Die Rede von Alexander Schlager auf der heutigen 240. Montagsdemonstration gegen das staatlich-industrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21) und zum morgigen vierten Jahrestag vom „Schwarzen Donnerstag“ am 30.09.2010. Die Rede trägt den Titel „Anmerkungen zum sogenannten ´Wasserwerferprozess´, oder: Die mangelnde Aufarbeitung des ´Schwarzen Donnerstag`
Liebe Freundinnen und Freunde,
zunächst einmal möchte ich mich herzlich bedanken für die Gelegenheit auf der heutigen Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 sprechen zu können. Und ich möchte mich ganz besonders bei euch allen bedanken, die ihr immer wieder montags und zu vielen anderen Gelegenheit den Widerstand gegen dieses unsinnige Projekt namens Stuttgart 21 auf die Straße tragt – und damit zeigt, dass ein Projekt, das unter Voraussetzungen von Lug und Trug zustande gekommen ist, kein demokratisch legitimiertes Projekt sein kann!
Stuttgart 21 ist nicht nur ein Projekt von Lug und Trug, Stuttgart 21 ist auch ein Exempel dafür, wie eine wild gewordene Exekutive immer wieder mit Bürgerinnen und Bürgern umgeht, die ihre demokratischen Demonstrations- und Versammlungsrechte wahrnehmen, mit Bürgerinnen und Bürgern, für die Demokratie mehr ist als alle vier oder fünf Jahre ihr Kreuz in der Wahlkabine zu machen. Stuttgart 21 ist nicht nur ein Exempel für die immer wieder stattfindende Verselbständigung der exekutiven Gewalt in unserem Staat, Stuttgart 21 ist auch ein Exempel für das Versagen der Kontrolle dieser Gewalt durch Parlament und Justiz.
Ich will nicht den guten Willen einzelner Beteiligter, sei es in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, sei es im Justizapparat, in Abrede stellen. Gleichwohl scheint mir hier ein strukturelles Versagen vorzuliegen, das es in den Blick zu nehmen und aus dem es Schlussfolgerungen zu ziehen gilt. Wie einige von euch vermutlich wissen, bin ich selbst Betroffener der Polizeigewalt vom 30.9.2010 und Nebenkläger im Prozess gegen zwei Einsatzabschnittsleiter der Polizei, denen der Vorwurf gemacht wird, nicht eingegriffen zu haben als Demonstranten durch Wasserwerfer verletzt wurden.
Nach dreieinhalb Jahren komplizierter und intensiver Ermittlungen, so die Begründung für diese lange Dauer bis zur Eröffnung des Verfahrens, langt es also für die Staatsanwaltschaft nur zu einer Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen zwei mittlere Polizeibeamte in einem sogenannten „Wasserwerferprozess“. Da stellen sich mir gleich mehrere Fragen: Sind schwere Verletzungen fahrlässig entstanden, wenn man einen Wasserwerfer als Räumfahrzeug benutzt und dabei mit einem Wasserstrahl von 16 bar auf Menschen schießt –auf Beine, Körper, Köpfe? Ist das nicht Vorsatz? Sind die beiden Einsatzabschnittsleiter die alleinig für die Durchführung des Polizeieinsatzes Verantwortlichen? Sind sie überhaupt die Hauptverantwortlichen?
Was ist mit einem ehemaligen Polizeipräsidenten Stumpf, der anweist, dass man ca. 1.400 Personen mit dem Wasserwerfer „wegräumen“ (Zitat Stumpf) müsse, mit einem „sehr rustikal[en], […], sehr harte[n] Einsatz“ (Zitat des als „Führungsunterstützung“ eingesetzten Polizeioberrats Thomas E. ), denn der Wasserwerfer solle ja schließlich „Wirkung erzielen“ (Zitat Stumpf)? Was ist mit einem ehemaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus, der „den Fehdehandschuh aufnimmt“, zum Abriss des Nordflügels „den Bagger reinholen“ lässt und sich die Abholzung des Schlossgartens pünktlich zu seiner Regierungserklärung servieren lässt?
Und schließlich: Was heißt hier „Wasserwerferprozess“? Wieso wird „nur“ wegen des Einsatzes des Wasserwerfers ermittelt? Was ist mit all denen, die durch Schlagstöcke und exzessiven Einsatz von Pfefferspray verletzt wurden? Was ist mit dem rechtswidrigen Einsatz von Pfefferspray gegen Minderjährige und Kinder? Was ist mit den zahllosen Verletzten, die sich nicht bis ins Basislager des – auf eigene Initiative angerückten, nicht gerufen durch die Einsatzleitung der Polizei – Roten Kreuzes haben durchschlagen können und daher offiziell gar nicht als Verletzte gelten? Bis heute, auch nicht unter der grün-roten Landesregierung hat niemand nach diesen Verletzten des „Schwarzen Donnerstag“ gefragt.
Wir haben es, das zeigen diese Fragen, beim „Schwarzen Donnerstag“ mit einem Komplex zu tun, dessen Aufarbeitung noch am Anfang steht. Und vieles von dem, was wir mittlerweile wissen, wissen wir nicht durch die Ermittlungen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, sondern durch die Arbeit unserer Rechtsanwälte, durch den unermüdlichen Einsatzes des AK Jura, durch die Informationen, die wir von vielen Zeugen und Beteiligten der Demonstration im Schlossgarten erhalten und durch die Öffentlichkeit, die durch euch, durch eure Teilnahme an den Montagsdemos und weiteren Aktionen gegen Stuttgart 21 hergestellt wird und durch die kritische Presseöffentlichkeit, wie sie etwa durch die Berichte in der Kontext-Wochenzeitung hergestellt wird. Dass es zu einem Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf gekommen ist, ist zuvorderst diesen Akteuren zu verdanken.
Deswegen an euch alle mein ganz herzlicher Dank. Und damit tatsächlich „die richtigen ins Visier“ genommen werden, so das Motto der heutigen Demo und des morgigen Aktionstages, braucht es weiter eurer aller Unterstützung und Engagement. Denn wir haben noch einen weiten Weg zu gehen, um zwei Ziele zu erreichen:
1. das Milliardengrab Stuttgart 21 zu verhindern;
2. zu einer wirklichen Aufarbeitung und zu echten Konsequenzen aus dem „Schwarzen Donnerstag“ zu kommen.
Dazu gehören für mich folgende Punkte:
– die Bestrafung aller für den Schwarzen Donnerstag Verantwortlichen, d.h. auch der politisch und in der polizeilichen Führungsspitze Verantwortlichen;
– endlich die Einführung der Kennzeichnungspflicht für Polizisten bei Großeinsätzen. Das hat nichts mit Misstrauen gegen die Polizei zu tun, Herr Gall. Dies ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt wieder Vertrauen zur Polizei fassen können;
– die Einrichtung unabhängiger Ermittlungskommissionen bei Vorwürfen von Polizeigewalt, damit nicht weiter 98 Prozent aller Ermittlungsverfahren wegen „Körperverletzung im Amt“ eingestellt werden bevor sie je vor einen Richter kommen;
– und an die grün-rote Landesregierung appelliere ich, dass sie, auch wenn sie natürlich keine Verantwortung für die Ereignisse des 30.9. trägt, sie daraus Konsequenzen zieht, indem sie seitens des Landes die Rechtswidrigkeit und Unverhältnismäßigkeit dieses Polizeieinsatzes anerkennt und die Opfer entschädigt.
Und ich bin mir sicher: Wenn wir weiter zusammen halten kann es uns gelingen, das Unsinnsprojekt Stuttgart 21 zu verhindern und zu einer echten Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse des Schwarzen Donnerstag zu kommen.
Vielen Dank!