Die Frühgeschichte von BAYER: Der Rhein als ‚Opferstrecke‘
2013 feiert der Leverkusener Multi sein 150-jähriges Bestehen. Stichwort BAYER wirft deshalb das Jahr über Schlaglichter auf die wenig ruhmreiche Geschichte von BAYER. Den Anfang macht ein Text des Historikers Stefan Blaschke über frühe Umweltsünden des Konzerns, die schon im 19. Jahrhundert immer wieder zu Protesten führten. So betrachtete der Chemie-Riese den Rhein als „Opferstrecke“, technische Maßnahmen zur Abwasserreinigung hingegen als „Vergeudung von Nationalkapital“ und sah sich deshalb mit vielen Klagen konfrontiert.
Historische Umweltforschung
Wenn auch der Ausdruck „Umweltschutz“ in Deutschland erst gegen Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufkam, ist das Problem wesentlich älter, allerdings auch das Bewußtsein darüber. Die Menschen waren schon im 19. Jahrhundert gezwungen, sich mit industriellen Umweltbelastungen auseinanderzusetzen, die an bestimmten Brennpunkten erhebliche Ausmaße erreichen konnten.1 Umweltprobleme gab es allerdings schon im Mittelalter und in der Antike, allerdings traten sie in einem begrenzten, lokalen Raum auf. Klagen über Umweltverschmutzung durch gewerbliche Tätigkeit wurden bereits in vorindustrieller Zeit geführt, doch gehäuft traten sie erst seit der Industriellen Revolution auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekamen sie zudem eine überregionale und sogar internationale Bedeutung.2
Die Ausbreitung der Industrie und das rasche Anwachsen der Stadtbevölkerung bewirkten neue und ernsthaftere Umweltprobleme. Die ersten Fabriken riefen bereits Proteste hervor. Sie wirkten vielfach wie Fremdkörper in einer traditionellen, landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft, wurden deshalb als besonders belastend empfunden, da wenig Erfahrung mit den neuen Techniken und Produktionsverfahren vorlagen. Die metallerzeugende und -verarbeitende Industrie z.B. belastete ihre Umgebung mit großen Mengen an Rauch, Asche und Staub. Es kam zu Geruchsbelästigungen durch zahlreiche verschiedene Fabriken. Die Belastungen der Umwelt betrafen noch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht das ganze Reich, sondern nur einige Gebiete, während andere davon wenig oder gar nichts bemerkten. Im Rahmen von Urbanisierung und Industrialisierung waren zunächst die Kommunen in besonderer Weise berührt. Sie entwickelten sich zu Industriestandorten, so daß Auseinandersetzungen um industrielle Emissionen nur folgerichtig waren. Die Umweltbelastungen betrafen auch nicht alle soziale Gruppen im gleichen Maße. Diese litten unterschiedlich stark, nahmen das Problem unterschiedlich wahr und zogen aus dem Wahrgenommenen unterschiedliche Schlüsse.3
Die „Protestler“ stammten in der Regel nicht aus unteren sozialen Schichten. Dies mag auch damit zusammenhängen, daß es z.B. bei den Arbeitern eine Gewöhnung gab.4 Doch konnten diese auch nicht gegen ihre Arbeitgeber vorgehen, ohne mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu rechnen. So war es mehr ein Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen von Besitzenden. Nennenswerte Möglichkeiten besaßen im Grunde auch nur Haus- und Grundbesitzer, da in der Praxis nur Schädigungen des Eigentums zu länger dauernden Auseinandersetzungen oder gar zu Gerichtsverfahren führten. Ansonsten konnten zwar Einwände vorgetragen oder auf Belästigungen sowie Gefahren verwiesen werden, doch in diesen Fällen lag die alleinige Entscheidungskompetenz bei den Behörden. Andererseits wurde aber immer wieder die Erfahrung gemacht, daß Belastungen größer ausfielen, als zuvor angenommen. Dann war es nahezu unmöglich, etwas gegen den konzessionierten Betrieb zu unternehmen. So war ebenso eine Resignation verbreitet aufgrund begrenzter Handlungsmöglichkeiten.5
Verursacher mußten zwar für Schäden haften, doch mußten sie eindeutig identifiziert werden, was nicht unbedingt einfach war. Denn mit fortschreitender Industrialisierung wurde es immer schwieriger, da zu viele Schadensquellen in Frage kamen.6 Maßnahmen gegen Emissionen bedeuteten für Unternehmen in der Regel ein Verlustgeschäft, insbesondere die Behörden akzeptierten den Hinweis auf entstehende Kosten. Diese Argumentation wirkte noch überzeugender, wenn auf die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Fabrik, des ganzen Industriezweigs oder der Industrie im allgemeinen verwiesen wurde. Daß die beschuldigten Firmen mehr Personen beschäftigten, einen höheren Umsatz erwirtschafteten und einen größeren Beitrag zur Volkswirtschaft leisteten als geschädigte Nachbarn, war nur schwer zu bezweifeln. Selbst wenn die wirtschaftliche Existenz letzterer bedroht war, wie bei Landwirten, Fischern oder denjenigen Gewerben, die auf sauberes Wasser angewiesen waren, änderte sich wenig an der zugrunde liegenden Argumentation. Deren ökonomische Bedeutung war gegenüber der Industrie geringer. Zudem suchten die Unternehmer, ihre Gegner zu disqualifizieren. Ein gewisses Gegengewicht gegen ökonomische Argumente bestand zwar in der Sorge um gesundheitliche Schäden, insgesamt hat die medizinische Debatte für den Umgang mit Emissionen keine große Bedeutung erlangt.7
Streitigkeiten wegen Umweltbelastungen spielten sich nicht nur zwischen Unternehmern einerseits und anderen Gruppen andererseits ab. Zwischen verschiedenen Industriezweigen gab es Auseinandersetzungen, aber auch zwischen verschiedenen Gemeinden. Diese warfen sich gegenseitig Schädigung ihrer Kommunen vor, zumal wenn sie sich gelegentlich einander die steuerträchtigen Firmen nicht gönnten. Manchmal hatten diese Auseinandersetzungen sogar heuchlerischen Charakter. Die Gemeinden bekämpften lautstark die Umweltverschmutzung der Industrien im Nachbarort und duldeten zur gleichenZeit aber die der eigenen.8
Umweltklagen in Barmen und Elberfeld
Umweltklagen gehören zur Geschichte der Farbenfabriken von Anfang dazu.9 Schon 1854 hatten gegen eine Konzessionserteilung für Friedrich Bayer, um Zinn- und Eisenbeize, Indigokarmin und Blaupulver herzustellen, 23 Barmer Bürger Protest eingelegt, da sie Schäden an Gesundheit und Vegetation befürchteten.10 Im Sommer 1864 mußte das erst ein Jahr zuvor gegründete Unternehmen die ersten Entschädigungen zahlen. Es kamen immer mehr Beschwerden in der Nachbarschaft auf, die regelmäßig fälligen Abfindungssummen nahmen zu.11 Die Forderungen nach Schadensersatz wurden allerdings immer höher, so daß Friedrich Bayer nicht bereit war, ihnen nachzukommen. Da die Verbitterung in der Bevölkerung stieg, konnte er sich nicht mehr ohne Begleitung auf der Straße sehen lassen. Bayer strengte einen Prozeß an, um diese Situation zu beenden, wurde aber zur Zahlung verurteilt. Das führte dazu, daß es manchem Nachbar zur Gewohnheit wurde, an bestimmten Tagen seine Abfindung im Fabrikkontor in Empfang zu nehmen, wie die Arbeiter ihren Lohn. Der Umzug nach Elberfeld bedeuteten nicht das Ende von Klagen in Barmen.
1872 zeigten Fabrikrevisionen, daß das Unternehmen es mit den Konzessionsauflagen nicht sonderlich genau nahm, was zu täglichen Geldstrafen führte bis zur Erfüllung der Auflagen. Ein hartes Eingreifen des Elberfelder Bürgermeisters hatte den gewünschten Erfolg, die Firma zu sorgsamen Umgang mit seinen Produktionsabfällen anzuhalten. In der Folgezeit gab es keinen Widerstand, erneute Proteste sind erst für 1884 aktenkundig. Einmal ging es sogar bis zum Minister für Handel und Gewerbe in Berlin, da die Opponenten sich nicht mit der Entscheidung der Beschlußbehörde abfanden, daß keine Belästigungen zu erwarten seien. Es ging um den Miet- und Verkaufswertverlust für benachbarte Wohnhäuser, bedingt durch Rauch und Gestank, und um die Behinderung eines Brauereibetriebs. Bayer bestritt die Einlassungen und verwies darauf, daß jedes Entweichen von Dämpfen einen finanziellen Verlust bedeuten würde. Zudem bewiese der Gesundheitszustand der Arbeiter, daß die Produktion ungefährlich sei. Entweichende Dämpfe würden ohnehin verdünnt, so daß von ihnen keine Gefahr mehr ausginge. Man verwies außerdem auf eine näherliegende Brauerei, die sich noch nie beschwert hätte, was den protestierenden Brauereibesitzer zu der Anschuldigung verleitete, daß Bayer sich das Schweigen erkaufe. Die Farbenfabriken hoben schließlich die eigene überragende wirtschaftliche Bedeutung hervor, ein Argument wie man noch anmerken muß, das man in den Anfangsjahren noch nicht benutzen konnte. Nur durch ein Ansteigen der Betriebsgröße sei der Vorsprung der deutschen chemischen Industrie zu sichern gegen eine wachsende Bedrohung durch das Ausland. Dem Argument konnte sich der Minister nicht verschließen.
Ende der achtziger Jahre erreichten die Proteste einen Höhepunkt. Im Juni 1889 sandten 66 Fabriknachbarn ein von ihnen unterzeichnetes Schreiben an die Königliche Regierung. Die Belastungen waren nicht konstant, sondern traten zu unterschiedlichen Zeiten auf und waren von unterschiedlicher Dauer. Der Historiker Ralf Henneking vermutet, daß das Unternehmen vor jeder Inspektion gewarnt wurde, so daß zu diesen Zeiten Belastungen vermieden werden konnten. Eine ständige Überwachung wäre somit notwendig gewesen. Doch bei der geringen Zahl an Aufsichtsbeamten blieb nichts anderes übrig, als auf das Verantwortungsbewußtsein der Unternehmer zu hoffen12. Seit Ende der achtziger Jahre wurden die Farbenfabriken von Protesten im Raum Barmen-Elberfeld verschont, obwohl die Umweltschädigungen nicht beseitigt worden waren. Ein letztes Mal zu Protesten in Elberfeld kam es 1901. Der Opponent forderte, daß das Unternehmen sofort nach „Leverkusen“ gehen solle. Die Elberfelder Bürgerschaft würde den Wegzug durchaus nicht bedauern.
Klagen gegen Konzessionsanträge im Raum „Leverkusen“
Die Errichtung von Fabrikanlagen und Gebäuden bedurfte jeweils einer staatlichen Genehmigung. Im Zeitraum zwischen 1894 und 1915 beantragte das Unternehmen 64 Konzessionen für das Werk Leverkusen, wobei nur in sieben Fällen Einspruch eingelegt wurde. Henneking behandelt in seiner Studie sechs Fälle auf Grundlage des Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. In den Akten des Stadtarchivs Leverkusen ist noch eine weitere Klage dokumentiert, die jedoch nicht weiter verfolgt wurde, so daß sie wohl auch nicht den übergeordneten Behörden bekannt geworden ist. Somit kann man vermuten, daß die Angaben bei Henneking eine Untergrenze darstellen.
Hinsichtlich Ausmaß und Intensität erreichten die Auseinandersetzungen nie die Dimension wie in Barmen und Elberfeld, wo wiederum mit der Verlegung der Fabrikanlagen ein Rückgang an öffentlichen Protesten hervorgerufen wurde. Im Raum „Leverkusen“ blieben zudem die Proteste bei Konzessionsverfahren auf die Zeit bis 1900 beschränkt.13
=> 1894 legten elf Fabriknachbarn gegen die Errichtung einer Schwefelsäurefabrik Protest ein, da sie Nachteile für ihre Ländereien und für die eigene Gesundheit befürchteten. Der Landrat zu Solingen sah sich daraufhin veranlaßt, den Bezirksausschuß in Düsseldorf um die Entsendung eines Sachverständigen zu bitten, der prüfen sollte, ob die Besorgnisse berechtigt seien. Laut Ergebnis des Gutachtens war mit einem Entweichen von saurem Gas in erheblichem Umfang nicht zu rechnen und eine negative Wirkung der Kiesabbrände durch entsprechende Maßnahmen vermeidbar, so daß den Farbenfabriken nur geringe Auflagen bei der Konzessionserteilung gemacht wurden.14
=> Infolge der systematischen Werkserweiterung beantragte das Unternehmen Konzessionen für den Bau einer Reihe von Fabrikanlagen, nämlich einer Anlage zur Konzentration von Schwefelsäure, einer Phtalsäure-, einer Salzsäure-, einer Schwefelsäurehydrit- und einer Salpetersäurefabrik. Gegen deren Einrichtung wurde im Jahre 1895 von sieben Parteien Protest eingelegt. Zwei davon zogen ihren Einspruch schon bei dem Erörterungsgespräch auf dem Bürgermeisteramt zurück. Der Solinger Landrat blieb skeptisch, doch wurde eine generelle Verweigerung der Konzession aufgrund der Bedeutung Bayers und der allgemein günstigen Lage der geplanten Anlagen nicht erwogen. Das Ziel der Konzessionsbedingungen war zwar präzise formuliert. Doch die Bedingungen blieben auslegbar hinsichtlich ihrer Umsetzung, die dem Unternehmen selbst überlassen wurde, so daß der tatsächliche Wert für den Schutz der Nachbarschaft wohl eher gering war.15
=> Im gleichen Jahr legte der Freiherr von Diergardt, der als Meistbegüterter jeweils im Wiesdorfer und Bürriger Gemeinderat saß, gegen den Bau einer Naphtylaminsulfosäurefabrik Einspruch ein. Er erschien allerdings erst gar nicht zum Verhandlungstermin auf dem Bürgermeisteramt. Dort erklärte der von der Firmenleitung bevollmächtigte, damalige Oberingenieur Ludwig Girtler, daß Diergardt ein prinzipieller Gegner der Industrie zu sein scheine, da er bei allen bisherigen Konzessionsfällen Protest eingelegt habe, und daß nun die zuständige Behörde den Wert dieses Protestes prüfen müssen, zumal der Einsprucherhebende nicht erschienen sei. Es ging dabei mehr um eine Disqualifizierung des Gegners, ohne daß eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Protest stattfand. Es scheint so, als habe Diergardt seine Einwände nicht weiterverfolgt, denn Bayer erhielt die Genehmigung ohne weitere Probleme.16
=>In drei weiteren Fällen kam der Einspruch jeweils von Seiten der Stadt Köln, die eine Schädigung für ihr Stadtgebiet befürchtete. Im ersten Fall wurde 1897 der Einspruch gegen die Herstellung von Alizarin und anderen Farbstoffen als unbegründet zurückgewiesen. In den beiden anderen Fällen im Jahre 1899, nämlich beim Bau einer Natron- und Kalifabrik und einer Erweiterung der Fabrik für Oxianthrachinoderivate, zog die Stadt Köln noch vor den Verhandlungen die Proteste von sich aus zurück. Das gleiche geschah im selben Jahr beim letzten Fall, bei dem Protest gegen die Errichtung einer neuen Schwefelsäurefabrik eingelegt wurde. Der einzige Opponent nahm seinen Protest zurück, trotzdem erhielten die Farbenfabriken die Konzession nur unter zahlreichen Auflagen.17
=> Es gab zwar Proteste aus Köln, aber anscheinend keine von Seiten der Nachbarbürgermeisterei Merheim oder der Stadt Mülheim. Johann Paul hat in einem Aufsatz die Umweltbelastungen in der Bürgermeisterei Merheim in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg untersucht. Dabei hat er auch den Problemkreis „chemische Dämpfe und Rauch“ behandelt, führt aber nur Belastungen durch Mülheimer Fabriken auf.18 Zu berücksichtigen ist, daß in Flittard, der nächstgelegenen Ortschaft innerhalb der Bürgermeisterei Merheim, eine große Anzahl von Werksangehörigen wohnten.
Für die BASF in Ludwigshafen bemerkte der Historiker Arne Andersen, daß es für die Landbesitzer lukrativer war, mit dem Unternehmen zusammenzuarbeiten und von Grundstücksverkäufen zu profitieren, als über Proteste Schadensersatzzahlungen zu beanpruchen oder bei neuen Konzessionierungen der Fabrik Schwierigkeiten zu machen. Zudem war etwa ein Viertel der Einwohner direkt vom Unternehmen abhängig, viele ortsansässigen Klein- und Mittelbetriebe waren Zulieferer. Aufgrund der ökonomischen Bedeutung waren Beschwerden kaum noch zu erwarten. Darüber hinaus hatte die BASF in seiner ersten Phase sofort jeden potentiellen Widerstand aufgekauft. Auf sozialdemokratische Kritik reagierte die Direktion mit der Drohung, den Betrieb zu schließen.19 Bayer war der größte Arbeitgeber und Steuerzahler in der Region. Drohungen, das Werk zu schließen, gab es nicht, waren auch nicht zu erwarten wegen der Investitionsleistungen in den Standort. Dafür wurde immer wieder auf die wirtschaftliche Bedeutung verwiesen.
Rheinverschmutzung
Ein zweiter Bereich, in dem sich die Farbenfabriken mit Umweltklagen konfrontiert sahen, war die Abwassereinleitung in den Rhein. In der älteren Forschung wurde der Rhein für die Aufnahme größerer Mengen chemischer Abwässer als günstig angesehen, ohne daß die damit verbundenen Umweltbelastungen und auch die damalige Diskussion gesehen wurde.20 Schon gegen die Ultramarinfabrik von Carl Leverkus hatte es Klagen von Fischern gegeben. Der Fabrikant erklärte jedoch, daß seine Abwässer keine giftigen Stoffe enthielten. Der damals zuständige Bürgermeist von Opladen bestätigte dies 1888 mit der Bemerkung, daß er noch nie von Klagen über die Abnahme des Fischereiertrags gehört habe. Klagten allerdings die betroffenen Fischer allzu laut, konnte es vorkommen, daß die Verunreiniger die staatlichen Fischereireviere meistbietend ersteigerten und dann ungenutzt ließen. Dadurch wurden die Fischer wiederum erwerbslos und wanderten als Arbeiter in die Industrie ab. In dem Konflikt wurde schließlich der Gewerberat bei der Düsseldorfer Bezirksregierung mit einer gründlichen Untersuchung beauftragt, in der er feststellte, daß die Abwässer noch schwach sauer und somit schädlich für die Fische waren. Als einfachste und für Leverkus kostengünstigste Lösung wurde von den Behörden die Versenkung der Abfälle auf dem Fabrikgelände vorgeschlagen, ohne daß dabei die mittelfristige Umweltbelastung in Betracht gezogen wurde.21
Die eigentliche Auseinandersetzung um die „Flußverunreinigungsfrage“ begann in Deutschland in den späten siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Weiterführung der zwischen etwa 1860 und 1880 heftig diskutierten „Städtereinigungsfrage“. In den siebziger Jahren waren in Deutschland zwar nur einige kleinere Flüsse verschmutzt im Vergleich mit den Zuständen in England. Zu dieser Zeit sah man noch keine kurz- oder mittelfristige Gefahr, da die Industrialisierung viel weniger fortgeschritten und außerdem die deutschen Flüsse im allgemeinen als wasserreicher galten. Überlegungen bezüglich der Verantwortlichkeit der Industrie blieben lange unbeachtet. Dagegen schien die durch Fäkalien und organische Stoffe verursachten Flußverunreinigung als wichtiger erachtet worden zu sein.
Das Problem der Flußverunreinigung durch industrielle Abwässer war aber schon längst vorhanden. So konstatierte z.B. im Jahre 1876 eine von der preußischen Regierung genehmigte Schrift, daß die Wupper im Raum Barmen-Elberfeld durch die industriellen Abwässer „meistens einem Tintenstrom“ gleiche, was auch schon zehn Jahre zuvor zutraf. Wollte man aber der Industrie die Ableitung ihres Abwassers in den Fluß verbieten, hätte dies nach Ansicht des Staats eine schwere wirtschaftliche Krise zur Folge. Im folgenden Jahrzehnt versuchten die Staaten, die Flußverunreinigung in den Griff zu bekommen.22
Zu den größten Abwassereinleitern im Kölner Raum zählten die Farbenfabriken. 1896 erhielt das Unternehmen die Genehmigung für den Bau einer Abwasserrohrleitung unter der Bedingung, daß die Abwässer klar und neutral sein, also Spuren von Säuren gegebenenfalls neutralisiert werden mußten. Fünf Jahre später bekam Bayer eine weitere Einleitungskonzession, wobei es nun abgeschwächt hieß, daß das Wasser frei von schädlichen oder übelriechenden Beimengungen und möglichst rein sein müsse. Daß davon keine Rede sein konnte, hatte eine Untersuchung wenige Tage vor der Konzessionserteilung ergeben. Da die Abwässer stark sauer reagierten, durften sie eigentlich gar nicht in den Rhein eingeleitet werden.23
Die Unternehmensleitung versprach, eine Selbstkontrolle vorzunehmen, und so setzte man noch 1901 eine vierköpfige Abwasserkommission ein, die die erste derartige Einrichtung eines Chemieunternehmens in der Rheinprovinz war.24 Unter den Kommissionsmitgliedern war auch Curt Weigelt25, der der Vorsitzende der Abwasserkommission des „Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands“ war und der mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt wurde.
Kurz nach seiner Gründung 1878 betrieb der „Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands“ schon eine effektive Verbandsarbeit in Umweltfragen, da die chemische Industrie am stärksten und am frühesten der öffentlichen Kritik und massiver behördlicher Reglementierungsversuche ausgesetzt war. Bereits 1886 wählte man eine Flußkommission, 1889 legte man seine Position fest, und im darauffolgenden Jahr veröffentlichte man dazu eine Denkschrift, die von Konrad Wilhelm Jurich verfaßt worden war. Eine generelle Behandlung der Abwasserfragte sah man als eine Unmöglichkeit an. Die Einleitung der Fabrikabwässer in die Flüsse sei notwendig und berechtigt, da diese als die natürlichen Ableiter anzusehen seien. Dabei stützte man sich auf die These Max von Pettenkoffers, daß Flüsse eine Selbstreinigungskraft besaßen. Die Feststellung allgemeiner Grenzwerte für schädliche Bestandteile der Abwässer hielt man für nicht durchführbar. Die Kritik am Grenzwertkonzept konnte sich auf praktische Erfahrungen aus England stützen. Dort hätte die rigorose Durchsetzung der 1870 aufgestellten Grenzwert die weitere industrielle Entwicklung unmöglich gemacht. Die Entstehung epidemischer Krankheiten durch industrielle Abwässer sei zudem nicht nachgewiesen, womit auf die kommunalen Einleitungen angespielt wurde. Die Industrie erkenne ihre Verpflichtung an, nach wissenschaftlichen und praktischen Mitteln Verschmutzung zu vermeiden, gleichzeitig müßten aber die verschiedenen Interessen abgewogen werden.
1901 beschloß die Abwasser-Kommission, einen Sachverständigen zu berufen, der dem Verein bei der Regelung der Abwasserfrage den größtmöglichen Einfluß sichern sollte mittels wissenschaftlicher Argumente. Man sicherte sich der Dienste Weigelts, der zuvor Vorsitzender des „Deutschen Fischerei-Vereins“ gewesen war. Im Sinne der chemischen Industrie modifizierte er seine wissenschaftlichen Überzeugungen und vertrat nun das Prinzip der „Opferstrecke“ und das der Selbstreinigung der Flüsse, allerdings beruhte sein Standpunkt lediglich auf theoretischen Erwägungen.26
In dem Gutachten für die Farbenfabriken bestätigte Weigelt eine Verunreinigung des Rheins, die jedoch unvermeidlich sei und zudem außer Verhältnis zu der wirtschaftlichen Bedeutung des Werks Leverkusen für Kommune und Staat stünde. So könne eine vorwärtsstrebende Industrie, die bedacht sei, aus Gewinn- und Wettbewerbsinteressen die Kosten für die Abwasserreinigung so niedrig wie möglich zu halten, ohne staatliches Zugeständnis einer größeren Opferstrecke nicht auskommen.27 Nach Ansicht des Vorstandsmitglieds der Farbenfabriken, Carl Duisberg, waren deshalb technische Maßnahmen zur Abwasserreinigung „Vergeudung von Nationalkapital“. Er trat für die „Freiheit der fließenden Welle“ ein und forderte eine unbeschränkte industrielle Nutzung der Wasserläufe.28 Für flüssige Abfallstoffe der Industrie fanden sich keine entsprechenden Verwendungsmöglichkeiten. Es blieb ein zu beseitigender Rest, die aufzubringenden Kosten für eine Reinigung, wenn sie denn technisch möglich war, galten allgemein als „Ausgaben ohne Gegenleistung“.29
Die Unternehmensleitung teilte der zuständigen Behörde auf der Grundlage des Gutachtens mit, daß die Auflagen nicht erfüllt werden könnten. Zwei Jahre später erstellte Weigelt ein weiteres Gutachten, dessen Ergebnis war, daß die Entwicklung des „gewaltigen Werkes“ durch kleinliche Forderungen nach Reinigung der Abwässer nicht gestört werden dürfe, zumal der Schaden doch ohnehin nur minimal sei. Die Aufsichtsbehörden gaben daraufhin nach, der Düsseldorfer Regierungspräsident war beruhigt, daß Bayer sich des Ernstes der Lage bewußt sei, und der Oberpräsident der Rheinprovinz sah einen schwerwiegenden schädlichen Einfluß als nicht erwiesen an.
1908 stellte eine Untersuchungskommission, die aufgrund von Klagen des Oberfischereimeisters bei der Regierung und der Strombauverwaltung tätig geworden war, eine „dampfende, rötlich gefärbte Menge Abwasser“ unmittelbar am Ufer fest, die vom Werk Leverkusen in den Rhein geleitet wurde. Die Farbenfabriken verwiesen dagegen auf die Abwässer der Städte Köln und Mülheim, womit angedeutet wurde, daß man nicht der alleinige Rheinverschmutzer sei. Man benutzte das Argument, das nicht ganz von der Hand zu weisen war, um von sich selbst abzulenken.30 1901 hatte die Wasserbau-Inspektion der Rheinstrombauverwaltung in Koblenz rund 200 nicht-genehmigte Abwassereinleitungen allein auf der Rheinstrecke im Kölner Bezirk festgestellt. Daneben gab es zahlreiche Einleiter, die mit staatlicher Genehmigung den Rhein verschmutzten. Doch auch gegen die Verschmutzung durch Kommunen waren die Behörden letztlich machtlos.31
Die Firmenleitung stimmte mit dem Argument der wirtschaftlichen Bedeutung der Farbenfabriken und der chemischen Industrie allgemein in regionaler und nationaler Hinsicht uneingeschränkt überein. Die Tendenz einer solchen „Nationalisierung“ galt z.B. auch für die Elektroindustrie, was verhinderte, daß sich mit den Protesten inhaltlich auseinandergesetzt wurde. Daß Fabriken für das „öffentliche Wohl“ auch gesundheitsschädlich sein konnten, wurde nicht gesehen32. Nach Ansicht Duisbergs wurden die Schädlichkeiten der chemischen Industrie wesentlich überschätzt. So seien die Gesundheitsverhältnisse z.B. nicht schlechter als bei Krupp, doch sei die öffentliche Meinung eben geneigt, das Gegenteil anzunehmen. Duisberg führte sich selbst als Beweis für die Ungefährlichkeit der „Giftindustrie“ an, da er als Chemiker trotz zahlreicher Vergiftungen immer noch gesund sei. Das Restrisiko sei geringer als die freiwillig eingegangenen Gefahren des Alkohols und des Rauchens. Den Kritikern fehle aber jeglicher Sachverstand, über Giftigkeit der in den Betrieben verwendeten Stoffe zu urteilen.33
Zudem stellte Duisberg eine vielfach fehlende Achtung vor der Industrie und ihrem volkswirtschaftlichen Wert fest. Von Seiten der Farbenfabriken ging man davon aus, daß hinter den Einsprüchen und Protesten politische Motive stünden, obwohl solche nicht nachzuweisen sind. Doch kam die Kritik von den „Hauptgegner“ der chemischen Industrie, nämlich den traditionellen Eliten und der Sozialdemokratie. Dazu gehörten einerseits die Einsprüche des Freiherrn von Diergardt und andererseits die Berichte in der Arbeiterpresse, die das Werk Leverkusen immer wieder als „Gifthütte“ diffamierten, auch wenn es bei der Berichterstattung nicht um Umwelt- oder Gesundheitsschädigungen ging. Das Argument der Giftgefahr sei das „beste Mittel zur Schürung des Klassenkampfes“.34
Leicht geänderte Fassung der Seiten 35 bis 43 aus: Stefan Blaschke. Unternehmen und Gemeinde. Das Bayerwerk im Raum Leverkusen 1891-1914. Köln: SH-Verlag, 1999
Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Unveröffentlichte Quellen
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58/9.4, 58/9.4.1
Geschichte und Entwicklung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Elberfeld in den ersten 50 Jahren, München 1918
Stadtarchiv Leverkusen (STAL)
20.1667, 20.1806, 20.2226
Bergische Arbeiterstimme
2 Veröffentlichte Quellen
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Fußnoten
1 Evans, 1996, 153; Gilhaus, 1995, 2; Henneking, 1994, 7; Hüttenberger, 1992, 263.
Überblicke zum Umweltbegriff und zur historischen Umweltforschung: Andersen, 1993, 672-701; Andersen, 1996, 14-24; Brüggemeier, 1995, 7-15; Büschenfeld, 1997, 9-20; Gilhaus, 1995, 1-17; Hahn, 1998, 115-121; Henneking, 1994, 7-17; Ohmer, 1998, 9-32; Radkau, 1994, 11-28; Radkau, 1996, 119-136.
2 Gilhaus, 1995, 526; Simson, 1978, 370; Wengenroth, 1993, 27.
3 Brüggemeier, 1996, 140; Büschenfeld, 1998, 77; Evans, 1996, 154f, 166-171 und 235; Henneking, 1994, 33f.
4 Duisberg, 1923, 330f (Die Belehrung der Arbeiter über die Giftgefahren in gewerblichen Betrieben 1905); Gilhaus, 1995, 537; Hüttenberger, 1992, 268f.
5 Brüggemeier, 1996, 306.
6 Brüggemeier, 1996, 302.
7 Andersen, 1996, 261; Brüggemeier, 1996, 302-304; Gilhaus, 1995, 415 und 536; Hüttenberger, 1992, 266f.
8 Büschenfeld, 1998, 77; Hüttenberger, 1992, 268f.
9 Henneking, 1994, 284.
10 Spelsberg, 1990, 46-55. Henneking kennt diese Fälle nicht.
11 Henneking, 1994, 284-301; Verg, 1988, 30.
12 Zur zeitlichen, aber auch fachlichen Überforderung der Behörden siehe auch: Ohmer, 1998, 515.
13 Henneking, 1994, 301f.
14 Henneking, 1994, 302f.
15 Henneking, 1994, 302-304.
16 STAL 20.2226: Diergardt an Bürgermeister Keunen vom 11.11.1895, Niederschrift der Verhandlungen auf dem Bürgermeisteramt vom 19.11.1895 (Auch: STAL 20.1667).
17 STAL 20.1806: Oberbürgermeister von Köln an Bürgermeisteramt vom 8.4.1899; Henneking, 1994, 304f.
18 Paul, 1992, 121-127.
19 Andersen, 1996, 249 und 253.
20 Z.B. Pollay, 1952, 166. Nach Blum, 1991, 11, tat sich die chemische Industrie mit der Umweltdiskussion in den achtziger Jahren sehr schwer, da sie an Kritik und öffentlichen Diskussionen nicht gewohnt gewesen sei. Die Umweltklagen seit Beginn der chemischen Industrie werden nicht gesehen.
21 Paul, 1991, 386f.
22 Andersen, 1996, 262f; Simson, 1978, 373-376, 381f und 387f.
23 Paul, 1991, 387f.
24 Henneking, 1994, 305. Zur Abwasser-Kommission: Verg, 1988, 146-149.
25 Zu Weigelt: Büschenfeld, 1998, 94 (Anm. 51).
26 Andersen, 1996, 268-276 und 282-286; Büschenfeld, 1997, 67 und 148f; Büschenfeld, 1998, 102-104; Gilhaus, 1995, 438-442. Zu Grenzwerten allgemein: Büschenfeld, 1998, 83-105.
27 BAL 58/9.4; Paul, 1991, 388-390.
28 Büschenfeld, 1998, 124.
29 BAL 58/9.4.1; Paul, 1991, 389f.
30 Paul, 1991, 386 und 389f.
31 Andersen, 1996, 286; Büschenfeld, 1997, 411f.
32 BAL 58/9.4: Vorläufiger Bericht über die Abwässer in Leverkusen vom 18.5.1902 (Weigelt), siehe Randbemerkungen. Allgemein: Henneking, 1994, 413; Ohmer, 1998, 179. Siehe auch Argumentation Krupps in einem Umweltkonflikt: Ohmer, 1998, 171f.
33 BAL: Geschichte und Entwicklung, 1918, 564 und 643; Duisberg, 1923, 326 (Die Belehrung der Arbeiter über die Giftgefahren in gewerblichen Betrieben 1905); Andersen, 1996, 377f.
34 Duisberg, 1923, 215 (Der chemische Unterricht an der Schule und der Hochschulunterricht für die Lehrer der Chemie 1906); Duisberg, 1923, 330 (Die Belehrung der Arbeiter über die Giftgefahren in gewerblichen Betrieben 1905); Henneking, 1994, 413.
Henneking kennt keine politische Motivierung der Proteste, Gilhaus, 1995, 456-468, zählt zu der Gruppe der „politischen Motivierten“ die adligen Großgrundbesitzer, deren bürgerlichen Rechtsnachfolger und auch den Landadel.
Beispiele für Berichte in der Arbeiterpresse: Bergische Arbeiterstimme vom 10.6.1903, 19.8.1908, 24.7.1909, 14.3.1911 und 30.8.1913 (STAL). Zu den Kontroversen zwischen der chemischen Industrie und der Arbeiterbewegung um den Grad der Gefährdung zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe auch: Andersen, 1996, 369-381.