Einlassung von Dieter Reicherter, ehem. Vorsitzender Strafrichter des Landgerichts Stuttgart und Mitglied der Juristen zu S21, zur Überwachung der Bürgerbewegung gegen das urbane Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21) durch Polizei und Geheimdienste. Der Artikel erschien bereits in der Online-Zeitung Bei Abriss Aufstand.
Schon mehrfach habe ich mich mit dem „Rahmenbefehl Nr. 2“ des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 20.12.2011 befasst. Dieser schließt nahtlos an den von der früheren schwarz-gelben Landesregierung erlassenen Rahmenbefehl Nr. 1 vom 19.7.2010 an. Nach dem Motto „Politik des Gehörtwerdens“ der grün-toten Regierung wurde vom Landespolizeipräsidium unter Innenminister Gall (SPD) unter anderem angeordnet:
„Das Landeskriminalamt erstellt unter Einbeziehung der Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz, des Polizeipräsidiums Stuttgart, der Landespolizeidirektionen sowie der Sicherheitsbehörden des Bundes ein Gesamtgefährdungslagebild zum Bauprojekt „Stuttgart 21“, insbesondere hinsichtlich entsprechender Versammlungen und Protestformen, relevanter Veranstaltungen, potentieller Störer sowie gefährdeter Personen und Objekte.“
Hierzu wird alle drei Wochen ein Gefährdungslagebild erstellt, das sich insbesondere mit der Gefährlichkeit von Parkgottesdiensten und nichtöffentlichen Treffen einzelner Gruppen der Protestbewegung befasst.
Die Existenz des Rahmenbefehls Nr. 2, der das Licht der Öffentlichkeit scheut und deshalb als Verschlusssache eingestuft wurde, und die dort getroffenen Regelungen habe ich bereits am 24.2.2012, also vor mehr als einem Jahr, öffentlich gemacht (Anm.d.Red.: Radio Utopie berichtete). Die daraus erwachsene Diskussion führte immerhin zu kritischen Stellungnahmen mehrerer Landtagsabgeordneter der Fraktion Die Grünen und zu einer einstimmig verabschiedeten Resolution der Kreismitgliederversammlung Stuttgart der Grünen vom 7.2.2013, in der die Aufhebung des Rahmenbefehls gefordert wird.
Leider ist bislang aber nichts geschehen. Der Rahmenbefehl Nr. 2 ist weiterhin in Kraft und bindet unnötig Personal von Polizei und Verfassungsschutz durch die Bespitzelung des friedlichen Widerstands gegen Stuttgart 21. Dabei würde dieses Personal dringend zur Bekämpfung des Rechtsterrorismus benötigt.
Wozu die lückenlose Erfassung der Widerstandsbewegung führt, zeigen die Ermittlungen zur sogenannten Erstürmung des Grundwassermanagements vom 20.6.2011. Bei jenem Geschehen wurde durch die Polizeikräfte, die Straftaten nicht verhinderten, eine umfangreiche Dokumentation der auf dem Gelände anwesenden Personen erstellt. Mit den so gewonnenen Fotos wurden z.B. Internetrecherchen bei Facebook durchgeführt, um Verdächtige zu ermitteln. Außerdem wurden Lichtbilder von Personen, welche von diesen im Internet auf entsprechenden S 21-Seiten – teils mit Vornamen und Nachnamen versehen – eingestellt wurden, erhoben und mit den Fotos vom 20.6.2011 verglichen. Dieses Vorgehen zeigt, dass – worauf ich immer wieder hinweise – Veröffentlichungen der Widerstandsbewegung systematisch ausgewertet und die dabei gewonnenen Daten für Ermittlungszwecke verwendet werden. Diese Kontrolle und Erfassung sollte jedem, der sich ins Internet begibt, klar sein.
Kleines Beispiel: Meine Mail „Bespitzelt der Verfassungsschutz Parkgebete“ wurde am 24.2.2012 auf BAA veröffentlicht. Bereits am 24.2.2012 um 15.21 Uhr leitete der S 21 – Führungs- und Einsatzstab dazu Ermittlungen wegen des Verdachts des Geheimnisverrats durch einen Unbekannten ein, die später zu einer Hausdurchsuchung bei mir führten.
Zum aktuellen Stand der Bemühungen um die Aufhebung des Rahmenbefehls hat mir Hans-Ulrich Sckerl, Parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion der Grünen, am 14.4.2013 mitgeteilt:
„Beim Rahmenbefehl sind wir in koalitionären Gesprächen, die noch nicht abgeschlossen sind. Hier unterrichte ich Sie gerne, wenn es ein Ergebnis gibt.“
Seitdem habe ich nichts mehr gehört.
Auf Nachfrage hat mir Klaus Amler vom Kreisvorstand der Grünen ergänzend mitgeteilt, dass derzeit Gespräche geführt würden, „ob Gall über eine Aufhebung des Rahmenbefehls reden will.“
Offenbar will er nicht und die Landesregierung einschließlich des Ministerpräsidenten lässt ihn weiter gewähren.
Übrigens hat der damalige Innenminister Rech – als Zeuge unter Wahrheitspflicht stehend – im Dezember 2010 bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags zum Polizeieinsatz vom 30.9.2010 behauptet, verdeckte Ermittlungen der Sicherheitsbehörden bei Stuttgart 21 richteten sich nur gegen Extremisten, nicht gegen den bürgerlichen Widerstand.
Wenn diese Aussage wahrheitsgemäß war, hat sich dies unter grün-rot dramatisch geändert.