„Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht“

Die Rede von Dipl.-Phys. Wolfgang Kuebart (Ingenieure22) auf der heutigen 195. Stuttgarter Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen das urbane und regionale Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21).

Meiner Rede möchte ich ein Wort von Georg Schramm voranstellen, der hier auf dieser Bühne vor der Volksabstimmung Papst Gregor aus dem 7. Jahrhundert zitierte: „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“

Der Spruch ist uns, wie ich finde, auf den Leib geschrieben. Wir versuchen, mit aller Kraft das Projekt Stuttgart 21 zu verstehen und in die richtigen Bahnen zu leiten, doch gelingen wird uns das nur mit dem Druck von der Straße. In diesem Sinne, streiten wir weiter zusammen für den Erhalt des kostengünstigeren, leistungsfähigeren und viel zukunftsträchtigeren Kopfbahnhofs.

Am vergangenen Mittwoch gaben die Ingenieure22 zusammen mit Eisenhart von Loeper, dem Vertreter des Bürgerbegehrens „Storno 21“ eine Pressekonferenz. Thema war die Bewertung der bisher von der Bahn geheim gehaltenen Liste der 121 „Chancen und Risiken“ für das Projekt Stuttgart 21 aus dem Jahre 2011.

Sie erinnern sich: Im April 2011 wurde der Zeitschrift Stern eine Liste von 121 „Chancen und Risiken“ des Projekts Stuttgart 21 zugespielt. Diese Liste enthält mögliche Abweichungen von den für Stuttgart 21 veranschlagten Gesamtkosten. Chancen verringern die Gesamtkosten, Risiken erhöhen sie. Jeder Abweichung wird eine bestimmte Eintrittswahrscheinlichkeit zugeordnet, größer als 50% ist sie meldepflichtig, kleiner als 49% kann man sie ggf. unter den Tisch fallen lassen. Schon damals konnte man im Stern lesen, dass sich in der Liste nur eine einzige Chance findet, der Rest sind Risiken.

Drei Beispiele:

– Durch Änderung der Brandschutzrichtlinien werden Änderungen am Tiefbahnhof erforderlich. Denken Sie daran, was in den S-Bahn-Stationen inzwischen umgebaut werden muss, damit man im Brandfall in eine rauchfreie Zone entfliehen kann. Wir kennen alle die schönen Hochglanzbilder des blütenweißen Tiefbahnhofs. Er muss gravierend umgeplant werden. Die Deutsche Bahn bewertet dies mit Mehrkosten in Höhe von 30 Millionen Euro. Obwohl diese Änderung in der Liste nur mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von kleiner 49% versehen wurde, können wir sicher sein, dass sie notwendig wird.

– Die Planung des Tiefbahnhofs ist bis jetzt nur in Brandklasse F0. Das geht gar nicht. Der Berliner Bahnhof zum Beispiel hat eine Brandklasse von F120-A, das heißt, die Gebäude können einem Vollbrand für 120 Minuten standhalten, ohne zusammenzubrechen. In der Liste steht, dass der Tiefbahnhof für eine Brandklasse F30 ausgelegt werden soll (was eigentlich ein weiterer Skandal ist). Hier geht auch die Deutsche Bahn von einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 99% aus, verschweigt aber die dafür anzusetzenden Mehrkosten.

– Wir erleben gerade, dass das Grundwassermanagement wegen der höheren Wassermengen nicht ausreichen wird. Wir stecken mitten im Prozess der Planänderung dafür. Schon 2011 war klar absehbar, dass ein weiteres Grundwassermanagement gebaut werden muss. So etwas kostet circa 30 Millionen Euro, doch in der Liste ist dafür kein Betrag von der Deutschen Bahn vorgesehen und auch hier ist die Eintrittswahrscheinlichkeit kleiner als 49%.

Ein Drittel der zu erwartenden Risiken war zum Stichtag 25.3.2011 von DB-Fachleuten bewertet worden und betrug 1.260 Millionen Euro Mehrkosten. Damals ließ der Journalist Arno Luik die Gesamtkosten der bewerteten und unbewerteten Risiken zu 3.260 Millionen Euro abschätzen. Trotzdem blieb die Liste weiterhin unzugänglich, lediglich etwa dreißig Risiken konnte man später im Internet herunterladen. Wir haben immer darauf gedrungen, dass die Deutsche Bahn im Sinne der Kostentransparenz die vollständige Liste veröffentlicht und sich dazu stellt. Doch nichts davon geschah, nicht einmal die Projektpartner haben ein Exemplar dieser Liste erhalten, um sich ein Bild über das von ihnen finanzierte Projekt machen zu können. Schlimmer noch: Zur Volksabstimmung lautete mehrheitlich die Devise: Der Kostendeckel wird gehalten.

Nachdem auch uns die Liste zugespielt worden war, können wir heute uns ein eigenes Bild davon machen. Wir glauben, dass uns damit Beweise vorliegen, dass die Bahn mindestens 8 Monate vor der Volksabstimmung über erhebliche Kostensteigerungen Bescheid wusste. Betrachtet man die gesamte Geschichte der Kostenentwicklung, liegt sogar der Verdacht nahe, dass man wusste, dass das Projekt Stuttgart 21 bereits zwei Jahre vor der Vorlage dieser Liste jeglichen Kostendeckel gesprengt hatte.

So hatte 2008 der Bundesrechnungshof die Projektkosten deutlich über 5.000 Millionen Euro abgeschätzt, 2009 hatten sowohl der Projektsteuerer Drees und Sommer als auch die Deutsche Bahn selbst Mehrkosten ermittelt, die das Projekt in die 5.000 Millionen Euro Zone katapultierten und somit das Ende von Stuttgart 21 bedeutet hätten, wenn nicht auf Geheiß von Bahnchef Grube unhaltbare Sparpositionen in Höhe von 891 Millionen Euro eingerechnet worden wären. So konnte die vertraglich vereinbarte Ausstiegsoption bei Überschreiten der 4.500 Millionen Euro Gesamtkosten von den Projektpartnern im Dezember 2009 nicht wahrgenommen werden.

Wir sind in unserer Pressekonferenz der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die Liste für die damaligen Entscheidungsprozesse vom Auslauf der Kündigungsfrist für den Finanzierungsvertrag Ende 2009 bis zur Volksabstimmung am 27.Nov. 2011 hatte. Welchen Zusammenhang kann man zu den heutigen Nachberechnungen der Deutschen Bahn in Höhe von knapp 2.300 Millionen Euro sehen? Warum sind gerade diese Zusammenhänge für das 3. Bürgerbegehren „Storno 21“ so wichtig?

Nachdem im März 2011 der damalige Projektleiter Azer dem Aufsichtsrat der DB die Liste der 121 „Chancen und Risiken“ vorlegte, sind von dem 891 Millionen Euro Sparpaket gerade mal 100 Millionen Euro übrig geblieben. Hätte diese Wahrheit Ende 2009 auf dem Tisch gelegen, wäre der Kostendeckel gesprengt gewesen, es hätte das Aus für Stuttgart 21 bedeutet. Auch 2011 hätte die Liste eine ausgezeichnete Grundlage zur seriösen Kostenabschätzung darstellen können. Wir Ingenieure22 gehen davon aus, dass die allermeisten „Risiken“, die in dieser Liste ausgewiesen werden, eintreten werden. Mit der Liste hätte die Bahn jederzeit Auskunft über die Kostenentwicklung zu Stuttgart 21 geben können. So hat sie nach unserer Einschätzung Gesamtmehrkosten in Höhe von mindestens 2.900 Millionen Euro, die schon acht Monate vor der Volksabstimmung erkennbar waren, verschwiegen. Das Volk hatte daher seinerzeit unter falschen Voraussetzungen über die Projektfinanzierung abgestimmt.

Wenig von diesen Risiken ist in der Zwischenzeit in den Gesamtwertumfang eingepreist worden. Ein Jahr nach der Volksabstimmung offenbarte die Deutsche Bahn am 12.12.2012 Mehrkosten in Höhe von 1.100 plus 1.190 Millionen Euro, die etwa den vorgenannten Zahlen entsprechen. Nachdem sich das Bundeskanzleramt in den Entscheidungsprozess eingemischt hatte, wurden diese Zahlen am 5.März 2013 vom Aufsichtsrat der Deutschen Bahn akzeptiert und ganz bzw. vorläufig von der Deutschen Bahn finanziert, das Projekt wurde weitergeführt, koste es, was es wolle.

Als Reaktion auf unsere Pressekonferenz äußert sich ein Bahnsprecher:

„Im Dezember 2012 hatte die Bahn eingeräumt, dass S21 nicht 4,5 sondern mindestens 5,7 Milliarden Euro kosten werde. Für diese Kalkulation hätten sich die in der 2011er-Liste angeführten Kostenrisiken von 1,3 Milliarden Euro aber nur teilweise als relevant erwiesen“.

Wir antworten:

„Herr Dr. Grube, veröffentlichen Sie die aktuelle Abweichungsliste und wir diskutieren neu darüber. Wenn Ihr Sprecher nur 1,3 Milliarden Euro anführt, erwähnt er nicht einmal die Hälfte des Wertes aller Risiken von 2011!“

Für die Projektpartner wird das dicke Ende nachkommen. Wenn die Tunnelbohrer mitten im Berg stecken, die Stadt durchlöchert ist, dann tritt genau die Situation ein, die Ministerpräsident Kretschmann unbedingt vermeiden wollte. Stadt und Land sind erpressbar geworden, die Stadt ist zerstört, der Projektstillstand wäre eine Katastrophe. Wir haben daher nach unserer Pressekonferenz den Ministern Schmid und Hermann und dem Oberbürgermeister Kuhn je ein Exemplar unserer Ausarbeitungen in ihre Häuser getragen und sie aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass Stuttgart nicht für Milliarden einen Bahnhof bekommt, der auf alle Zeiten eine zu kleine, nicht ausbaubare Kapazität besitzt, die kleiner ist als die des noch immer bestehenden Kopfbahnhofs.

Aus dem selben Grund haben wir Fachgruppen und wikireal.org zwei Bürgerbegehren angestoßen, die die Stadt veranlassen sollen, aus der Finanzierung auszusteigen. Auf Storno21.de und leistungsrueckbau-s21.de finden sich alle wesentlichen Fakten. Unterschreiben Sie und sammeln Sie bei Nachbarn und Freunden. Wenn hier 1000 Leute nur jeweils zweimal 20 Unterschriften sammeln, haben wir die erste Hürde genommen.

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