„Der Anfang mehr als die Hälfte sei“
Dokumentation: Die Rede von Prof. Dr. Ferdinand Rohrhirsch, Theologe und Philosoph, am 25.3.2013 auf der 166. Montagsdemo der Stuttgarter Bürgerbewegung gegen das Städtebauprojekt „Stuttgart 21“ (S21).
Liebe Freunde eines mit Vernunft gestalteten Bahnverkehrs in Baden-Württemberg, liebe Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofes. Christen haben in dieser Woche eine besondere Gelegenheit nachzudenken. Aber auch diejenigen, die mit Ostern nichts anfangen können, haben durch die kommenden Feiertage eine Reihe freier Tage, die sich zur Standortüberprüfung nutzen lassen.
Für Fragen, derart: Was ist aus meinem Leben geworden? Bin ich mit ihm zufrieden? Oder: Habe ich mich verrannt? Finde ich mich auf Wegen, auf denen ich nie gehen wollte? Wer nun in seinem Nachdenken zum Urteil kommt: Ich habe mich verrannt, ich habe mich verplant, ich bin auf dem falschen Weg – wird umkehren wollen. Und jeder von uns weiß, und je älter desto gewisser: umkehren, neu anfangen, das ist vom Schwersten. Doch jeder, der seiner Wahrheit ins Auge sieht, weiß auch: im Grunde habe ich gar keine andere Wahl als umzukehren, wenn ich nicht sehenden Auges in mein Verderben weiterlaufen will.
Was also soll ich von einem Menschen denken, der zugibt, dass er sich verrannt hat – aber nun,
statt umzukehren, zu sich und anderen sagt: Leute, ich bin zwar auf dem falschen Weg, aber weil ich schon so weit in die Irre gelaufen bin, etikettiere ich den falschen Weg um und sage zu mir und zu denen die mich begleiten: Das ist ab jetzt der richtige Weg für mich und für euch. Von so einem Menschen bliebe doch nur zu denken übrig: der geht nicht nur in die Irre, sondern er ist selbst der Verwirrung anheimgefallen.
Wer gegen seine eigene Einsicht handelt, der zerstört nicht nur seine Selbstachtung, der zerstört nicht nur seine Identität, der verhindert auch, dass ihm Glaubwürdigkeit zugeschrieben werden kann. Sehr geehrter Herr Dr. Grube, sehr geehrter Herr Dr. Kefer, sehr geehrter Herr Prof. Martin. Einem
Menschen Glaubwürdigkeit zuzusprechen wage ich da,
• wo einer verspricht und sein Versprechen hält,
• wo einer, sobald er etwas weiß, sagt, was er da weiß,
• und, wo einer erkennt, nichts anderes, als das Erkannte ausspricht.
Was nun, Herr Grube, soll ich davon halten, wenn Sie mir, ganz Baden-Württemberg und der Republik monatelang erzählen, bei 4,526 Milliarden Euro ist die absolute Obergrenze erreicht, „mehr ist mit mir nicht zu machen“, von Sollbruchstellen reden – und ein wenig später, dass das von ihnen Gesagte Makulatur ist. Unter „glaubwürdig“, Herr Grube, verstehe ich etwas anderes. Und Sie, Herr Kefer, innerhalb von zwei Monaten und ganz kurz nach der Volksabstimmung gehen sie noch mal an den Schreibtisch und rechnen nach und merken – hoppla, ich habe mich ein wenig verrechnet. Jetzt sinds doch 2000 Millionen Euro mehr als vor der Volksabstimmung geworden. Kann doch mal vorkommen. Unter ‚glaubwürdig‘, Herr Kefer, verstehe ich etwas anderes.
Und Sie Herr Prof. Martin, welchen Erkenntnisbegriff haben Sie? Wie können Sie es zulassen, dass man Sie nach wie vor mit folgenden Worten zur Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofes zitieren kann:
„Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof entspricht 16 nebeneinanderliegenden Sackgasse …Wenn ein Zug diagonal ausfährt, versperrt dieser eine Zug alle anderen Ein- und Ausfahrten.“
Sie werden verstehen, dass ich, solange ich solche, mich empörenden, Unwahrheiten – von ihnen
unkommentiert – lesen kann, ich ihnen keine Glaubwürdigkeit zusprechen kann. Und dann sind ja noch all die Groß- bzw. Projektsprecher, die vom Eisenbahnbetrieb nicht die Spur einer Ahnung haben, aber z.B. lange Briefe (nachzulesen bei siegfried-busch.de) an Herrn Egon Hopfenzitz schreiben, in dem sie ihm erklären, wie Eisenbahn funktioniert. Glaubwürdigkeit – meine Herren – sieht anders aus.
Mit ihrem Verhalten, meine Herren, lassen sie mir doch gar keine andere Wahl, als dass ich ihnen die Glaubwürdigkeit abspreche: Auf Menschen, die erkennen und nicht danach handeln, wissen und nicht mitteilen, versprechen und nicht halten – auf solche kann man nicht bauen und mit solchen lässt sich auch nicht bauen.
Liebe Freunde eines vernünftigen Bahnverkehrs. Stuttgart 21 gehört gestoppt und zwar jetzt. Ganz
egal, was das jetzt kostet. Aus Stuttgart 21 wird nichts:
• nicht nur, weil alles immer noch teurer wird;
• nicht nur, weil es in großen Teilen noch nicht einmal durchkonstruiert bzw. geplant ist (die Rede von Herrn Heydemann letzte Woche müsste doch dem letzten klarmachen, wie viel Dilettantismus hier am Werk ist;
• nicht nur, weil die ganze Anlage viel zu klein ist.
Stuttgart 21 gehört gestoppt, weil die Idee, auf der das Projekt ruht, nichts taugt. Dieses Projekt pervertiert die Idee von Eisenbahn und missachtet in geradezu tollkühner Weise die Grundprinzipien des Eisenbahnbetriebs.
Doch wer gegen das Wesen, gegen die Prinzipien und inneren Gesetzlichkeiten einer Sache verstößt – der hat keine Chance, dass aus dieser Sache noch etwas Gutes wird. Das ist es, was der Satz des Philosophen Aristoteles sagen will, dass der „Anfang mehr als die Hälfte sei“. (Vgl. Aristoteles,
Nikomachische Ethik, NE, 2. Buch 1098b)
Gute Dinge können dann entstehen, wenn wir zu hören in der Lage sind, und wenn wir die Natur der Dinge berücksichtigen. Tun wir das nicht, dann kann es sein, dass wir dafür bezahlen müssen, mehr, als was mit Geld je bezahlt werden kann. Man darf keine Bahnhöfe bauen, für die Züge viele Kilometer in Tunneln, extreme Gefälle bzw. Steigungen zu bewältigen haben, und schon kleine Unregelmäßigkeiten zu Katastrophen führen können, bzw. restriktive Vorschriften notwendig machen, die jeden angeblichen Zeitvorteil ins Reich der Fabel verweisen.
Der Einwand, wir bauen aber doch vorschriftsgemäß, ist kein gültiger mehr. Der neu gebaute Teil des Gleisvorfeldes im Hauptbahnhof wurde im Rahmen geltender Vorschriften der Bahn AG gebaut. Die Züge hat das bei ihren Entgleisungen wenig beeindruckt. Das ist es ja, was so besorgniserregend ist: dass die Vorschriften und Richtlinien für dieses Projekt bis in ihre Grenzbereiche und darüber hinaus aufgeweicht, nivelliert und ausgehebelt wurden und werden.
„Sicherheit-Pünktlichkeit-Wirtschaftlichkeit“ hieß zu meiner Bundesbahnzeit das Credo der Bahn. Heute klingt das wie ein Mahnruf zur Besinnung aus der Verirrung, in der sich die Bahn AG zur Zeit befindet.
Man darf keine Bahnhöfe bauen, in denen die Gleisneigung so groß ist, dass keine Fahrtrichtungswechsel, Verstärkungen Schwächungen, Lokwechsel, Bremsproben, keine gegenläufigen
Doppelbelegungen mehr durchgeführt werden dürfen – also all das, was ein Eisenbahnbetrieb erfordert, wenn er aus der Perspektive der Reisenden gedacht und gemacht wird.
(Was das mit der Gleisneigung bedeutet, können Sie jedem Interessierten am Gleis 6 des Hbf. zeigen. Von dort fahren 2-stündig die ICEs von Stuttgart nach Hamburg. Meist ist es ein 14teiliger ICE1 der vom End-Triebkopf am Prellbock bis zum Spitzen-Triebkopf ca. 410 m und 70 cm lang ist. An diesem Triebkopf bleiben Sie auf dem Bahnsteig stehen und besteigen in Gedanken den Sprungturm ihres Freibades. Schnell am Einer vorbei, kommt das 3m-Brett in Reichweite. Dort angekommen nehmen sie die Leiter nach oben, zum Fünfer. Hier nun werden sie im neuen Tiefbahnhof von eben dem Triebkopf begrüßt, den sie unten verlassen haben. Aber obwohl sie auf dem 5er-Turm stehen, können sie nicht über den Zug bis zu seinem Ende am Prellbock sehen, nein, sie sind erst auf Höhe der Schienenoberkante, auf der der Zug steht.)
Manchmal meine ich, dass diejenigen, die den Turmbau zu Babel projektiert haben, weniger verwirrt waren, als diejenigen, die sich solche Gleisanlagen ausdenken. Übertroffen werden sie nur noch von denjenigen, die so etwas auch noch genehmigen. Der Bau von Stuttgart 21 gehört gestoppt und zwar jetzt. Dieser Tiefbahnhof ist die degenerierte Ausgeburt einer Kreuzung von technischem Größenwahn mit nicht vorhandener Kompetenz, gepaart mit einer neoliberalen Liaison aus städtebaulich-spekulativer Profitmaximierung mit politisch-ökonomischem Filz auf Kosten einer funktionierenden Eisenbahn.
Ein Baustopp ist nicht die Lösung. Er ist und bleibt der erste Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Das Lamento: dann ist für ein Jahrzehnt der Ofen aus, ist substanzlos. Wir haben einen funktionierenden Bahnhof, der jeden Tag des Jahres mehr leistet, als der Neue je wird leisten können.
Liebe Freunde, immer wenn ich gefragt werden, warum bist du denn dagegen, dann sage ich: Ich bin wie Wolfgang Drexler, Franz Fehrenbach, Dieter Hundt und Dieter Zetsche u.a. für eine leistungsfähige Infrastruktur, d.h. für gut ausgebaute Reisewege für Menschen, wie für effektive Beförderungswege für Güter. Ich bin für eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur für Stuttgart und Baden Württemberg – und genau deshalb bin ich gegen Stuttgart 21. Denn mit all dem hat Stuttgart 21 nichts zu tun.
Und denjenigen, die einen modernen Bahnhof wollen, denen ist zu sagen: „modern“ hat mit „neu gebaut“ überhaupt nichts zu tun, und „neu gebaut“ heißt noch lange nicht „leistungsfähig“. In der Osterzeit, seien es für Sie Feiertage oder freie Tage, erhöht sich die Gelegenheit zum Verschnaufen, zum Nachdenken, zur Standortüberprüfung. Vor sich selbst zu bestehen, das ist und bleibt die Aufgabe für uns alle. Wir haben bei unserer Prüfung auch die anderen in den Blick zu nehmen. Die anderen, das können mehrere, ja sogar die Mehrheit sein. Die Mehrheit ist zu achten, sie ist zu respektieren. Verpflichtet aber sind wir allein unserem Gewissen und sonst niemandem. Das gilt für alle von uns, es gilt auch für Ministranten, Minister, und es gilt auch für einen Ministerpräsidenten.
Gute Feiertage und Oben bleiben!
Literaturhinweise:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, griechisch-deutsch, Düsseldorf, Zürich 2001.
Rohrhirsch, Ferdinand: Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21, 3. Auflage 2011, Heidenheim,
ISBN 978-3-925887-31-4
ferdinand-rohrhirsch.de