„Antiterrordatei“: Morgen verlieren Militärs, Spione und Polizei weltweit eine Daten-Tauschbörse

Morgen verkündet das Bundesverfassungsgericht, schon sechseinhalb Jahren nach Inkrafttreten der beklagten Vollmachten von Militär, Polizei und Geheimdiensten, sein Urteil zur am 1. Dezember 2006 durch den Bundestag beschlossenen gemeinsamen „Antiterrordatei“ von Bundeskriminalamt B.K.A., Bundespolizeipräsidium, den 16 Landeskriminalämtern, den 16 Landesämtern des Inlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz, dem Bundesamt für Verfassungsschutz,  dem Militärgeheimdienst Militärischer Abschirmdienst M.A.D., dem Auslandsgeheimdienst Bundesnachrichtendienst B.N.D., dem Finanzgeheimdienst Zollkriminalamt Z.K.A., sowie weiterer Polizeivollzugsbehörden.

Das am 1. Dezember 2006 durch den Bundestag, maßgeblich nach Vorgabe des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble und seines damaligen Staatssekretärs und ex-B.N.D.-Präsidenten August Hanning, beschlossene „Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien-Gesetz)“ hatte gleiche mehrere Wirkungen. Erstens beinhaltete es das heute gültige und am 26. Februar 2008 hinsichtlich der Polizei ergänzte „Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern“. Zweitens, drittens und viertens änderte es außerdem noch das Bundesverfassungsschutzgesetz, das Gesetz über den Bundesnachrichtendienst („BND-Gesetz“) und das Bundeskriminalamtgesetz. Es schränkt zwei Grundrechte ein, Artikel 10 und Artikel 13 des Grundgesetzes.

Die Attentate des 11. Septembers 2001 warfen immer noch ihren Schatten. Die Welt befand sich im unerklärten Krieg „gegen den Terror“. Krieg und Schrecken (lat.: terror) hatten schon immer zusammengehört. Aber noch waren sie als Unterschiedlichkeit definiert worden und hatten aus dieser fatalen Definition heraus eine solche Dialektik und Dynamik, einen perpetuitiven Krieg entwickelt.

Die Gesetzgebung zur „Antiterrordatei“ wurde initiiert nach einer Abfolge von Ereignissen:

– Attentaten auf Nahverkehrszüge im indischen Mumbai am 11. Juli 2006
– dem keine 24 Stunden später (und kurz vor dem der G8-Gipfel in Moskau)  erfolgten Einmarsch israelischer Bodentruppen in den Libanon, dem Granantenbeschuss der syrischen Grenze durch israelische Truppen und laut israelischen Pressemeldungen ein 72-Stunden-Ultimatum der israelischen Regierung an Syrien folgte
– umgehend aus Israel erhobenen Forderungen nach deutschen Bodentruppen im Libanon, mit Kampfauftrag
– einer massiven Medienkampagne ultrarechter Neokonservativer aus den U.S.A., welche die Invasionen und Besatzungskriege im Irak und Afghanistan, die Attentate in Bombay und mutmaßliche Bedrohungen aus dem Iran und Nordkorea in einen Zusammenhang setzten und von einem „Weltkrieg“ sprachen
ominöse Funden von zwei „Kofferbomben“ in Nahverkehrszügen bei Dortmund und Koblenz am 31. Juli / 1. August 2006.

Beim Einmarsch der israelischen Truppen in den Libanon starb u.a. ein chinesischer Soldat durch israelischem Beschuss eines U.N.O.-Stützpunkts. Nach einem längeren Tauziehen in der Bundesrepublik wurden schließlich keine deutschen Bodentruppen, sondern Marinestreitkräfte der Bundeswehr vor Libanon und Syrien stationiert. Sie sind heute noch dort.

Das Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages vom 1. Dezember 2006 macht nun deutlich, welcher Schrecken-Krieg-Dynamik die deutsche Gesellschaft damals ausgesetzt war und welcher zusätzliche Mechanismus durch die „Antiterrordatei“ aktiviert wurde.

Wie der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland (Bündnis90/Die Grünen) ausführte, befanden sich zum damaligen Zeitpunkt allein in der „nachrichtendienstlichen Verbunddatei“ NADIS 1.034.514 „personenbezogene Einträge“ und in der Datei „Innere Sicherheit“ des Bundeskriminalamtes 1.451.605 Datensätze. Auszüge der Rede von MdB Wieland am 1. Dezember 2006 im Bundestag:

„Sie schlagen nun nicht etwa vor – was logisch wäre –, dass wir diese Datenberge zunächst einmal entrümpeln und überprüfen, anschließend entscheiden, welche Daten in die Datei aufgenommen werden, und sie dann zusammenfügen.  Stattdessen  wählen  Sie  ein  Verfahren,  das eine gesetzliche Verpflichtung vorsieht: Es soll gespeichert werden, ohne dass zuvor eine Prüfung des Altbestandes stattgefunden hat..

 Wir  sagen:  Angesichts  dessen,  dass  diese  Datei, über deren Einführung wir jahrelang diskutiert haben, eine absolut stigmatisierende Wirkung haben wird – das ist gar nicht anders möglich; wer dort drinsteht, wird als Terrorist gelten –, sollte man sich sehr genau überlegen, wen man in die Datei aufnimmt. Das tun Sie nicht. Sie  definieren  noch  nicht  einmal  entsprechende  Kriterien..

Auch  zu  den  Kontaktpersonen  möchte  ich  Ihnen gerne  etwas  sagen.  Ihr  Versuch  der  Einschränkung  ist untauglich. Die Definition, die Sie zugrunde legen wollen, umfasst das gesamte soziale Umfeld, sofern es dauerhaft ist. Die Ärztin, der Arzt, die Familienangehörigen, die Anwältin und der Anwalt – für alle besteht das Risiko, in diese Datei aufgenommen zu werden..

 Eine  Kontaktperson  kann  also  der Ehepartner sein, jeder, der nur nicht zufällig Kontakt zu ihr hat, zum Beispiel auch eine Anwältin oder ein Anwalt, mit dem die Person in Geschäftsbeziehung steht. Weil es hier um nachrichtendienstliche Daten geht, sind wir uns
doch wohl einig, dass auch viele undolose – wie Sie im Ausschuss sagten –, also absichtslose Kontaktpersonen dort gespeichert sind. Gerade das Wissen eines Anwaltes ist sehr interessant für nachrichtendienstliche Kreise...

Es  genügt,  dass  die  Behörden  sich  vorstellen,  dass  sie über die Kontaktpersonen in ihren Ermittlungen weiterkommen. Es steht nicht drin, dass die Kontaktperson irgendetwas wissen muss davon, dass der Hauptverdächtige  in  Terrorismus  involviert  ist.  Diese  Verbindung haben Sie nicht gewählt. Wir haben Ihnen eine entsprechende  Formulierung  vorgeschlagen.  Aber,  Kollege Binninger, Sie waren ja wenigstens so ehrlich, zu sagen, dass Sie die noch nicht einmal gelesen haben.

 Natürlich hätten  wir  als  Gesetzgeber  –  da  hat  die  Kollegin  Piltz doch völlig Recht – definieren müssen, wer da rein darf und  wer  mitmischen  darf  bei  dieser  Datei.  Dies  geschieht nicht. Das überlässt man dem ehrenwerten Herrn Schäuble. In seinem Benehmen liegt es, zu sagen, ob die Polizeidienststelle im schwäbisch-alemannischen Raum, in Lörrach oder wo auch immer, ebenfalls Zugriff auf die Datei hat. Das kann nicht befriedigend sein. Genauso wenig befriedigend ist es, dass es für denjenigen, dessen Daten in dieser Datei gespeichert wurden, keine Möglichkeit gibt, seine Daten löschen zu lassen. Vor allen Dingen aber haben Sie unseren Vorschlag verworfen, dass nichts aus dieser Datei an unbefugte Stellen – insbesondere im Ausland – fließen darf. Gerade nach den Erfahrungen im Fall el-Masri und in anderen Fällen wäre aber eine solche gesetzliche Sperre genauso dringend  nötig  gewesen  wie  eine  Klausel  hinsichtlich  des Verbots der Verwertung von unter Folter erlangten Daten, die die FDP vorgeschlagen hat.

(Beifall bei Bündnis 90/Die Grünen und bei der FDP)

Das alles hätte diesem Hause gut zu Gesicht gestanden und die Umsetzung der praktischen Erfahrungen und der Erlebnisse des vergangenen Jahres bedeutet.  In  einem  geradezu  gottvollen  Entschließungsantrag appellieren Sie nun an die Bundesregierung, doch endlich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Telekommunikationsüberwachung umzusetzen. Warum haben Sie  das  nicht  selbst  in  Ihren  Gesetzentwurf  für  ein Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz  eingearbeitet? Dies ist nicht nur ein Wortungeheuer, sondern auch ein Monstrum an sich und ein Etikettenschwindel: Mit
diesem  Gesetz  wird  die  Terrorismusbekämpfung  nicht ergänzt;  vielmehr  gibt  man  sämtlichen  Nachrichtendiensten  alle  Instrumente,  die  zur Terrorismusbekämpfung entwickelt wurden, für die ganz normalen nachrichtendienstlichen  Felder,  den  Kampf  gegen  den  Rechts- und  den  Linksextremismus,  an  die  Hand.  Das  hat  mit Evaluierung nichts zu tun und das hat auch damit nichts zu tun, dass es nötig ist, gegen den Terror vorzugehen. Sie wollen die Möglichkeiten einfach nur ausdehnen und die staatlichen Befugnisse ins Uferlose wachsen lassen.

Morgen nun, sechseinhalb Jahre nachdem diese Worte im Bundestag tatsächlich gesprochen und nicht zu Protokoll gegen wurden, wird um 10.00 Uhr das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die „Antiterrordatei“ zu Protokoll geben.

Aber was sind schon sechseinhalb Jahre? Wir leben doch lange genug um erst ganz andere Seiten und dann ganz andere Zeiten aufzuziehen.

Nicht wahr?

(…)

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