Reuven Moskovitz: Pfingstbrief 8. Juni 2014
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe – Masha Kaléko
Liebe Freundinnen und Freunde,
Ich schicke diesen Brief zwischen jüdischem und christlichem Pfingsten an meine jetzigen und vielleicht künftigen Freunde. Dieses kurze Begleitschreiben zu meinem Brief, den ich 1989 schrieb, kann leider nicht den Optimismus, die Zuversicht und die Hoffnung von damals wiederholen. Vor etwa 40 Jahren habe ich es gewagt, den Satz zu schreiben „Es gibt ein Deutschland, das ich liebe“.
Ich bin nach zwei schrecklichen Kriegen im Heiligen Land, 1967 und 1973, nach Deutschland mit der festen Überzeugung gekommen, dass hauptsächlich Deutschland – nach dem Kniefall von Willy Brandt und nach dem Aufschrei der Achtundsechziger „Nie wieder Krieg!“ – die Speerspitze für die Bemühungen im Heiligen Land Frieden zu schaffen, werden kann und muss.
Die Ereignisse des 9. November 1989 hätten sich in Israel/Palästina wiederholen können, hätte nicht, hauptsächlich Deutschland, gleichgültig zugeschaut, wie fast alle israelische Regierenden systematisch ein verbrecherisches politisches Konzept aufbauten und durchführten, in welchem sie behaupteten, dass Frieden dort nur herrschen kann, indem man die Palästinenser unterdrückt und ihnen das Recht zur Selbstbestimmung verweigert.
Ich kann die deutschen Wissenschaftler, Philosophen, Erzieher und hochkarätigen Theologen nicht verstehen, die sich wie die drei bekannten Affen benehmen: Nicht hören, nicht reden, nichts sagen, wenn es um Israels offensichtliche gefährliche Politik geht. Ja, manche der Theologen, einschließlich zweier Pfarrer in Nürnberg, unterstützen diese Politik und verunglimpfen zum Beispiel ehrliche Dokumentationen der Situation im Film „Wir weigern uns Feinde zu sein – Deutsche Jugendliche begegnen Israelis und Palästinensern“ als antisemitisch.
Sie scheinen nie gelesen zu haben, dass das erste jüdische Kind Abrahams, Ismael war und dass Ismael, trotz friedlicher Trennung von Isaac, gemeinsam mit diesem jüngeren Bruder, Abraham zu Grabe getragen hat. Ist die Bibel, die ich als Jude lese, anders als die, die „hochkarätige“ Theologen lesen?
Genauso verstehe ich nicht, warum Günter Grass jetzt beharrlich schweigt, wo er doch so tief berührende Wahrheiten in seinem Gedicht „ Was gesagt werden muss“ geschrieben hat? Der größte und berühmteste Philosoph Habermas, behauptet mit „tiefsinniger Intelligenz“, dass Günther Grass dieses Gedicht nicht hätte schreiben müssen.
Für viele Deutsche, die mit Unbehagen meine wiederholten Mahnungen und Aufschreie hörten und weiterhin hören, bin ich quasi zu einem Wiederkäuer einer Wahrheit geworden: „Juden und Israel können nicht in Frieden leben, ohne die Palästinenser zu befreien und sich dem Unrecht zu stellen, was sie ihnen angetan haben, sei es durch Vertreibung, sei es durch Enteignung allen Besitzes, sei es durch Dämonisierung, Umzingelung und Aushungern“.
Als Mensch der in Israel/Palästina lebt, musste ich mit gebrochenem Herzen zusehen, wie im Land der Propheten ein anderes semitisches Volk – die Palästinenser – der Freiheit beraubt wurde und einer kriminellen Mauer ausgesetzt ist, die ihr Leben zur Hölle macht.
Bei der Verleihung des Aachener Friedenspreises (2003) wurde ich als „Hoffnungsträger für den Frieden“ ausgezeichnet – eine große Ehre für mich. Heute stehe ich hilflos und hoffnungslos mit der Befürchtung da, nicht mehr erleben zu dürfen, dass meine Träume – Liebe für die Menschen, Liebe für Frieden, für Freiheit, für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – wahr werden. Diese Träume haben für mich einen Teil der Welt zur Heimat gemacht, sei es in Israel/Palästina, sei es in Deutschland, sei es in Rumänien – wo ich geboren wurde. Gegenwärtig befinde ich mich in einem sehr großen Zwiespalt: Einerseits haben mich meine Träume blind gemacht, anderseits haben mich Träume beglückt, wo immer ich in dieser Welt Menschen begegnete.
Dem Satz treu bleibend, „Es gibt ein Deutschland, das ich liebe“, muss ich heute bedauerlicherweise feststellen, dass wahrscheinlich ein größerer Teil der Deutschen darauf beharrt, die Augen vor dem zum Himmel schreienden Unrecht im Heiligen Land zu schließen – dem Land, das von Millionen Deutschen so begeistert besucht und bewundert wird.
Zweifellos war es meine Blindheit, an die Machbarkeit vieler Träume zu glauben.
Der Liedermacher Gerhard Schöne hat mich mit Recht als ein Kind mit Falten betrachtet. Als so einer – auch angesichts der Trümmer meiner Träume, die zu Alpträumen geworden sind – will ich auch bis zu meinem letzten Atemzug weiterhin Hunderten und Tausenden von Menschen, die mir geholfen haben, viele von meinen Träumen zu leben, dankbar sein.
Herzlichst,
Euer Reuven
Berlin, 8. Juni 2014