.
Für die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, sowie alle anderen in ihrem Schlepptau, die ganze Treppe der Hierarchien runter, ist einzig relevant eine Kontrolle der Zentralbank Ägyptens durch die Republik Ägypten, also durch den Staat, zu verhindern. Artikel 206 der ägyptischen Verfassung:
„Die Zentralbank legt die Geld-, Kredit- und Banken-Richtlinien („policies“) fest, überwacht ihre Umsetzung, beobachtet die Leistung des Banken-Systems, arbeitet um die Preisstabilität zu etablieren und hat exklusive Rechte Zahlungsmittel auszugeben.
All das oben Genannte muss in Übereinstimmung mit der gesamtheitlichen („overall“) Wirtschaftspolitik („economic policy“) des Staates sein“.
Meiner bescheidenen Meinung nach ist dieser Artikel der Verfassung, der z.B. in Kombination mit Artikel 122 einem Ausschuss der Abgeordnetenkammer die parlamentarische Kontrolle des ägyptischen Geldsystems ermöglicht, der entscheidende Hintergrund für die bereits vor der Volksabstimmung über die Verfassung ausgebrochenen inneren Unruhen, die auszulösen die ägyptische progressive und säkulare Demokratiebewegung allein nie im Stande gewesen wäre.
In Ägypten sind die Kräfte des in Jahrzehnten des Ausnahmezustands und der Diktatur wie ein Krebsgeschwür des Abfalls gewucherten Kräfte des Tiefen Staates , mit warmherziger Hilfe lieber Freunde – auch der asiatischer Kirchenstaatsgänger (vorneweg Katar und Saudi Arabien) – mit maximaler Heuchelei gerade dabei zu versuchen genau die Kräfte für die eigenen Zwecke einzusetzen, gegen die sie in der Revolution so schmählich verloren haben.
Nur mal zur Erinnerung: die ägyptische Revolution 2011 wurde am 2.Februar entschieden, an Tag 9 des Volksaufstands gegen die Mubarak-Diktatur.
An diesem Mittwoch, dem 2. Februar 2011, hatte gegen 00.00 Uhr ägyptischer Zeit in Washington U.S.-Präsident Barack Obama eine Erklärung abgegeben („“Ein geordneter Übergang muss sinnvoll sein, er muss friedlich sein und er muss jetzt beginnen.” „it must beginn now“) und das Militär Ägyptens für seine „Professionalität“ gelobt. Das ägyptische Militär erklärte daraufhin gegen 11.00 Uhr morgens professionell, dass es die Einstellung aller Demonstrationen und eine Ende des Generalstreiks fordere, damit endlich wieder Ruhe und Ordnung einkehre. Die Muslimbrüder waren, wie Mahmoud „Sandmonkey“ Salem berichtete, nur einen Tag zuvor am Dienstag erschienen waren an jenem Mittwoch wieder verschwunden. Die Repräsentanten der sogenannten „Opposition“ aus Blockflöten des Regimes und Oberschichtlern wie Mohamed El Baradei (der sich während der ganzen Revolution nur ein einziges Mal auf dem Tahrir-Platz blicken ließ) oder Amr Moussa (einem der größten Schurken unter der Sonne) oder dem Tycoon Naguib Sawiris (heute im echt säkularen, weil finanzreligiösen „Ägyptischen Block“), war ebenfalls verdunstet und hatte höchsten Einfluss auf zehn Prozent aller Menschen auf dem Tahrir-Platz.
Um diesen sammeln sich nun an jenem 2. Februar die Anhänger und Loyalisten des Regimes und seiner „Nationaldemokratischen Partei“ (die gerade einmal zwei Tage vorher sanft aus der „Sozialistischen Internationalen“ ausgeschlossen worden war in der sie all die Jahre mit den liiieeeeben Genossinnen und Genossen zu Berlin immer schön Tee getrunken hatte). Gemeinsam mit von Geschäftsleuten gedungenen Schlägern bewegt sich die Meute (unter wohlwollenden Kommentaren von Al Jazeera-Reporterin Jacky Rowland) von einem Hotel mit internationalen Journalisten in Richtung Tahrir-Platz – und kann auch auf diesen marschieren. Die Aktivisten der Demokratriebewegung versuchen bis zuletzt eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Erst als sie auf dem Tahrir-Platz selbst von den Mubarak-Unterstützern angegriffen werden, wehren sie sich.
In stundenlangen, blutigen Straßenschlachten schlagen die Aktivisten der Demokratiebewegung, organisiert in den Volkskomitees („popular committees“), die regimetreuen Loyalisten zurück. Ich sah es im Al Jazeera Livestream mit an. Weder möchte ich, noch kann ich, noch werde ich versuchen zu beschreiben was dabei in mir vorging.
Es war dieser Kampf um den Platz der Befreiung („Tahrir“), an diesem 2. Februar 2011, der die Revolution entschied. Und es war der größte Fehler der Revolutionäre, der Demokratiebewegung, nur einen Tag nach dem Rücktritt des Diktators am 11. Februar freiwillig wieder vom Tahrir-Platz abzuziehen, den alle – durch die Bank weg, ob Journalist, Tourist, Augenzeuge oder Passant – bis zu dieser Zeit inmitten des von Regimekräften unter Spionage-Chef und Vizepräsident Omar Suleiman in der „Chaos“-Taktik angerichteten Verwüstung als eine Oase der Sicherheit auch vor Belästigung oder Gewalt und zugleich den freiesten Platz der Welt beschrieben hatten.
Gerade die in diesen Tagen systematisch und gezielt ausgeübte Gewalt gegen Schwächere, explizit Frauen, auf dem Tahrir-Platz ist Teil eines Versuchs von Perversen alles Gute und Schöne der Welt zu schänden und in den Dreck zu ziehen. Zu diesem Schönen und Guten zählt auch die erste erfolgreiche Revolution des 21. Jahrhunderts nach dem Propheten mit der Säge.
Nie werde ich dieses Murmeln, dieses Rauschen vergessen, was durch den Internet-Livestream Al Jazeeras zu den Bildern vom Tahrir-Platzes aus in die Welt hinaus strömte (immer wieder verschonte irgendeine ungewohnt empathische Regie Originalton und -bilder vor Kommentaren aus dem Off). Für mich war es, als ob mit den Zelten auf dem Platz der Befreiung in Kairo die Welt ein Auge aufgeschlagen hatte. In einem Kommentar schrieb ich damals,
„Die Ägypter, eine uralte Kultur in einem uralten Land, sind zu einem Leuchtturm der Welt geworden, der höher hinaus ragt als jede Pyramide jedes Pharao, der sie auf allen Seiten im Buch ihrer langen Geschichte jemals unterdrückte. Diese Tage sind ein vom ägyptischen Volk errichtetes Denkmal unserer Zivilisation. Und dieses Denkmal kann nie mehr eingerissen, nie mehr zerstört und nie mehr vergraben werden. Und es wird nie vergessen.“
Bei allem Guten und Schönen ist es wie dem Gegenteil: einmal gewesen, kann man es nicht mehr wegdiskutieren. Gott sei Dank.
Wie geht es nun weiter in Ägypten?
Präsident Mursi und die Muslimbrüderschaft hat vor, während und seit der Revolution immer und immer wieder den gleichen Fehler gemacht: sie hat sich mit den Amerikanern eingelassen (soll heißen: mit einer winzigen Gruppe von Privilegierten aus dem mächtigsten Regierungs- und Behördenapparat der Welt, in Washington). Das ist das Allerschwachsinnigste, was ein Mensch – gerade ein Mensch in Verantwortung – überhaupt nur tun kann.
Man verhandelt nicht über das was man will, sondern nur darüber wie viel man davon sofort und was man später bekommt. Alles andere sind keine Verhandlungen, sondern Unterwerfung. Ein Kompromiss beinhaltet einen Gewinn für beide Seiten, nicht die Niederlage der einen Partei.
Gerade wer die U.S.-Diplomatie nur einigermaßen kennt, müsste das eigentlich wissen.
Die Verfassung der Muslimbruderschaft – nun die Verfassung Ägyptens – gibt dem Präsidenten und der Regierung sehr viel Spielraum, in jeder Beziehung. Meiner bescheidenen ausländisch-heidnischen Meinung nach ist diese Verfassung mies, wirklich mies und das reaktionäre Wischi-Waschi-Pamphlet von Menschen, die gelernt haben das schmutzigste Gewerbe der Menschheit – die Politik – dem Allmächtigen über zu bürden um sich selbst von jeder Verantwortung frei zu sprechen. Dabei hat auch die Muslimbruderschaft, genau wie ihre zivilisatorischen Spiegelbilder aus der „Christlich-Demokratischen Union“, nie begriffen, dass säkular und atheistisch nicht nur zwei grundverschiedene, sondern grundlegend gegensätzliche Dinge sein können.
Nach einer echten Revolution gibt es keine neue Diktatur, sondern im besten Falle einen neuen Vertrag der Gesellschaft mit dem Staat, eine Verfassung – und zwar gewählt durch eine gewählte verfassungsgebende Versammlung / Nationalversammlung. D.h.: es gibt keinen Militärrat, es gibt kein endloses Gequatsche, keinen Notstand und auch nicht erstmal Parlamentswahlen ohne Verfassung, damit dann dieses Prothesen-Parlament nicht etwa das Volk eine verfassungsgebende Versammlung wählt. Und vor allem gibt es kein verdammtes endloses Massaker.
Ägypten muss eine verfassungsgebende Versammlung wählen. Und die wählt dann eine neue Verfassung. Solange gilt die jetzige.
Alles andere führt nur ins Chaos, in die von einer einflussreichen Minderheit gestützten Gewalt (des Stärken, also des Militärs), in Verfall und schließlich wieder in die Diktatur. Das muss Präsident Mursi, das muss die Muslimbruderschaft begreifen.
Dass die Kampagne zur Destabilisierung Ägyptens, ja zu dessen Verfall, massiv aus dem Aus- und Inland von interessierten Kreisen befördert wird – und nicht von irgendwelchen dekadent-gottlosen anonymen Chaosalkoholikern – weiß Mursi nur zu gut.
Womit wir jetzt zur anderen Seite kommen.
Es macht für alle Demokraten und Republikaner Ägyptens keinen Sinn weiter in den Straßen zu kämpfen und die Neuwahlen des Prothesen-Parlaments zu boykottieren, nur weil man zu doof dazu ist eine ganz normale Partei zu gründen (wieder etwas was Ägypter und Deutsche als echte christlich-muslimische Bruderschaft gemeinsam haben). Warum kann ich am 29. Januar 2011 mir in Berlin darüber Gedanken machen wie es in Ägypten im Wahl-Kampf nach der Revolution wird und in Kairo rennen sie alle wieder den gleichen Betrügern hinterher oder gleich auf die Straße, nur damit das Ganze wieder von vorne losgeht, jahrelang?
Die Ägypter brauchen eine starke Organisation, die ihre Interessen vertritt. Und die haben sie nicht. Und solange sie die nicht haben, solange wird auch nichts besser werden, weil der Gegner ganz genau weiß wie das Spielchen läuft und (straff) organisiert ist. So einfach ist das.
Dabei sind straffe, hierarchische und autoritäre Organisationen gegenüber basis- bzw. radikaldemokratisch strukturierten Organisationen bei Gleichstand der eingesetzten Mittel zunächst immer fundamental im Nachteil, weil ihre Mitglieder auf Kommando agieren, aber nicht aus freiem Willen. Freier Wille allein aber, so gut er auch sein mag, führt nur zu eins: jeder Menge Geschrei und allem was danach kommt. Und das haben die Ägypter satt.
Die Demokratiebewegung Ägyptens, die verfassungsorientierten, progressiven Kräfte, müssen eine basis- und/oder radikaldemokratische Partei bilden.
Sonst wird das nichts. Und gerade die Progressiven, nicht die Parteireligiösen, müssen endlich lernen, welche Bedeutung das Kapital für die Politik des Menschen hat und nicht der liebe Gott. Als wenn das so einfach wäre.
Selbstverständlich können auch selbsternannte Abschreiber göttlicher Anweisungen verheerende Auswirkungen anrichten, wenn sie an der Regierung sitzen. Gerade das aber sollte für die progressiven Säkularen – ob in Ägypten oder anderswo – ein Grund sein an der Quelle dieser Eingebungen der autoritären Muslimbruderschaft zu zweifeln, aber nicht nicht an der Religion die die Bruderschaft in Anspruch nimmt. Der Islam trägt keine Verantwortung für das, was derzeit in Ägypten passiert, und auch keine andere Religion. Es sind immer die Menschen die Politik machen. Und keiner kann sich davor drücken.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die ägyptische Demokratie wieder fängt. Die neue Republik Ägypten hat schwere Zeiten hinter sich.
Möge sie bessere Tage sehen und ihre eigene souveräne Zukunft finden.