„Eine Vermischung von politischer Agitation und weihevollem Gottesdienst überlasse ich denen, die Tunnel taufen“

Die Rede von Prälat i.R. Martin Klump auf der 203. Stuttgarter Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen „Stuttgart 21“ (S21) am 23. Dezember. An der Montagsdemo nahmen rund 3000 Menschen teil.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Zuerst eine kleine Vorbemerkung: Die, die mich kennen, wissen, dass ich von Beruf evangelischer Pfarrer war und innerlich dies gerne bin. Aber haben Sie keine Angst. Ich ziehe keinen Talar an, stelle keinen Altar vor mich hin, besprenge keine Madonna mit Weihwasser. Das hier ist eine politische Demonstration und kein weihevoller Gottesdienst. Eine Vermischung von politischer Agitation und weihevollem Gottesdienst überlasse ich denen, die Tunnel taufen; obwohl ich bisher dachte, dass man nur Menschen tauft, weil in ihrer Seele Gott lebendig ist. Tunnel haben keine Seele.

Jetzt zu meiner Rede:

„Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh’ ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus“.

So romantisch schildert Joseph von Eichendorff Weihnachten. Und wir stehen da, ganz unfeierlich, weil unsere Stadt dort, wo sie früher fast am schönsten war, verletzt, zerstört, verwüstet daliegt. Und diese riesige Wüste von Beton soll künftig den schmalen, grünenden Talgrund für immer zerschneiden. Eine hässliche, grausame Schande!

Natürlich sagen viele Leute: Warum machst du da noch mit? Schweige, gehe deiner Wege! Du kannst doch gar nichts daran ändern! Ob wir an dem Projekt noch viel ändern können, weiß ich nicht. Aber sagen, wie es uns geht, wie schrecklich wir’s finden, beklagen, wie dieses Unglück über unsere Stadt kam – das können wir! Das ist Menschenrecht! Für die, die Weihnachten feiern, sage ich: Die Botschaft dieses Festes ist, dass Gott nicht fern, nur im Himmel, sondern hier in der Stadt, hier bei den Menschen, ja sogar in uns zur Welt kommt. Wenn uns das bewegt, dann nehmen wir jeden Menschen ernst in dem, was ihn beschwert, was ihn umtreibt, auch wenn es manchmal lästig scheint.

Sogar Freunde, die für dieses Projekt plädieren, sind entsetzt über die Art und Weise, wie es eingeführt wurde, wie sogar im Parlament Zahlen, Fakten und Probleme nicht zur Sprache kamen, wie nicht das Wohl der Stadt, sondern Profitinteressen einzelner Gruppen zählten.

Diese Demonstrationen sind so lange nötig, bis allen klar ist: So kann bei uns kein Projekt gedeihen! Wir brauchen verlässliche Regeln und Verfahren, dass solches niemals mehr und nirgends mehr in unserem Land geschieht. Vier Forderungen nenne ich:

1. Wenn Gott allen Menschen Würde gibt, dann muss es als schimpflich gelten, eine Kampagne mit Tricks und Propaganda so lange zu betreiben, bis der Bürger nur noch resigniert und schweigt.

2. Wenn Gott in der Stadt wohnt, dann ist die Stadt nicht nur eine Maschine zur Förderung von Wirtschaft, Handel und Gewinn. Sie ist genauso Gemeinschafts-, Wohlfühlort und Heimat für die Menschen. Wie unsere Stadt ästhetisch aussieht, welche Kultur und Kunst sie prägt, ob man froh ist, hier zu sein und sich engagiert, das ist für unser Leben und auch für unsere Wirtschaft wichtig.

3. Wenn die Meinung und die Gefühle aller Menschen ernst genommen werden, dann kann eine so weitreichende Umgestaltung des Stadtbilds einer Stadt nur beschlossen werden mit einer deutlich spürbaren Übereinstimmung in allen Gruppen der Bevölkerung und nicht mit taktisch knapper, fragwürdiger Mehrheit, die einen Großteil der Bevölkerung brüskiert und ausschließt. Die Demokratie fordert deshalb für wichtige Fragen qualifizierte Mehrheiten.
Damit verhindert sie genau das, was wir hier erleben, dass die Bevölkerung über Jahre hinweg gespalten und verärgert bleibt.

4. Wenn man Menschen ernst nimmt, dann darf mit einem solchen Projekt erst dann begonnen werden, wenn alle Fragen der Finanzierung, der Umwelt, des Baurechts und des Denkmalschutzes an allen Stellen des Projekts geklärt sind und nicht scheibchenweise. Das Argument „Jetzt ist’s doch schon am Laufen“ ist mit Menschenwürde nicht vereinbar.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Die Botschaft von Weihnachten ist nicht nur schön und nett. Sie fordert uns heraus, für das Wohl der Menschen und für den Frieden unter Menschen einzutreten.

Vielen Dank und frohes Fest!

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