Der Tag, an dem die Parteien verschwanden
Eines Morgens wachten die Menschen auf in ihrer Republik, schauten aus dem Fenster, kauften sich ein paar Brötchen und knipsten das Internet an. Irgendwie ging es ihnen besser. Irgendetwas war anders. Als ob ein ekliger, stinkender Nebel sich plötzlich vom Land verzogen hätte, atmeten die Menschen plötzlich befreit auf, unterhielten sich seit Jahren wieder mal mit den Nachbarn, huch, sahen die komisch aus, aber irgendwie nette Leute, man wusste auf einmal gar nicht mehr warum man sich gestritten hatte.
Man fuhr zu Arbeit oder schlief länger aus, je nachdem was man gerade vorhatte, und stellte fest: auf einmal war mehr da von allem, außer Arbeit und Ärger. Alle hatten auf einmal mehr Zeit, mehr, hm, Freude (was war das eigentlich? Ah, genau), es gab auf einmal überall mehr lachende Leute die irgendwas zu erzählen hatten und seltsamerweise sehr viel weniger hässliche Personen auf irgendwelchen Bildschirmen die sehr viel hässliches Zeug erzählten. Allerdings hörte man in den Nachrichten sehr traurige Meldungen von Komapatienten und Verwirrten, die zu Hunderten in Parlamentsgebäuden, Rathäusern, Gerichten und einer Vielzahl von Behörden gefunden worden waren. Entweder lagen sie starren Blickes mit dem Kopf auf einem voluminösen Tisch herum (ein paar hatten Pech gehabt und waren in ihrer Kaffeetasse ertrunken) oder sie liefen brabbelnd durch die Gegend wie kleine von Batterien betriebene Spielzeugbärchen und versuchten ständig auf irgendwas herum zu trommeln. Merkwürdigerweise fiel das alles nicht wirklich ins Gewicht, trotz der enormen Anzahl der Betroffenen. Alles ging weiter wie bisher, nur besser. Die Krankenhäuser kamen zwar kurzzeitig an ihre Kapazitätsgrenze, konnten aber den Ansturm der mitleidigen Menschen die sich der Patienten angenommen hatten und diese zur Pflege abgaben bewältigen.
Irgendwann – es dauerte eine ganze Weile – fiel den Leuten auf, dass sie keine Regierung mehr hatten. Auch diese war nun komplett unter Betreuung. Außerdem standen plötzlich an allen Ecken so seltsame Figuren mit Schnauzbart und Lodenmantel mit einem Hut in der Hand, baten um eine kleine Spende und schauten sich hilfesuchend um als ob ihnen irgendein Vorgesetzter ohne Vorschrift ausgegangen wäre.
Nicht, dass das die Leute in der Republik wirklich aus dem Trab gebracht hätte. Nur irgendwann dachten sie sich, hm, also so ein Parlament sollte schon da sein. Leer hätten solch fette Gebäude wie dieser Klumpen in Berlin Mitte mit dem Namen „Reichstag“ über der Tür und seltsamerweise gleich zwei Fahnen obendrauf (die eine kannte man gar nicht, offensichtlich war da irgendwas gleich mit verdunstet) einfach keinen Sinn. Irgendjemand kam auf die Idee, man könne diesen ja nur so ungefähr 22 Wochen von 52 Wochen im Jahr besetzen. Oder mal ein ganzes halbes Jahr gar nicht. Da schauten ihn die Leute an, als wäre er verrückt geworden und gaben ihm erstmal was zu trinken. So ginge es ja nun nicht. Da könne man es ja gleich bleiben lassen.
Also, was mache man denn da? Irgendwann standen die Leute überall murmelnd in großen Gruppen herum und kamen zu dem Entschluss, man müsse mal wählen. Da müssten welche rein ins Parlament. Man habe ja schon von Bewaffneten gehört, die mit irgendwelchen Panzern zum Baden gefahren waren, weil auch ihnen die Vorgesetzten ohne Vorschrift ausgegangen waren. So ginge es natürlich auch nicht. Also holte einer, der immer mit ausgebeulten Hosentaschen herum lief, da ein Grundgesetz raus und sagte, da könne man mal rein schauen. Da hätten sie früher öfter drin gelesen. Wär nicht alles schlecht. Ein absolut nützliches Handbuch, bis man was Besseres fände und das gäb es nicht. Also schauten die Leute da rein und kamen zu dem Entschluss, man könne erstmal ins Parlament wählen wen man wolle, wenn der nicht gleich vorhabe das ganze Parlament abzubrennen. Da rief irgendjemand dazwischen, also früher, auf Schalcke, da hätte man ja auch, und da einigte man sich dann da drauf, also das Gebäude müsse stehenbleiben. Alles im Rahmen.
Dann las da irgendjemand was von „Parteien“. Alles guckte sich an. Was war das denn, „Parteien“? Manche fühlten sich intuitiv an einen Horrorfilm aus der fernen Jugend erinnert den man schon verdrängt hatte. Einer seufzte, „och nee…“. Ein anderer meinte dann, naja, wer wolle dürfe eben, wenn er denn auch die anderen ließe, und das fanden dann alle akzeptabel. Ein paar Leute meinten gleich, sie seien Anhänger eines asiatischen Handwerkers, also der hätte wirklich gute Sachen gesagt und sogar auch gemacht. Sie würden sogar ihre Partei nach dem benennen, sagten sie. Ein paar andere guckten skeptisch und meinten, naja, da könnten sie ja gleich in die Kirche gehen, die stünden neuerdings auch alle leer rum. Außerdem hätten sie von ein paar Fabriklern Gerüchte vernommen, auch in den Herrenetagen der Konzerne hätten sich gewaltige Lücken aufgetan. Nicht nur die Chefs habe man reihenweise abtransportieren müssen, auch Räume mit der Inschrift „Betriebsrat“ seien total verwaist. Man wisse zwar nicht genau wozu die gut gewesen seien, besonders jetzt wo in den Betrieben überall auf einmal bessere Stimmung sei als vorher und die Leute sich nicht mehr angiften täten, aber man könne ja mal überlegen. Irgendwas mit „sozial“, vielleicht. Einer rief da gleich was von „Ismus“, aber dem wurde gesagt, immer der Reihe nach, hinten anstellen.
Da zischte aus der Mitte der Diskutierenden ein ganz besonders Giftiger – der sich gerade erst eingeschlichen hatte – geduckt heraus, es ginge im Grunde immer nur um den Kontinent auf dem man stünde. Dieser hätte nämlich die Form einer Münze und ohne die würde man im Meer versinken. Einen Augenblick lang standen die Leute alle stumm da und wussten nicht was sie sagen sollten. Als sie deswegen, weil sie nicht wussten was sie sagen sollten, kurz davor waren aus einem posttraumatischen alten Reflex heraus Ja und Amen zu sagen, kam da plötzlich ein frischer Wind um die Ecke und trieb ihnen die Hutschnur hoch. Da schmissen sie den besonders Giftigen wieder aus der Mitte und machten einfach weiter.
Überall im Lande der Republik waren sie nun eifrig dabei alles zu organisieren. Schließlich hatte man ein gemeinsames Ganzes, was es irgendwie am Laufen zu halten galt. Es bildeten sich sogar diese Parteien, von denen der eine im Handbuch gelesen hatte.
Alles hatte an jenem seltsamen Tage begonnen, an dem die Menschen aufwachten und irgendetwas anders gewesen war.
Was war es bloß gewesen?