Kapitän Boykott reitet wieder
ES IST immer ein geheimes Ziel von mir gewesen, einen Bagatz zu haben, der meinen Namen trägt.
Bagatz ist das hebräische Acronym „Oberster Gerichtshof“, die israelische Entsprechung für ein Verfassungsgericht. Es spielt eine sehr wichtige Rolle im israelisch öffentlichen Leben.
Indem ich eine umwälzende Entscheidung des „Obersten Gerichtshofes“ habe, die nach mir benannt ist, wird mir eine Art Unsterblichkeit verliehen. Lange nach meinem Hinscheiden werden Anwälte meinen Fall zitieren und ihn weiter diskutieren.
Man denke nur an Roe gegen Wade, zum Beispiel. Wann immer in den US über Abtreibung die Rede ist, wird über Roe gegen Wade(1973) debattiert, obwohl sich nur wenige an Jane Roe und Henry Wade erinnern, wer sie tatsächlich waren.
Nun gibt es „Uri Avnery und andere“ gegen die Knesset und den Staat Israel, der in dieser Woche vor den israelischen Obersten Gerichtshof kamen. Es ging um das Anti-Boykott-Gesetz, das von der Knesset erlassen wurde.
Ein paar Stunden, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, reichten Gush Shalom und ich persönlich unser Antragsformular ein, um dieses annullieren zu lassen. Wir hatten unsere rechtlichen Argumente schon im Voraus vorbereitet. Darum trägt es meinen Namen. Die Antragsteller, die respektlos „die anderen“ genannt wurden, sind ein Dutzend Menschenrechtsorganisationen, jüdische wie arabische, die sich uns anschlossen.
Nach diesem Ego-Trip lasst uns zur Hauptsache kommen.
DIE GERICHTSSITZUNG war ziemlich ungewöhnlich. Anstelle der üblichen drei Richter, die sich normalerweise mit solchen Antragsformularen befassen, waren es diesmal neun Richter – fast die ganze Mannschaft des Gerichtes saß am Tisch. Fast ein Dutzend Anwälte stritten für beide Seiten. Unter ihnen war auch unsere eigene Anwältin Gabi Lasky, der den Fall für die Antragsteller eröffnete.
Die Richter waren keine passiven Zuhörer, die wie üblich gegen Langeweile ankämpfen. Alle neun Richter intervenierten ständig, stellten Fragen, unterbrachen mit provozierenden Bemerkungen. Offensichtlich waren sie sehr daran interessiert. Das Gesetz erklärt Boykotts als solche nicht für ungesetzlich. Der ursprüngliche Hauptmann Charles Boykott wäre nicht darein verwickelt gewesen.
Boykott war ein Agent eines abwesenden Grundbesitzers in Irland, der seine Pächter vertrieb, die nicht in der Lage waren, ihre Pacht während der irischen Hungersnot von 1880 zu zahlen. Statt mit Gewalt gegen ihn vorzugehen, riefen irische Führer ihre Leute auf, ihn zu ächten. Er wurde „boykottiert“ – keiner sprach mit ihm, arbeitete für ihn, trieb Handel mit ihm oder lieferte ihm sogar seine Post aus. Pro-britische Freiwillige wurden geholt, um für ihn zu arbeiten; geschützt wurden sie von tausend britischen Soldaten. Aber bald breitete sich das „Boykottieren“ aus und kam so in die englische – und andere – Sprachen.
Jetzt bedeutet Boykott natürlich eine Menge mehr, als eine einzelne Person zu ächten. Es ist ein Hauptmittel des Protestes, der beabsichtigt, das Objekt moralisch und wirtschaftlich zu verletzen, etwa wie ein von Arbeitern in der Industrie angezettelter Streik.
In Israel gibt es eine Anzahl von Boykotts, die die ganze Zeit weiter gehen. Die Rabbiner rufen fromme Juden auf, Läden zu boykottieren, die nicht koschere Lebensmittel verkaufen, oder Hotels, die heiße Mahlzeiten am heiligen Sabbat servieren. Konsumenten, die sich über zu hohe Kosten von Lebensmitteln aufregten, boykottierten Hüttenkäse. Es war der Akt, der zu dem Massensozialprotest im Sommer 2011 führte. Keiner hat sich darüber entrüstet.
Bis er die Siedlungen erreichte.
1997 ERKLÄRTE Gush Shalom, die Bewegung, zu der ich gehöre, den ersten Boykott gegen die Siedlungen. Wir riefen die Israelis auf, keine Waren zu kaufen, die von Siedlern in den besetzten palästinensischen Gebieten produziert werden. Es verursachte keinen Aufruhr. Als wir zu einer Pressekonferenz aufriefen, kam kein einziger israelischer Journalist – etwas, das ich nie vorher und danach erlebte.
Um die Aktion zu erleichtern, veröffentlichten wir eine Liste mit den Unternehmen, die in den Siedlungen sitzen. Zu unserer großen Überraschung fragten Zehntausende von Konsumenten nach der Liste. So kam der Ball ins Rollen.
Wir riefen nicht zu einem Boykott von Israel auf. Im Gegenteil. Unser Hauptziel war, den Unterschied zwischen dem eigentlichen Israel und den Siedlungen zu betonen. Auf einem unserer Stickers steht: „Ich kaufe nur Produkte aus Israel – nicht die Produkte der Siedlungen!“
Während die Regierung alles Mögliche tat, um die Grüne Linie (die ehemalige Grenze) verschwinden zu lassen, war es unser Ziel, sie wieder ins Gedächtnis der israelischen Öffentlichkeit zu bringen.
Es war auch unser Ziel, die Siedlungen wirtschaftlich zu schädigen. Die Regierung arbeitete ganztags, um Leute in die Siedlungen zu locken, indem sie private Villen für junge Paare anboten, die sich keine Wohnung im eigentlichen Israel leisten können, sowie lokale und ausländische Investoren für riesige Subventionen und Steuernachlässe verführte. Der Boykott beabsichtigte, gegen diesen finanziellen Anreiz zu handeln.
Wir waren auch von der reinen Natur eines Boykotts angezogen: Er ist demokratisch und gewaltlos. Jeder kann ihn im Stillen in seinem privaten Leben erfüllen, ohne sich selbst andern gegenüber zu identifizieren.
DIE REGIERUNG entschied, den Schaden so gering wie möglich zu halten, indem sie uns ignorierte. Aber als unsere Initiative sich auch im Ausland ausbreitete, waren sie alarmiert. Besonders, als die EU sich entschied, die Bestimmungen ihrer Handelsabkommen mit Israel zu erfüllen. Dies bringt große Vergünstigungen für Israels Exporte, schließt aber die Siedlungen aus, die nach dem Internationalen Gesetz eindeutig illegal sind.
Die Knesset reagierte wütend und widmete dieser Sache einen ganzen Tag … (Falls mir ein zweiter Egotrip erlaubt ist: Ich entschied mich, an dieser Sitzung teilzunehmen. Als früheres Mitglied wurden mir und Rachel als Ehrengäste Plätze in der Galerie angeboten. Als uns ein Sprecher des rechten Flügels bemerkte, wandte er sich um, und nach eklatantem Bruch der parlamentarischen Etikette, zeigte er auf uns und knurrte: „dort sitzt ja das königliche Paar der Linken!“).
Auch im Ausland zielte der Boykott anfangs auf die Siedlungen, aber unter dem Eindruck der Erfahrung des Anti-Apartheid-Kampfes verwandelte es sich langsam in einen allgemeinen Boykott Israels. Ich unterstütze diesen nicht. Meiner Meinung nach ist es kontraproduktiv, da es die normale Bevölkerung in die Arme der Siedler treibt, nach dem alten Slogan: „die ganze Welt ist gegen uns“.
Die wachsenden Dimensionen der verschiedenen Boykotts konnten nicht länger ignoriert werden. Die israelische Rechte entschied zu handeln – und sie tat es in sehr kluger Weise. Sie nützte den Aufruf zum Boykott von Israel aus, um den Aufruf zum Boykott der Siedlungen zu ächten, denn genau dieser Teil war es, der sie wirklich bestürzte. Das ist das Wesen des Gesetzes, das vor zwei Jahren verabschiedet wurde.
DAS GESETZ straft keine individuellen Boykottierenden. Es bestraft jeden, der öffentlich zu einem Boykott aufruft. Und was für eine Strafe! Keine Gefängnisstrafe, die uns zu Märtyrern gemacht hätte. Das Gesetz sagt, dass jedes Individuum, das meint, es sei durch den Boykott geschädigt worden, den Boykottaufrufer wegen unbegrenztem Schadens verklagen kann, ohne den Schaden beweisen zu müssen. So könnten dies Hunderte von anderen tun. Auf diese Weise könnten die Initiatoren eines Boykotts verurteilt werden, Millionen von Schekel zu zahlen.
Nicht jeder Boykott. Schweinefleisch oder Hüttenkäse sind nicht gemeint. Nur Boykotts, die sich gegen Institute richten, oder Leute, die mit dem Staat Israel verbunden sind – hier kommen die drei schicksalshaften hebräischen Wörter ins Spiel: „ein von Israel regiertes Gebiet“.
Klar, das ganze rechtliche Gebäude wurde nur wegen dieser drei Worte gebaut. Das Gesetz schützt nicht Israel. Es schützt die Siedlungen. Das ist der einzige Zweck. Dutzende von Fragen, die sich vor allem um diesen Punkt drehten, prasselten auf unsere Anwälte nieder.
Würden wir mit dem Streichen dieser drei Worte zufrieden sein? (Gute Frage. Natürlich würden wir damit zufrieden sein. Aber wir konnten dies nicht so sagen, weil unser Hauptargument war, dass das Gesetz die Redefreiheit einschränkt. Das gilt für das ganze Gesetz).
Wären wir gegen ein Gesetz, das gegen den arabischen Boykott gerichtet wäre, der gegen Israel während ihrer frühen Jahre durchgeführt wurde? (Die Umstände waren völlig andere).
Sind wir gegen Redefreiheit der Rabbiner, gegen ein Gesetz, dass das Vermieten von Wohnungen an arabische Bürger verbietet? (Das ist kein Boykott, sondern krasse Diskriminierung). Nach stundenlanger Debatte vertagte das Gericht die nächste Sitzung. Das Urteil wird zu irgendeinem unbestimmten Zeitpunkt gegeben. Wahrscheinlich wird es eine Mehrheit und mehrere Entscheidungen von Minderheiten geben. Wird das Gericht es wagen, ein Gesetz der Knesset zu streichen? Das würde wirklichen Mut verlangen. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Mehrheit sich entscheiden wird, das Gesetz so zu lassen, wie es ist, aber die Worte streichen, die die Siedlungen betreffen.
Sonst würde es ein weiterer Schritt sein, Israel in einen Siedler-Staat zu verwandeln – ein Staat der Siedler durch die Siedler und für die Siedler.
Dafür gibt es Beispiele in der Geschichte. Der hoch angesehene britische Historiker Arnold Toynbee – einer meiner Favoriten – stellte einmal eine Liste von Ländern zusammen, die von den Bewohnern ihrer Grenzregion übernommen wurden, die in der Regel härter und fanatischer sind als die verwöhnten Bewohner des Zentrums. Zum Beispiel die Preußen, damals die Bewohner einer fernen Grenzregion, übernahmen die Hälfte von Deutschland und dann den Rest. Savoyen, ein Grenzland, schuf das moderne Italien.
WAS AUCH immer da herauskommen mag: die Entscheidung im Falle „ Uri Avnery und andere gegen die Knesset und den Staat Israel“ wird wohl noch lange zitiert werden.
Wenigsten eine gewisse Befriedigung.
22. Februar 2014
(Aus dem Englischen; Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)