Jena: Stadtparlament bricht 49. Sitzung ab – Bürger besetzen Podium für neues Delegiertenplenum
Update um 2.30 Uhr: Videos „Jenaer Stadtrat besetzt“ (s. unten)
„Es ist der Tag X“: ein Schwarzer Tag für die Anhänger neoliberaler kapitalorientierter Grossprojekte zu Lasten eines vielfältigen kreativen, selbstbestimmten Gemeinwesens, das Transparenz und Mitspracherecht für die Belange der Bürger fordert.
Feuerwehr, Polizei, ein entnervter Oberbürgermeister, junge Menschen, betagte oder angepasste Stadträte, Partystimmung, Konfetti, Sirenen, Transparente – eine noch nie dagewesene bunte Mischung führt zur Auflösung der obligatorischen Versammlung in der Saalestadt.
Zur monatlichen Stadtratssitzung am 6. November 2013 in Jena stand als 12. Tagesordnungspunkt der Bebauungsplan des Inselplatzes und der Abriss des Gebäudes Inselplatz Nr. 9a an.
Die Stadtverwaltung hatte trotz Ausschöpfung aller demokratischer Mittel keinen Willen gezeigt, den Mietern des Hauses eine Alternative anzubieten. Das historische Haus aus den dreissiger Jahren mit grosszügiger Gartenfläche, das der Ernst-Abbe-Stiftung gehört, hat sich im Laufe der Jahre zu einem kulturellen und sozialen Treffpunkt in Jena entwickelt. Lesungen, vegane Volx-Küche, Musik und Tanz ausserhalb verstaubten konventionellen Kommerzes machten die beliebte „Insel“ weit über Deutschlands Grenzen in den alternativen Künstlerkreisen bekannt.
Umgeben von noch nicht gefällten grossen Bäumen bietet das Grundstück dem entfernten Betrachter tatsächlich den Eindruck eines noch nicht von Beton und Stahl zerstörten intakten Refugiums inmitten des Zentrums der Universitätsstadt, die auf eine aussergewöhnliche Vergangenheit mit der grossen Anzahl der hier wirkenden Philosophen, Künstler und Wissenschaftler stolz sein kann. Jena mit seinen 100000 Einwohnern und über 30000 Studenten ist eine lebendige Stadt. Kreatives Leben definiert sich jedoch nicht über die Anzahl der kommerziellen Verkaufsflächen oder Kneipenplätze, die im Gegensatz zu anderen Städten wenig Kleinkunst in Form von integrierten Malerei-Ausstellungen oder Live-Musikprogrammen zu bieten haben.
Um das deshalb wichtige soziokulturelle Projekt „Die Insel“ und ähnliche Initiativen in Jena zu erhalten, die diese fehlende Lücke ausfüllen, rief die „Insel Nr.9a“ dazu auf, an dem gestrigen Tag der Stadtverwaltung und den Stadträten klarzumachen, dass die Bürger in Jena nicht länger gewillt sind, sich einer jahrzehntelangen Politik zu unterwerfen, die die Belange der Bevölkerung ignoriert. Unzählige Gespräche und Debatten in der Vergangenheit mit Parteien und Behörden verliefen fruchtlos.
Mehrere Bürgerinitiativen schlossen sich deshalb zusammen und veranstalteten am Nachmittag ein gemeinsames öffentliches Bürgerplenum am runden Tisch im Freien auf dem Marktplatz und zogen um 17 Uhr zum Rathaus, um ihre bisher weitgehenst ignorierten Anliegen vereint den Stadträten deutlich zu machen.
Zu Beginn der Sitzung waren schon über vierhundert Personen in dem Saal, im Laufe des Abends reichte der Platz nicht mehr für alle aus (Foto).
Die Stadtratsitzung zog unter diesem Ansturm den Tagesordnungspunkt 12 vor, der als erstes diskutiert wurde, wohl um die unwillkommenen Gäste schnell wieder los zu werden. „Wenn wir ein Haus als Alternative anzubieten hätten, würden wir es sofort zur Verfügung stellen um euch schnell wieder hier herauszubekommen“, sagte einer der „Volksvertreter“. Bewohner des Inselplatzes erhielten zwei Mal entgegen der üblichen Verfahrensweise ein Rederecht vor dem Stadtrat eingeräumt.
Die zum Teil emotional und heftig geführte Debatte um die Zukunft des Inselplatzes zog sich hin, gegen 19.40 Uhr wurde eine Pause für fünfunddreissig Minuten ausgerufen.
Zu einer Fortführung der Stadtratsitzung sollte es jedoch an diesem Abend nicht mehr kommen. Die anwesenden Bürger eroberten in guter Stimmung den vorderen Bereich des Podiums, entrollten Transparente, spannten Regenschirme auf, verstreuten Konfetti und behaupteten den eroberten Platz. Nicht eine Sekunde lang kam es zu bedrohlichen gewalttätigen Szenen – im Gegenteil herrschte eher Ausgelassenheit vor.
Dennoch versuchte Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD) den offenkundigen „Willen des Volkes“ im Rathaus nicht zu respektieren und drohte mehrmals, von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen und den Saal räumen zu lassen. An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Bürgermeister samt der Stadtverwaltung die von Steuergeldern bezahlten Dienstleister der Kommune sind und keineswegs die Herrschaften nach Art ihrer feudalen Amtsvorgänger.
Nachdem durch einen ausgelösten Feueralarm während der Pause die Feuerwehr eintraf sowie auch Polizeibeamte (wer die wohl gerufen haben mag?) den Rathaussaal betraten, wurde die monatliche Versammlung des Jenaer Stadtparlaments für diesen Abend beendet. Die Stadtratssitzung wurde aufgehoben, „weil eine Abstimmung so nicht möglich ist“. Keine der anstehenden weiteren dreiunddreissig Tagesordnungspunkte wurden mehr diskutiert.
Die Hauptausschussitzung mit den Fraktionsvorsitzenden und dem Oberbürgermeister zog sich in andere Räumlichkeiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zurück.
In der Innenstadt von Jena präsentierte anschliessend die Polizei – auch in zivil – noch demonstrativ ihre Anwesenheit. Es kam zu keinen Zwischenfällen.
Das Herbeizitieren der Polizeibeamten (ohne das es dazu einen Anlass gab) in das Rathaus ist auf das Schärfste zu verurteilen. Diese Verfahrensweise kriminalisiert die Bürger in ihrem guten Recht, mehr Mitsprache und Transparenz für ihre Anliegen zu fordern wenn alle anderen Wege erschöpft sind. Die Anwesenden reagierten alle als zivilisierte, friedliche Menschen und boten keinen Anlass für ein eventuelles hartes Eingreifen.
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