Offener Brief aus der Bürgerbewegung gegen „Stuttgart 21“ an die Kanzlerin von Deutschland
Dokumentation: Offener Brief von Egon Hopfenzitz, ehem. Leiter des Stuttgarter Kopfbahnhofs, MdB Sabine Leidig, Mitglied im Bundesverkehrsausschuss, Volker Lösch, Regisseur am Staatstheater Stuttgart, und Schauspieler Walter Sittler an Kanzlerin Angela Merkel.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
im Gegensatz zu vielen offiziellen Verlautbarungen, wonach es sich bei Stuttgart 21 ausschließlich „um ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG“ handelt, wissen Sie so gut wie wir: Stuttgart 21 war schon immer ein Projekt des Bundes. Und es ist heute mehr denn je Sache der Bundesregierung, zu S21 eine definitive Entscheidung zu treffen. Daher wenden wir uns direkt an Sie mit der Aufforderung, dieses zerstörerische Projekt ohne Wenn und Aber zu beenden.
Ein Projekt des Bundes ist Stuttgart 21 aus drei Gründen:
Erstens. Die Deutsche Bahn AG befindet sich zu 100 Prozent im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. Damit haben die Bundesregierung und der Bundestag als Vertreterin des Eigentümers immer letzten Endes das Sagen. Die Verweise auf den Charakter der Bahn als Aktiengesellschaft, auf das Aktienrecht und „die Unabhängigkeit von Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG“ sind insbesondere vor dem Hintergrund des Berliner Flughafen-Skandals unhaltbar. Der Berlin-Brandenburg Airport (BER) ist ebenfalls eine Aktiengesellschaft. Er befindet sich auch zu 100 Prozent in öffentlichem Eigentum, wobei der Bund an diesem nur eine Minderheitsbeteiligung hält. Dennoch war es in den letzten Wochen immer unbestritten, dass die öffentlichen Eigentümer für das BER-Desaster verantwortlich sind, weshalb Herr Wowereit, solange er BER-Aufsichtsratsvorsitzender war, dem Miteigentümer, dem Bundestag als Vertreter des Bundes, mehrmals Rede und Antwort stehen musste.
Dass der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Herr Utz-Helmuth Felcht, sich bis heute weigert, dem Bundestag, hier dem Verkehrsausschuss, in Sachen S21 zum Gespräch zur Verfügung zu stehen, führte zu einer ungewöhnlichen All-Parteien-Koalition: Am 1. Februar 2013 schrieb der Vorsitzende des Verkehrsausschusses an Herrn Prof. Felcht, dass sich „alle Fraktionen im Ausschuss“ darin einig seien, dass die Zurückweisung der Einladung des Ausschusses „nicht akzeptabel“ sei.
Zweitens. Stuttgart 21 wurde am 18. April 1994 von dem offiziellen Vertreter der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl, Ihrem Parteikollegen Matthias Wissmann, damals Bundesverkehrsminister, heute VDA-Präsident, als Projekt des Bundes vorgestellt. Flankiert war er damals von dem Ministerpräsident des Landes B-W, Erwin Teufel, dem Bahn-Chef Heinz Dürr und dem Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel. In der Folgezeit hatten sich alle Bundesverkehrsminister zu Stuttgart 21 bekannt. Ohne Wenn und Aber tat dies auch der aktuelle Bundesverkehrsminister Ramsauer – zumindest bis vor kurzem.
Drittens. Sie selbst, Frau Kanzlerin, erklärten im September 2010, dass Stuttgart 21 ein bundespolitisch entscheidendes Projekt sei und dass Sie sich höchstpersönlich für die Realisierung des Tiefbahnhofs einsetzen werden. Sie sagten damals sogar, dass die Landtagswahl am 27. März 2011 zugleich über Stuttgart 21 entscheiden würde. Sie
erklärten: „Wir brauchen keine Bürgerbefragung. Die Landtagswahl wird genau die Befragung der Bürger (…) über Stuttgart 21“. (Spiegel online 15.9.2010). Und Sie waren es auch, die veranlasste, dass sich die drei Staatsekretäre – zugleich die drei Aufsichtsräte des Bundes bei der Deutschen Bahn AG – Hans Bernhard Beus aus dem Finanzministerium, Bernhard Heizer aus dem Wirtschaftsministerium und Michael Odenwald aus dem Verkehrsministerium – am 5. Februar 2013 mit Bahnchef Grube trafen, diesen in Sachen Stuttgart 21 förmlich „ins Verhör nahmen“ und dabei „nahezu alle Vorlagen in Frage stellten, die Grube zu Stuttgart 21 erarbeitet hatte“ – so der Bericht im „Spiegel“ (7/2013).
Wegducken geht also nicht mehr; Stuttgart 21 ist heute mehr denn je Teil Ihrer Richtlinien-Kompetenz.
Auch wenn, wie wir wissen, die große Politik und nicht zuletzt die Bundestagswahl eine maßgebliche Rolle dabei spielen, wie Sie in Sachen Stuttgart 21 entscheiden, so wollen wir doch ausdrücklich die sachlichen Gründe kurz skizzieren, warum Sie den Ausstieg bei Stuttgart 21 verkünden sollten und dabei sehr bewusst an Ihre Ratio appellieren.
Wir verstehen, wenn für Sie aktuell die Kostenfrage im Mittelpunkt steht. Tatsächlich ist seit dem 12. Dezember 2012 auch in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass die S21-Kosten explodieren: es sind laut Eingeständnis der Bahn derzeit mit bis zu 6,8 Milliarden Euro bereits drei Mal mehr als bei der ersten Projektvorstellung vorgerechnet (laut Machbarkeitsstudie von 1995 „4,807 Milliarden“ … DM!) und knapp doppelt so viel wie 2007 bei der Vertragsunterzeichnung vereinbart. Die aktuelle Kostenschätzung liegt aber auch um ziemlich genau 50 Prozent über dem Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro, der bei der Volksabstimmung vom November 2011 beschworen wurde, wobei dieser Betrag von Bahnchef Grube dutzendmal als „Sollbruchstelle“ bezeichnet wurde. Wohlgemerkt: Wir reden von der Kostenschätzung noch vor dem eigentlichen Baubeginn.
Was wir in diesem Zusammenhang nicht verstehen, ist die Behauptung, die jüngst präsentierten Kostensteigerungen seien für Ihre Regierung und für die Bahn-Aufsichtsräte des Bundes „völlig überraschend“.
Seit Sommer 2011 ist bekannt, dass Ihr Parteikollege, der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Günter Oettinger, bereits 2009 aufgrund einer Einsichtnahme in interne Unterlagen der Deutschen Bahn AG wusste, dass S21 „mindestens 4,9 Mrd Euro, wahrscheinlich aber 6,5 Milliarden Euro“ kosten würde – so wurde es in den Akten des baden-württembergischen Verkehrsministeriums festgehalten. Dort findet sich noch der Zusatz, nach dem Willen des „Herrn MP“ sollte diese Information intern bleiben, da sie „in der Öffentlichkeit schwer kommunizierbar“ sei.
Der gesprengte Kostendeckel ist aber nur eines der sachlichen Argumente, die ein Aus bei S21 begründen. Wir fordern Sie als Naturwissenschaftlerin, Sie tragen nicht umsonst den Doktortitel „rer. nat.“, sondern waren auch als Bundesumweltministerin entsprechend tätig und engagiert, dazu auf, die folgenden rein praktischen Argument in Ihre Überlegungen einzubeziehen, die auf den Gebieten der Physik und Mathematik angesiedelt sind und deutlich gegen S21 sprechen.
Stuttgart 21 = eine schiefe Bahn
Seit der von Ihrem Parteifreund moderierten S21-Schlichtung ist in einer gewissen Öffentlichkeit bekannt, was zuvor von der Bahn wie ein Geschäftsgeheimnis behandelt wurde: Im S21-Tiefbahnhof werden die Gleise eine Längsneigung – also ein Gefälle – von 15 Promille haben. Innerhalb der Bahnsteighalle mit einer Länge von 430 Metern ergibt dies einen Höhenunterschied von 6,5 Metern. Die Soll-Vorschrift in der Eisenbahn-Bau und Betriebsordnung (EBO) nennt als höchstzulässige Längsneigung der Gleise in Fernbahnhöfen 2,5 Promille. Die Überschreitung des maßgeblichen Grenzwertes um das Sechsfache (!) wird durch die Topographie und die Baulichkeiten im Untergrund (U- und S-Bahn) erzwungen. Als dieser Tatbestand in der Schlichtung behandelt wurde, forderte Heiner Geißler am Ende der entsprechenden Debatte, „dass die Bahn diesen Konstruktionsfehler behebt, indem die Neigung verringert wird, oder indem das, was sicherheitsrelevant ist, durch zusätzliche Maßnahmen verbessert wird.“ (Protokoll der Schlichtung vom 20. November 2010).
Doch nichts von dem Geforderten erfolgte – vor allem deshalb, weil diesen Forderungen technisch nicht entsprochen werden kann. Damit ist mit dem Tiefbahnhof S21 ein enormes Sicherheitsproblem verbunden; Züge könnten in diesem Bahnhof nicht ungebremst im Stillstand verharren. Eine solche Situation wäre einmalig unter den Fernbahnhöfen Europas. Und es kann durchaus sein, dass ein deutsches Gericht oder Institutionen der EU zu dem Schluss kommen, dass ein solches Sicherheitsrisiko nicht hinzunehmen ist. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) will bereits prüfen, inwieweit sie in Vertretung ihrer Mitglieder, der Triebfahrzeugführer, gegen S21 juristisch tätig wird. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man von einer Lachnummer sprechen: eine Milliardeninvestition für einen Schrägbahnhof, der sich im praktischen Betrieb als ständiges krasses Sicherheitsrisiko
herausstellen muss und dessen Nutzung darüber hinaus unter Verweis auf geltendes Recht untersagt werden könnte.
Stuttgart 21 = Kapazitätsabbau
Das Projekt Stuttgart 21 wurde in der Öffentlichkeit immer damit begründet, dass die Kapazität des bestehenden Kopfbahnhofs zu klein für den in Zukunft weiter steigenden Eisenbahnverkehr und dass die Kapazität des Tiefbahnhof deutlich größer als die des bestehenden oberirdischen Hauptbahnhofs sein würde. Das macht ja auch Sinn – man reißt etwas Altes, aber zu Kleines ab, und schafft mit der Milliarden-Investition etwas Neues mit größerer Kapazität. Doch das Verblüffende kristallisierte sich in den letzten drei Jahren immer deutlicher heraus und ist inzwischen in allen Details belegt: S21 wird weniger Kapazität haben als der bestehende Stuttgarter Hauptbahnhof heute hat. Und S21 wird keine Reserven für weitere Kapazitätssteigerungen haben, wohingegen der bestehende Kopfbahnhof solche Reserven bereits unter Beweis gestellt hat. Maßgeblich für die Kapazität eines Bahnhofs ist die Leistung in der Spitzenstunde (rush hour oder Stoßzeit). Diese betrug im Zeitraum 1996 bis 2011 im Kopfbahnhof rund 38 Züge je Stunde. Die maximale Kapazität des Kopfbahnhofs – einschließlich seiner Reserven – wurde mit 50 Zügen pro Stunde bestimmt und bestätigt.
Der Tiefbahnhof dagegen hat eine maximale Kapazität von 35 Zügen je Stunde. Auch in der Planfeststellung aus dem Jahr 2005 sind – obgleich dort verbal von einer Leistungssteigerung gegenüber dem Kopfbahnhof die Rede ist – nur 32 bis 35 Züge als Leistung in der Spitzenstunde festgelegt und damit planfestgestellt. Wie in der Öffentlichkeit derart lange der Eindruck erweckt werden konnte, S21 sei deutlich leistungsfähiger als der Kopfbahnhof, soll in diesem Offenen Brief an Sie im Einzelnen nicht dargestellt werden. Verwiesen sei hier auf die gut dokumentierten Darstellungen auf der Website WikiReal und von Dr. Christoph Engelhardt1.
Manchmal hilft ja auch der gesunde Menschenverstand, über den Sie ganz offensichtlich verfügen: Es gibt schlicht nirgendwo auf der Welt einen Fernbahnhof als Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen (wie S21 konzipiert ist), welcher eine größere Kapazität als die genannte Zahl von 32 bis 35 Zügen in der Spitzenstunde bei guter bis optimaler Betriebsqualität aufweisen würde. In Wien entsteht derzeit ein neuer Tief- und Durchgangsbahnhofbahnhof, der ebenfalls acht Gleise hat … und der über eben eine solche maximale Kapazität von 32 Zügen je Stunde verfügt.
Auch in diesem Fall kann es noch zu einem überraschenden Aus für S21 auf juristischer Ebene kommen. Denn nach § 11 des Allgemeinen Eisenbahn-Gesetzes (AEG) muss eine „mehr als geringfügige Verringerung der Kapazität einer Strecke“, womit nach juristischer Fachliteratur ausdrücklich „auch die für den Betriebsablauf wichtigen Bahnhöfe“ gemeint sind, „bei der zuständigen Aufsichtsbehörde (beantragt)“ und diese Verringerung von der zuständigen Behörde – dem Eisenbahn-Bundesamt – genehmigt werden. Einen solchen Antrag gab und gibt es bisher bei S21 nicht und damit gibt es auch keine entsprechende Genehmigung. Ihr Kabinettskollege Ramsauer weiß, dass es sich hier um ein heißes Eisen handelt, weswegen er namens der Bundesregierung entsprechende parlamentarische Anfragen stereotyp wie folgt beantworten lässt: „Soweit sich bei der Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs (…) Genehmigungstatbestände gemäß § 11 AEG erweisen sollten, wäre es ausreichend, die Verfahren zeitnah zur Veränderung der Betriebsführung zu führen.“ (Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, DS 17/3333, Antwort auf Fragen 5 und 6.)
Die Antwort lautet wohlgemerkt nicht, § 11 AEG spiele keine Rolle, da S21 ja mehr Kapazität als der Kopfbahnhof habe. Vielmehr soll nur „zeitnah zur Veränderung der Betriebsführung“ (an anderer Stelle antwortete die Bundesregierung: „… zeitnah zur Außerbetriebnahme des Kopfbahnhofs“) geprüft werden, ob es eine solche „mehr als geringfügige Verringerung der Kapazität“ gibt.
Die Bundesregierung schreibt also schwarz auf weiß, dass man zuerst einmal für mindestens sechs, vermutlich aber viel mehr Milliarden Euro einen Tiefbahnhof bauen wolle und erst um das Jahr 2021 herum oder später, also „zeitnah“ zur Stilllegung des Kopfbahnhofs, prüfen werde, ob die Kapazität des Kellerbahnhofs kleiner als die des alten Kopfbahnhofs ist.
Kein Unternehmer und schon gar nicht die viel zitierte „schwäbische Hausfrau“ könnte und würde sich im normalen Leben ein solches Wirtschaften leisten.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
natürlich wissen wir, auch wenn die Sachargumente für einen Ausstieg bei S21 Sie überzeugt haben sollten, würden die sogenannten Ausstiegskosten und die Behauptung, „Es gibt keine Alternative“ als Gründe gegen einen solchen Ausstieg angeführt werden. Zu den Ausstiegskosten haben Ihre drei Staatssekretäre und Bahn-Aufsichtsräte im angeführten Gespräch mit Bahnchef Grube am 5. Februar 2013 deutlich gemacht, dass es „Grund zur Annahme“ gebe, dass hier die „Preise künstlich hochgerechnet“ worden seien (Spiegel 07/2013). Als reale Ausstiegskosten ermittelte die baden-württembergische Landesregierung 2011 einen Betrag von deutlich weniger als einer halbe Milliarde Euro. Dabei ist der Begriff „Ausstiegskosten“ wahrlich irreführend. Denn ein Ausstieg erspart ja gewaltige zusätzliche Kosten. Die in diesem Zusammenhang zitierten Kosten sind vielmehr Folge des unverantwortlichen Einstiegs in das Projekt.
Es gab in diesem Land mehrere Großprojekte, die politisch beendet wurden und bei denen eine entscheidende und gemeinsame Lehre gezogen werden kann: Als 1983 beim Atomkraftwerk im badischen Whyl, als 1989 bei der atomaren Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf und als 1991 beim Schnellen Brüter im niederrheinischen Kalkar der Ausstieg beschlossen wurde, stellte sich jeweils heraus, dass die behaupteten hohen Ausstiegskosten binnen weniger Wochen nach der politischen Entscheidung zusammenschnurrten. Schließlich wollten die beteiligten Unternehmen „im Geschäft bleiben“. Genauso wird es sich bei einem Aus für S21 verhalten.
Einigermaßen verblüffend ist die Behauptung, es gebe „keine Alternative“ zu S21. Beziehungsweise die in Umlauf befindlichen Alternativen seien „nicht durchgeplant“, es gebe kein Baurecht usw. Der Stuttgarter Hauptbahnhof existiert in der bisherigen Form seit Mitte der 1920er Jahre.
Er wurde immer wieder modernisiert und optimiert. Bis vor kurzem war ebendieser Kopfbahnhof unter allen großen deutschen Bahnhöfen derjenige mit den besten Werten hinsichtlich Pünktlichkeit und Betriebsablauf. Wenn es in jüngerer Zeit hier Probleme gab – siehe das halbe Dutzend Lok- und Zugentgleisungen seit 2011 – war dies ausschließlich den Veränderungen im Gleisvorfeld geschuldet, welche aus den Vorbereitungsarbeiten für S21 resultierten. Der Stuttgarter hat gegenüber vergleichbaren Kopfbahnhöfen wie demjenigen in Frankfurt am Main den Vorteil, dass hier das Gleisvorfeld mit seinem „Tunnelgebirge“ einen sehr guten Zu- und Ablauf der Züge ermöglicht. Die „Alternative“ zu S21 ist also schlicht der real existierende und bewährte Bahnhof. Dass es hier Bedarf an Renovierung und Optimierung gibt, ist unbestritten.
Doch dies ist Teil des Kerngeschäfts der Deutschen Bahn AG bzw. deren Infrastrukturgesellschaften DB Netz und DB Station & Service. Wenn es hier einen Investitionsrückstau gibt, dann ist dafür allein der Bahnkonzern verantwortlich. Selbstverständlich wird man nach einem Ausstieg aus dem Projekt Stuttgart 21 den Wiederaufbau des Nord – und Südflügels des Bonatzbaus in einer architektonisch angemessenen Form in Angriff nehmen müssen. Allein dadurch kann das Ensemble des Bonatz-Baus wiederhergestellt und im Übrigen auch die aktuell erheblich gefährdete Statik der Gleisüberdachung stabilisiert werden. Inwieweit man darüber hinaus das Gleisfeld weiter optimieren und – wie das bereits bei den ursprünglichen Bauplänen angedacht war – ein weit gespanntes Glashallendach schaffen kann, sollte zukünftigen Debatten vorbehalten bleiben (Bei einem alle Gleise überspannenden Dach würden die Bahnsteigstützen und die Gepäckbahnsteige entfallen und zu den vorhandenen 16 Bahnsteiggleisen könnten beispielsweise 4 weitere Bahnsteiggleise geschaffen werden – ein weiterer Vorteil, den der Tiefbahnhof nicht bieten kann).
Tatsache ist: Ein Ausstieg bei S21 heißt nicht, dass man vor einer Art Stunde Null stünde. Der Stuttgarter Haupt- und Kopfbahnhof funktioniert ja trotz der einschränkenden Bauarbeiten sogar derzeit noch – bereits eine Einstellung der S21-Bauarbeiten würde zur Normalisierung des Bahnbetriebs beitragen. Alle debattierten Verbesserungen und Optimierungen am Kopfbahnhof haben einen modularen Charakter, das heißt, sie können gewissermaßen Zug um Zug realisiert werden.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
Sie haben nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima und nach den in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz für Ihre Partei verlorenen Landtagswahlen vom 27. März 2011 in Sachen Atomkraft eine radikale Kehrtwende vorgenommen, die viele Ihrer politischen Freunde einigermaßen konsterniert zur Kenntnis nahmen. Sie haben damals unter Beweis gestellt, dass Sie zu einer politischen Neupositionierung bereit und in der Lage sind, wenn die politischen Verhältnisse auch aus Ihrer Sicht eine solche Wende nahelegen, ja notwendig machen.
Wir sind felsenfest davon überzeugt: Stuttgart 21 wird scheitern – das Aus für das Projekt wird kommen. Je früher das stattfindet, desto eher ergibt sich noch eine gewisse Schadensbegrenzung politischer und materieller Art (auch wenn die inzwischen durch S21 bewirkten Schäden immens sind, vor allem in Form des abgeholzten 100 und mehr Jahre alten Baumbestands im Schlossgarten).
Die Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“ dauert nun viele Jahre an. Dabei geht es längst um mehr als nur um einen Bahnhof, das haben Sie ja auch so beschrieben. Umso mehr erstaunt, dass prominente Befürworter und Kollegen von Ihnen den Widerstand der Bürgerinnen und Bürger stets unterschätzt haben. Stefan Mappus gab sich vor der Wahl siegessicher, doch er wurde abgewählt, vor allem weil viele ehemalige CDU-Wähler gegen „Stuttgart 21“ sind. Die CDU hat eine historische Wahlniederlage in Baden-Württemberg hinnehmen müssen, eine grün-rote Regierung führt seither das Bundesland. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Schuster hat aufgrund seiner Rolle in dieser Auseinandersetzung auf eine erneute Kandidatur verzichten müssen, er wäre chancenlos gewesen. Fritz Kuhn hat 2012 gegen Sebastian Turner gewonnen, da der Widerstand gegen „Stuttgart 21“ bei seinen Wählerstimmen den Unterschied ausgemacht hat.
Wie es um die Kraft und Präsenz dieser Bewegung steht, haben Sie bei Ihrem Besuch in Stuttgart im Oktober 2012 ja selbst erfahren dürfen. Seither hat sich die öffentliche Meinung noch einmal deutlich gegen „Stuttgart 21“ gedreht. Der Bahnhofsstreit ist und bleibt ein wichtiges, ein großes Thema in Deutschland. Je weiter Sie die Entscheidung für einen Ausstieg hinausschieben, desto mehr Bürgerinnen und Bürger werden sich von Ihrer Politik abwenden, und desto größer wird die für Sie und Ihre Partei negative Auswirkung des Projekts „Stuttgart 21“ auf die Bundestagswahl
sein.
„Stuttgart 21“ ist gescheitert, das ist inzwischen mehr als offensichtlich. Wir fordern Sie mit allem Nachdruck dazu auf, dieses sinnlose und zerstörerische Projekt sofort zu beenden .
Mit freundlichen Grüßen
Walter Sittler
i.A. Sabine Leidig, Egon Hopfenzitz, Volker Lösch
PS: Auf die Idee eines „Kombibahnhofs“ sollten Sie keine Zeit verschwenden. Hier handelt es sich auch nicht im Entferntesten um einen „Kompromiss“: Für dieses neue Großprojekt gibt es tatsächlich keine Planung und schon gar kein Baurecht. Die wesentlichen Risiken, die es bei S21 gibt, wird es auch beim Kombibahnhof geben. Die Kosten liegen mindestens so hoch, wie sie bei S21 noch bis zum 11. Dezember 2012 offiziell lagen. Im Übrigen ist es schlicht Unsinn, einen die Fahrgäste enorm verwirrenden Drei-Ebenen-Bahnhof (mit Fernverkehr in der untersten Etage, mit S-Bahn in der ersten Tiefebene und mit Nahverkehr im alten Kopfbahnhof) zu bauen, wenn es dafür keinerlei unmittelbaren Zwang gibt.
Übrigens: Ein Ausstieg bei S21 und ein Stopp der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm würde offiziell zehn, real wohl rund fünfzehn Milliarden Euro an staatlichen Mitteln freisetzen. Das entspricht dem Vierfachen dessen, was der Bund jährlich für das Schienennetz des Bundes (in Form von Bundesmitteln für Investitionen bei DB Netz) ausgibt und dem Dreifachen dessen, was insgesamt (einschließlich der Mittel der DB AG) pro Jahr in die Schienen-Infrastruktur investiert wird. Mit einer solchen Summe könnte eine großflächige Modernisierung – zum Beispiel eine umfassende Elektrifizierung – des deutschen Schienennetzes in Angriff genommen werden.