Dritter und vierter Wahlgang in Rom. Neuer Hase aus dem Hut: Romano Prodi. Livestream aus der Wahlversammlung und Liveticker.
Während die Weltöffentlichkeit durch Attentate in Boston ohne Bekennerschreiben und im Nebel einer Dekade des Krieges liegenden Motiv abgelenkt werden soll, spielt sich vor dem G20-Gipfel in Washington in der Republik mit der achtgrößten Wirtschaftskraft auf dem Planeten ein präzedenzloses Drama um die Wahl des mächtigsten Mannes im Staate ab. Eine kurze Zusammenfassung des gestrigen Tages, der nachfolgenden Ereignisse der Dämmerung in Rom und ein aktualisierter Ticker zum heutigen dritten und vierten Wahlgang der Präsidentenwahl in Italien; mit Livestream aus der Abgeordnetenkammer, aber vor allem – mit völlig offenem Ausgang.
Freitag, 11.00 Uhr
Gestern scheiterte in Rom die Wahl von Franco Marini. Vor allem aber scheiterte Pier Luigi Bersani. Viele Abgeordneten seiner Partito Democratico („Demokratische Partei“) P.D. verweigerten Marini, dessen Kandidatur Bersani zusammen mit Silvio Berlusconi und seiner Partei Popolo della Liberta („Volk der Freiheit“) P.d.L ausgeheckt hatte, als Vertreter des alten Establishments aus Camorra-Zeiten ihre Stimmen. Während die Gefolgsleute des innerparteilichen Konkurrenten von Bersani, des Finanzextremisten und Marktradikalen Matteo Renzi, versuchten diese Rebellion für sich zu nutzen und in Anspruch zu nehmen, zerbrach vor allem auch die Einheitsfront der P.D.- Parteienliste “Italia. Bene Comune”. Die Sinistra Ecologia Libertà (“Linke Ökologie Freiheit”) weigerte sich für den vom Listenpartner P.D. nominierten Marini zu stimmen und votierte offensichtlich und erklärtermaßen in der geheimen Wahl für den Kandidaten der Fünf Sterne Bewegung, den Anwalt für Verfassungsrecht und ehemaligen Vizepräsidenten des Senats Stefano Rodota.
So scheiterte der Präsidentschaftskandidat Franco Marini im ersten Wahlgang, obwohl er von den Leitungen zweier Parteien nominiert worden war (Bersanis P.D. und Berlusconis P.d.L.), die über weit mehr als die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit unter den 1007 Wahlberechtigten der Versammlung verfügen. Und nicht nur dass Marini die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit von 673 Stimmen verfehlte; der P.D.-P.d.L.-Kandidat kam mit 521 Stimmen gerade noch über die absolute Mehrheit (504 Stimmen).
Und das war nur der erste Wahlgang. Was dann folgte, war ebenfalls beispiellos und eine Blamage, die noch lange wirken wird. Vor der sich abzeichnenden weiteren, vielleicht noch schlimmeren Katastophe im zweiten Wahlgang versuchte Bersani den eigenen Kandidaten Marini zum Rückzug zu bewegen. Der aber weigerte sich. Was passierte dann? Sowohl Bersanis P.D., als auch Berlusconis P.d.L., sabotierten den eigenen Kandidaten Marini, indem sie leere Stimmzettel abgaben. Wie der „Guardian“ amused vermerkte, gaben in dem zur Farce geronnenen zweiten Wahlgang zur Präsidentenwahl von Italien Abgeordnete u.a. Stimmen für den Pornoschauspieler Rocco Siffredi, die Schauspielerin Sophia Loren und den Manager der Fussballmannschaft von Manchester City Roberto Mancini ab (ich hörte im Livestream einmal ein „Giovanni Trapattoni“ vom Podium).
Aber das war noch lang nicht alles. Jetzt ging die Vorstellung, die Farce, die Schmierenkomödie, das Drama der italienischen Präsidentenwahl in Wendezeiten erst richtig los.
Nach dem Volldebakel der ersten zwei Wahlgänge stellte sich Bersani kurz vor 19.00 Uhr in Rom vor die Presse und erzählte, es werde schon alles gut. Man werde schon „eine Lösung finden“. Konkret: einen neuen Präsidentschaftskandidaten. Vorsichtshalber „bat“ er (bei wem denn?) um eine Pause von mehreren Stunden zwischen drittem und viertem Wahlgang (!?), um den vierten Wahlgang – in dem nur noch die absolute Mehrheit notwendig ist – irgendwann mitten in der Nacht zum Samstag über die Bühne bringen zu können.
Aber damit immer noch nicht genug der Vorstellung. Vorsichtshalber setzte Bersani gleich für heute morgen eine Probeabstimmung der stimmberechtigten P.D.-Vertreter für seinen neuen aus dem Euro-Hut gezogenen Notnagel an. Eine Probeabstimmung der Vertreter in der Versammlung zur Wahl des Präsidenten von Italien für einen Kandidaten, von dem die scheintoten Wahlautomaten der P.D. gnädigerweise ein paar Minuten vorher erfahren durften. Unfassbar.
Aber damit immer noch nicht genug. Wie ich gestern schrieb, vermeldete in Deutschland ein Reporter des in Wurfweite vom Kanzleramt geparkten Staatssenders ARD, es gäbe in Rom „Gerüchte“, der neue Hase aus dem Hut könnte Romano Prodi sein.
Und sehet her, sehet her, was uns die ehrenwerten Nachrichtenorgane heute Morgen beschert haben.
Mit der Nominierung Romano Prodis vollzieht Bersani – mutmaßlich unter dem Druck seines innerparteilichen Konkurrenten Renzi, der Euro-Gilde und des internationalen Kapitalismus-Kartells – einen Schwenk um 180 Grad (jedenfalls was die Längsachse angeht, sein für die Republik anvisierter Kurs geht weiter steil nach unten unter die Knute des Euro-Kapitalismus). Bersani kündigt das temporäre Bündnis mit Berlusconi auf, stößt diesen vor den Kopf und verlässt sich bei der Wahl Prodis offensichtlich auf die Parteienliste Mario Montis (ein Bündnis von Bersani und Monti, die am Montag verhandelt hatten, war vor wenigen Tagen noch meine Mutmaßung gewesen.)
Wenn der alte Kader Bersani diesmal seine P.D.-Schäfchen unter Kontrolle hat – und Renzi wird ihm beim Kandidaten Prodi garantiert keine Schwierigkeiten machen – könnte Prodi mit den Stimmen der Monti-Liste im vierten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen und damit zum Präsidenten gewählt werden.
Eins ist sicher: die Präsidentenwahl in Italien bleibt spannend bis zum Schluss.
11.15 Uhr
Gucke da, geht schon los. Dritter Wahlgang läuft. Es erklingt die Stimme von Laura Boldrini, die die Namen der 1007 stimmberechtigten Abgeordneten, Senatoren und Vertreter der Regionen nun zum dritten Mal nacheinander vorliest.
13.15 Uhr
Der dritte Wahlgang ist vorbei, die Stimmen werden ausgezählt und der Inhalt jedes einzelnen laut vorgelesen. Wieder sind sehr viele leere Stimmzettel darunter. Dann erklingt ein (zunehmend müder werdendes) „bianca“ (weiß) vom Podium.
13.30 Uhr
In der Informationsindustrie in Deutschland herrscht offenkundig Verwirrung. Im „Focus“ kann man Witziges lesen. Romano Prodi könne im vierten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt werden – er brauche nur mal eben die Stimmen der Fünf Sterne Bewegung.
Beppe Grillo vor wenigen Minuten per Twitter: „Unser Präsident der Republik ist Seignor Stefano Rodota.“
Für all die geschätzten Leserinnen und Leser, die nicht aus beruflichen Gründen hier lesen müssen um zu verstehen was passiert: die Abgeordneten und Senatoren aus den verschiedenen Parteien der Listen-Koalition „Italia. Bene Comune“, die von Bersanis P.D. angeführt wird, haben zusammen mit denen der Monti-Liste 534 Stimmen. Die absolute Mehrheit in der 1007 Stimmberechtigte zählenden Wahlversammlung – 630 Abgeordnete, 319 Senatoren und 58 Vertreter aus den Regionen – liegt bei 504 Stimmen.
D.h.: Der ex-Präsident der E.U.-Kommission Romano Prodi könnte von Bersanis und Montis Gefolgsleuten und Listen-Koalitions-Parteien im vierten Wahlgang zum Präsidenten gewählt werden – wenn alle Abgeordneten und Senatoren aus den verschiedenen Parteien der Listenverbindungen gehorchen.
Das aber erscheint manchen offensichtlich manchen so unsicher, dass sie schon anfangen nach der Fünf Sterne Bewegung zu schreien.
Ich bin amused.
Für alle Euro-Illusionisten: sagt schon mal hallo zum Erdboden. Ihr seht ihn ja schon. Und huiiii, wie der näher kommt…
13.40 Uhr
Die komplizierten Bedingungen des irrwitzigen, von Berlusconi eingeführten Wahlrechts und die daraus resultierende Zusammensetzung der machtentscheidenden Listen-Koalitionen verschiedener Parteien habe ich im Ticker zu den Parlamentswahlen am 24. / 25. Februar beschrieben.
Wichtig ist hier in diesem historischen Machtpoker, bei dem die gesamte Macht des weltweiten Kapitalismus-Kartells und seiner Finanzimperialisten speziell in Berlin auf dem Spiel steht, zu begreifen: die MoVimento 5 Stelle (Fünf Sterne Bewegung) ist eine Partei. Eine Partei. Eine Partei. Kein Kaderhaufen, kein Leichenwagen mit toten Taktikern, Zombies die Wahrheit statt Blut saufen und abscheulichen, schandhaften Seelen-, Demokratie-, Teppich-, ach, Allesverkäufern deren größter Spaß und höchste Ehre es ebenso angeblichen Verbündeten und Freunden oder Wählerinnen und Wählern ins Gesicht zu lügen. Die M5S ist eine echte Partei. Sie hat sich, im Windschatten von Samson Beppe, der statt einem Eselsschädel ein Laptop und sich selbst auf die Bühne geschwungen hat, demokratisch aufgestellt und dabei das italienische Wahlrecht frontal angegriffen wie ein Rammbock: Keine Bündnisse, keine Listen, kein Schnabbeldidu und hach-ist-das-alles-interessant-Herr-Hurenbock-sowieso, sondern nach vorne, aus dem Weg ihr Leichen, jetzt kommen wir.
Solche Leute brauchen im Parlament natürlich nichts zu fürchen. Stattdessen fürchten sich alle anderen.
Ende der Auszählung des dritten Wahlgangs. Es folgt, ganz ohne Zweifel, der vierte. Nur wann, das ist nun die Frage…
13.55 Uhr
Ergebnis verkündet, kein Präsidentschaftksandidat hat die Zwei-Drittel-Mehrheit, Sitzung unterbrochen.
Hinter den Kulissen beginnt jetzt das Feilschen der Allesverkäufer.
Ach übrigens: Prodi ist derzeit Sonderbeauftragter der Organisation der Vereinten Nationen U.N.O. – für die Sahelzone. Aber er werde natürlich so schnell wie möglich wieder nach Italien kommen, ließ er wissen.
14.50 Uhr
Großartig.
Jetzt sind in der P.D. die Anhänger vom fallengelassenen Marini und des nicht zum Zuge gekommenen Massimo D´Alema empört und drohen ihrerseits nun Prodi nicht zu wählen.
Auf der Webseite der „repubblica.it“ finden sich die Wahlergebnisse aller drei Durchgänge. Es wird klar, dass auch im dritten Wahlgang die Mehrheit der Vertreter von P.D. und P.d.L. leere Stimmzettel abgegeben haben, um eine weitere Niederlage zu vermeiden und sich in den vierten Wahlgang zu retten, in dem nur mehr die absolute Mehrheit notwendig ist. Der Kandidat der Fünf Sterne Bewegung (M5S), Stefano Rodota, konnte leicht zulegen auf 250 Stimmen. Bekommt er allerdings keine weitere Unterstützung von einer Listen-Partei oder Fraktion, bleibt er aussichtslos. Das heißt wiederum nicht, dass ein anderer Kandidat, namentlich Prodi, in dieser Situation derzeit eine absolute Mehrheit hinter sich hat.
15.35 Uhr
Der vierte Wahlgang hat begonnen. Abermals werden die Namen aller 1007 Stimmberechtigten nacheinander aufgerufen.
Dieser urdemokratische Wahlvorgang, mit einer geheimen Abstimmung, lässt bei mir die Frage aufkommen – wann wurde eigentlich das letzte Mal im Bundestag geheim abgestimmt?
15.45 Uhr
Ein weiterer Knüller: Wie die italienische Nachrichtenagentur „Ansa“ berichtet, werden die Abgeordneten, Senatoren und Regionalvertreter von Berlusconis P.d.L. am 4. Wahlgang „nicht teilnehmen“.
Offensichtlich heißt das, die P.d.L.-Vertreter werden leere Stimmzettel abgeben. Damit scheiden diese als Mehrheitsbeschaffer für Prodi definitiv aus. Die MoVimento 5 Stelle (M5S, Fünf Sterne Bewegung) wiederum bleibt bei ihrem Kandidaten Stefano Rodota.
Nun wird sich zeigen, ob die Vertreter von P.d.L, deren Listen-Koalitions-Parteien und die der Liste von Mario Monti geschlossen für Romano Prodis stimmen.
15.48 Uhr
Aufruhr im Saal, unklar warum.
Unterbrechung.
Dann geht die Wahl geht weiter, die Namen der Stimmberechtigten werden vom Podium wieder aufgerufen.
16.00 Uhr
Langsam dämmert es den Medienwindmühlen des Kapitalismus, dass es nun sie sind, die den Helm aufhaben.
Wie „Bloomberg“ von P.D.-Insidern erfahren hat, werden Bersani und seinem Kandidaten Prodi bis zu 60 Abgeordnete die „Gefolgschaft“ verweigern, wie der Traditionsdemokrat in Deutschland zu sagen pflegt.
Soll heißen: Prodis Wahl steht auf Messers Schneide.
16.14 Uhr
Wie beschrieben besteht die Wahlversammlung aus den Abgeordneten der Kammer, den Senatoren (also beiden Parlamentskammern) und 58 Vertretern der Regionen. Ich lese nun gerade, dass die Fünf Sterne Bewegung insgesamt 162 Stimmberechtigte hat.
16.25 Uhr
Beppe Grillo fragt (wie immer auf seiner Seite, die Presse zitiert nur), warum Bersani den Kandidaten der Fünf Sterne Bewegung, den langjährigen Linken und Anwalt für Verfassungsrecht Stefano Rodota, nicht ex-E.U.-Kommissionspräsident Prodi vorzieht.
„Ich krieg es nicht in den Kopf warum (Bersanis) Partei nicht für Rodota stimmt. Ist er zu intellektuell? Zu unabhängig? Zu ehrlich? Zu populär…zu unkorrumpierbar? Ich möchte eine Antwort von Bersani.“
17.10 Uhr
So manche Leute heute werden von Tagträumen geplagt. So auch Silvio Berlusconi. Er kündigt schon mal an, bei Neuwahlen wieder für das Amt des Premierministers zu kandidieren.
Wer die Republik Italien und ihre Verfassung im Kern nicht kennt, hier eine kurze Erklärung: der Premierminister wird vom Präsidenten ernannt. Dann erst muss er sich in beiden Parlamentskammern einer Vertrauensabstimmung stellen.
Bevor aber Neuwahlen ausgerufen werden können, muss erst einmal das Parlament aufgelöst werden was da ist. Und das kann nur der Präsident. Und wer wird gerade gewählt, im vierten Wahlgang? Oder vielleicht nicht gewählt? Und dem alten Präsidenten Giorgio Napolitano, dessen Amtszeit am 15. Mai endet, ist es verboten in den letzten sechs Monaten seiner Amtszeit das Parlament aufzulösen.
Was Berlusconi also sagen wollte war: Ich bin unglaublich wichtig. Lassen wir das mal so stehen, vielleicht etwas weiter hinten.
Der vierte Wahlgang läuft. Noch sind nicht alle Stimmberechtigten aufgerufen.
18.20 Uhr
Der vierte Wahlgang ist bald zuende, dann erfolgt – wie wir bereits dreimal mitverfolgt haben – die Auszählung der Stimmen.
18.22 Uhr
Die Auszählung beginnt. Zum vierten Mal liest die Präsidentin der Abgeordnetenkammer und Leiterin der Wahlversammlung Laura Boldrini jeden einzelnen Stimmzettel vor. Boldrini ist für mich die Gewinnerin dieser Wahl, egal wie sie ausgeht. Diese Stimme könnte einen Pitbull in den Schlaf wiegen.
Doch die Spannung steigt. Wird der ehemalige Präsident der E.U.-Kommission Romano Prodi gleich der Präsident von Italien sein?
18.54 Uhr
Die Auszählung ist vorbei. Gleich wird das Ergebnis bekannt gegeben.
19.02 Uhr
Das Ergebnis wird verkündet. Kein Beifall. Sekunde…
Prodi hat offenbar nicht die absolute Mehrheit erreicht. Ich suche nach einer Bestätigung.
Bestätigt: Auch Prodi ist gescheitert. Er erhielt 395 Stimmen. Auch im vierten Wahlgang ist kein Präsident gewählt worden.
Das ist in der Geschichte der italienischen Republik ohne Beispiel. Ein Umbruch. Die Folgen sind noch nicht abzusehen.
Wir beenden für heute den Ticker. Morgen am Samstag lesen wir uns wieder, mit der Zusammenfassung des heutigen Freitag Abend und einem Ausblick auf 5. Wahlgang.
Grazie. ^^