Die Rede von Martin Poguntke, TheologInnen gegen Stuttgart 21, auf der heutigen 190. Stuttgarter Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen das Städtebauprojekt „Stuttgart 21“ (S21). Die Rede trägt den Titel „Der Protest geht weiter“
Liebe Montags-Demonstrantinnen und -Demonstranten, es hieße wahrlich Eulen nach Athen tragen, wenn ich Ihnen noch erzählen wollte, warum unser Kampf gegen diesen Kellerbahnhof unbedingt nötig ist und nötiger denn je. Sie alle stehen ja hier, weil Sie wissen, dass wir unbedingt eine leistungsfähige und für bisherige Autofahrer zum Umsteigen reizende, attraktive Infrastruktur für den ÖPNV brauchen, und wissen, dass S21 das genaue Gegenteil davon ist. Und Sie alle stehen ja hier, weil Sie es ein Verbrechen finden, was da – um lächerliche 14 ha innerstädtische Filet-Baugrundstücke zu gewinnen – an unglaublichen Schäden, Risiken und Gefahren in Kauf genommen wird.
Und Sie alle stehen hier, weil Sie wissen, dass es nicht ein Missgeschick der S21-Betreiber ist, dass dafür nach internen Bahn-Berechnungen mittlerweile 11 Milliarden unserer Steuergelder ausgegeben werden sollen – übrigens nicht ein Viertel, sondern mindestens 1,3 Milliarden von der Stadt Stuttgart. Sondern es ist ja die Absicht des ganzen Projekts, möglichst viel von unserem Geld in die Hände der Privatwirtschaft zu leiten: je höher die Kosten, desto besser. Kurz gesagt: Sie alle stehen hier, weil Sie wissen, dass S21 der größte technisch-wissenschaftliche Betrugsfall der deutschen Industriegeschichte ist.
Deshalb stehen wir hier. Und von dieser Gewissensverpflichtung kann uns keine noch so klare Abstimmungsmehrheit befreien – erst recht nicht ein auf Lug und Trug basierender Volksentscheid.
Und nun war gestern die Wahl. Erfreulichstes Ergebnis finde ich: Fast zweieinhalbtausend Wählerinnen und Wähler haben allein in der Kernstadt Stuttgart mit ihrer Erststimme ihren Protest gegen S21 gezeigt: Sie haben Carola Eckstein und Frank Schweitzer ihre Erststimme gegeben und damit das Zeichen gesetzt: Es gibt einen Widerstand gegen Stuttgart 21 jenseits der Partei-Kandidaten. Großen Respekt für die beiden!
Etliche unter uns hatten durchaus gehofft, dass durch diese Wahl vielleicht der Widerstand gegen S21 wenigstens ein klein wenig einfacher werde. Aber nun hätten wir beinahe eine absolute Mehrheit der CDU bekommen. Die Frau, auf deren Druck hin, der Aufsichtsrat der Bahn den erhöhten Kosten von 6,5 Milliarden zugestimmt hat, diese Frau hätte von nun an beinahe allein regieren dürfen. Was für eine Katastrophe! Nun braucht sie zum Glück einen Koalitionspartner: die SPD oder die Grünen. Das könnten beide nutzen, um hohe Forderungen zu stellen, denn die CDU ist ja auf einen von beiden angewiesen. Aber welche Forderungen im Blick auf Stuttgart 21 sind von Grünen oder SPD zu erwarten?
Jedenfalls wird wohl die Partei, die sich Angela Merkel am billigsten anbietet, zum Koalitionspartner werden. Viel ist von keiner der beiden zu erwarten. Aber immerhin: Denkbar ist immer noch, dass die Träume von einer grünen Regierungsbeteiligung mit Toni Hofreiter als Verkehrsminister noch nicht ausgeträumt sind. Für Angela Merkel wäre das der eleganteste Weg, um das leidige S21-Problem loszuwerden. Aber ich warne davor, noch einmal zu große Hoffnungen auf einen grünen Verkehrsminister zu setzen. Wir haben da ja so unsere Erfahrungen.
Noch können die Grünen auf eine Regierungsbeteiligung hoffen. Aber dass sie – vor allem in Baden-Württemberg – so stark verloren haben und auch Cem Özdemir als Direktkandidat tief abgestürzt ist, das ist sicherlich für viele auch unter uns schmerzhaft. Ich möchte heute nicht an diese Wunde rühren, ich finde Häme unter uns nicht die richtige Reaktion. Wir diskutieren hier hart. Aber wir verletzen einander nicht. Wir gehören hier zusammen, auch wenn wir unterschiedliche politische Heimaten und Hoffnungen haben. Das ist auch unsere Stärke.
Ich möchte hier nur meine Hoffnung ausdrücken: Wahlschlappen sind auch Lernchancen. Vielleicht lernen die Grünen daraus, dass sie ihren Markenkern Umweltpolitik nicht vernachlässigen dürfen – z.B. indem sie den Widerstand gegen das Ökologie-schädliche Großprojekt im Lande vernachlässigen. Wer Zugang zu den Grünen hat: Erklärt ihnen bitte diese Lektion!
Unterm Strich denke ich: Es war für uns schon vor dem Wahlergebnis eines klar: Wir hatten keine verlässlichen VertreterInnen in der Bundesregierung, und wir werden wohl auch weiterhin keine haben. Ob eine schwarz-grüne Koalition daran etwas ändern würde? Ich bin mir nicht sicher. Und eine Koalition mit der SPD? Noch weniger! Das heißt für uns: Es bleibt, wie es war: Wir müssen den politischen Druck selbst aufbauen. Wir müssen Druck machen auf alle Parteien. Wir sind es, die das tun müssen, was eigentlich die Aufgabe einer das Wahlvolk vertretenden Regierung wäre: Wir müssen immer und immer wieder Punkt für Punkt öffentlich machen, an wie vielen Stellen das Projekt S21 das Gegenteil dessen bewirkt, was seine Betreiber vorgeben, erreichen zu wollen.
Wir müssen immer und immer wieder Punkt für Punkt öffentlich machen, was dieses Projekt alles zerstört. Das schreiben ja inzwischen sogar die bürgerlichen Medien. Die Südwestpresse titelte dieser Tage „Warum es wichtig ist, dass die S21-Gegner am Ball bleiben“. Und im Artikel heißt es: „Die S21-Gegner offenbaren die wirklichen Mängel von Stuttgart 21. Es ist gut, dass sich die Projektgegner weiter mit dem Bahnhof beschäftigen.“
Wir müssen es tun. Und wir tun es. Und es zeigt immer wieder Wirkung, dass wir das tun: Wer z.B. die Erörterungsverhandlung in der Messehalle mit verfolgt hat, hat erlebt, wie kleinlaut und hilflos die Vertreter der Bahn immer wieder ihre verschleiernden Allgemeinplätze von sich geben mussten, weil sie stabile Fakten nicht zu bieten hatten. Unsere Fachleute haben die Grundlagen des geplanten Grundwassermanagements so gründlich zerfetzt, dass auch der heftigste Verfechter dieses Projekts Zweifel bekommen musste.
Jetzt geht es nur noch darum, ob die VerhandlungsleiterInnen Trippen und Bühler die Zivilcourage haben, das Verfahren jetzt nicht abzuschließen, sondern fortzusetzen und damit die Planungen der Bahn weiter zu demaskieren. Der Druck von Seiten der Bahn – und natürlich von Seiten des politisch hoch umstrittenen Regierungspräsidenten Schmalzl, FDP – der Druck auf die beiden VerhandlungsleiterInnen ist natürlich riesengroß, die Sache einfach mit ein paar kritischen Anmerkungen durchzuwinken und die Entscheidung dem Ramsauer-hörigen Eisenbahnbundesamt zu überlassen. Aber dazu gehen wir auf die Straße, damit das nicht so einfach wird.
Natürlich ist unser Einfluss indirekt. Natürlich können wir nicht mit einem Rollkommando das Regierungspräsidium stürmen. Natürlich können wir nicht das Haus in der Sängerstraße militärisch verteidigen. Natürlich war es klar, dass unsere Blockaden von Südflügel, Schlossgarten und GWM-Anlage keine Verhinderungs-Blockaden sein könnten, sondern nur Aktionen, um Zeit zu gewinnen und vor allem, um in die Öffentlichkeit zu ziehen, was still und heimlich durchgezogen werden sollte.
Wir müssen uns immer wieder klar machen, was es bedeutet, dass S21 ein politisches Projekt ist.
Wir können zwar vermutlich davon ausgehen, dass alle relevanten politischen Kräfte wissen, dass S21 inhaltlich keinen Sinn macht. Wir brauchen deshalb nicht darauf zu hoffen, dass wir eines Tages mit unseren unzähligen guten Argumenten die Betreiber dieses Projekts oder die Tunnelparteien davon überzeugen könnten, dass sie das Projekt stoppen sollen. Die Argumente kennen sie ausreichend; was fehlt, ist der politische Wille. Und der entsteht nur da, wo sich irgendein politischer Akteur einen Vorteil vom Ende des Projekts verspricht.
Unser Argumentieren und Demonstrieren und Blockieren und Schreiben von Offenen Briefen usw. kann deshalb nach meinem Dafürhalten nur den einen Sinn haben: den politischen Preis von Stuttgart 21 in die Höhe zu treiben – so wie umgekehrt die Bahn ihrerseits durch ihre vielen hektisch begonnenen Baustellen den politischen Preis des Ausstiegs in die Höhe treiben möchte. Aber: Jeder Politiker und jede Partei weiß: Je mehr Skandale mit ihnen verbunden werden, desto gefährdeter ist ihr politisches Überleben. Unsere Aufgabe scheint mir deshalb, Skandal für Skandal bei S21 immer wieder aufzugreifen und einer möglichst breiten Öffentlichkeit immer wieder deutlich zu machen, welche Politiker und welche Parteien dafür Verantwortung tragen. Und irgendwann – kein Mensch weiß, durch welchen Tropfen – wird für irgendeinen der politischen Akteure das Fass überlaufen, und er wird sich Vorteile davon versprechen, sich von S21 zu distanzieren. Dann beginnt das Projekt politisch zu sterben.
Bis dahin ist es wichtig, dass wir die Öffentlichkeit möglichst gut informieren, damit es für die Betreiber möglichst schwierig wird, die Skandale klein zu reden und zu vertuschen. Die Zeit nach der Wahl ist dafür noch günstiger als vor der Wahl, weil da die Politiker nicht mehr so sehr Parteidisziplin wahren müssen, sondern wieder mehr ihre eigenen Egoismen vertreten können. Schon jetzt ist es so, dass wir Mut machende Briefe aus mehreren Bundesländern bekommen – natürlich nicht aus Baden-Württemberg, aber selbst aus FDP-Verkehrsministerien –, die deutlich machen, wie sehr die Bundesländer ihre eigene Verkehrspolitik dadurch bedroht sehen, dass das ganze Geld für S21 verbraten werden soll. Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wenn auf eines Verlass ist, dann auf den Egoismus der Länder, der Parteien und der Politiker.
Was können wir nun in der gegenwärtigen Situation von unseren Egoisten fordern, um möglichst konkreten Druck auszuüben?
1. Dass sie eine Kostenschätzung des Bundesrechnungshofes so schnell wie irgend möglich fordern. Die Bevölkerung muss endlich klar darüber informiert werden, was dieses Tiefbahnhofs-Verbrechen kostet.
2. Dass sie dafür sorgen, dass endlich konkrete Schritte zu einer so genannten „Feststellungsklage“ eingeleitet werden, die klärt, ob die „Sprechklausel“ bedeutet, dass Stadt und Land sich an S21-Mehrkosten beteiligen müssen oder nicht.
3. Dass keine weiteren Raten an die Bahn überwiesen werden, bevor sie eine belastbare Kostenrechnung vorlegt – auch auf die Gefahr hin, dass die Bahn mit Prozessen droht.
4. Dass sie öffentlich klarstellen, dass die behaupteten Ausstiegskosten von 1,5 Milliarden nicht eine mögliche Meinung, sondern gelogen sind. Es ist keine Meinungsfrage, ob ein Trabbi 200 Stundenkilometer fährt, sondern das sind nüchtern zu klärende Fakten. Unterschiedliche Meinungen kann man nur dazu haben, ob es nötig ist, dass ein Trabbi 200 fahren kann.
5. Und schließlich: Wir müssen von Opposition und Regierung, von Kretschmann, Steinbrück und Merkel und wie sie alle heißen, fordern, dass sie angesichts der unzähligen ungelösten Probleme beim Bau von S21 auf einem Baustopp bestehen, bis die Planung wirklich fertig ist und bis wirklich alle Genehmigungen erteilt sind. Denn welches Gericht würde es wagen, dann noch eine weitere Genehmigung zu verweigern, wenn in fünf oder sechs Jahren alles gebaut ist, was schon eine Genehmigung hat, „nur“ weil das Gericht bei einer weiteren Genehmigung rechtliche Probleme sieht? Jetzt müssen die Genehmigungen her, bevor gebaut wird. Alles andere grenzt an Rechtsbeugung.
Fordern wir das auf allen Ebenen! Jetzt ist die Wahl vorbei. Jetzt sind die Parlamentsplätze sicher. Jetzt ist die Stunde der Hinterbänkler. Jetzt lohnt es sich wieder, ihnen Briefe zu schreiben, ihnen in allen Farben zu schildern, welchen Schaden sie ihren eigenen Wahlkreisen zufügen, wenn sie weiterhin zum Kannibalen-Projekt S21 stehen. Jetzt ist die Wahl vorbei. Jetzt werden Schuldzuweisungen an schlechten Ergebnissen und Niederlagen ausgetauscht. Jetzt ist wieder die Zeit, in der die Haltung der Parteien zu S21 zum Argument werden kann. Jetzt ist es wieder unsere Aufgabe, zu argumentieren, zu blockieren, Offene Brief zu schreiben usw.
Und jetzt ist es unsere Aufgabe, uns Montags zu versammeln, mit zweierlei Ziel:
1. Wir zeigen, dass wir noch da sind, gewisser denn je.
2. Wir sind hier Montag für Montag zusammen, um uns gegenseitig zu stärken, damit nicht jeder von uns allein mit seinen Überzeugungen standhalten muss gegenüber dem unvermindert heftigen Wind der vom Kapital nahezu komplett kontrollierten Medien.
Wir halten zusammen. Dann sind wir stark. „Allein machen sie dich ein – gemeinsam sind wir unausstehlich.“
Danke fürs Zuhören! Oben bleiben!