Brief zum jüdischen Neuen Jahr
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich habe sehr mit mir gerungen, ob ich noch einen Brief zum jüdischen Neuen Jahr schreibe. Mehr und mehr bestätigt sich der Spruch des Propheten Amos 5,5.13 „Darum muss der Kluge zu dieser Zeit schweigen; denn es ist eine böse Zeit.“.
Oft denke ich daran, was überhaupt noch zu sagen wäre und ob in meinen zahlreichen Briefen an Euch noch etwas fehlt. In diesem Abwägen treibt mich bei aller Empörung über die existierende Realität mein Wunsch, dass es doch noch gelingen könnte, die schreckliche Blindheit vieler Menschen in Deutschland zu heilen – wahrscheinlich eine unbescheidene und unrealisierbare Illusion – noch einmal zu schreiben.
Nach einer erschütternden militärischen Niederlage, die – geblendet durch vorübergehenden Erfolg – die schlimmsten Befürchtungen übertraf, setzte sich auch bei Großmächten in der Geschichte oftmals die Wahrheit und die Vernunft durch. Diese Lektion konnte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lernen. Es schien sogar so, dass Deutschland auch tatsächlich daraus gelernt hat. Nun kamen das unwahrscheinliche Wunder der Wiedervereinigung und der Übergang von der Bonner zu der Berliner Republik – und momentan scheint Deutschland wieder viel zu vergessen.
Die israelische Politik ist aktuell – wie vor und während des Zweiten Weltkrieges die deutsche – durch Maßlosigkeit gekennzeichnet und zeigt keinen Hauch von Friedfertigkeit, indem sie brutal und hartnäckig das palästinensische Streben nach nationaler Freiheit und Selbstbestimmung unterdrückt.
Diese Zeilen schreibe ich nach den jüdischen Feiertagen, die mit Verzeihungsgebeten anfangen – ähnlich dem christlichen Fasten während der Adventstage – und enden mit begeistertem, oft fast berauschendem Tanz mit der Thora, woraus die Geschichte der Schöpfung (5 Bücher Moses) gelesen wird: Mit der merkwürdigen Erbsünde, mit dem ersten Brudermord, mit der Enttäuschung Gottes, die zur Sintflut und zur Rettung vom Untergang führt, da es wohl nur einen „fragwürdigen“ Gerechten namens Noah gab. Dann kam die Offenbarung Gottes mit dem festen Glauben Abrahams, dass nur ein Gott die Welt schuf.
Vieles wird jedoch vergessen, z.B. wie Gott am sechsten Tag den Menschen schuf als Mann und Frau – letztere nicht gerade aus der Rippe des Mannes. Ebenso wird vergessen, dass trotz der Erschütterung über die Untat Kains Gott die Rache – einen Fluch, der die Menschen bis unsere Zeiten verfolgt – verbietet. Wir vergessen auch die Verzeihungsgebete, das Schlagen auf die Brust in Richtung des Herzens, gepaart mit zahlreichen Bekenntnissen zu Dutzenden Sünden, mit denen Menschen sich in der Tat schuldig gemacht haben.
Zwischen dem neuen Jahr und dem Tag der Versöhnung und Verzeihung – Jom Kippur – liegen 10 Tage, in denen jeder jüdische Mensch seinen Mitmenschen um Verzeihung bittet. Ein klarer Satz eines jüdischen Weisen heißt: „Sünden zwischen Gott und Mensch verzeiht Gott an diesem Tag, Sünden zwischen Mensch und Mensch verzeihen die Menschen. Denn auch Gott – erzürnt durch den Niedergang der Menschheit – rettet die Welt vor der Sintflut als „Verzeihender“.
Im dem ehrfürchtigen Kol Nidre-Gebet heißt es: „Im Namen Gottes und im Namen der Gemeinde, im Namen des Himmels und im Namen der Erde erlauben wir, mit allen Sündern mit zu beten“. Und bevor der Fastentag des Jom Kippur anfängt, muss jeder Mensch seinen Mitmenschen um Verzeihung bitten – auch wenn sein Gegenüber sich hartnäckig weigert, sich als Sünder zu stellen und um Verzeihung zu bitten.
Der Zustand, die Verzeihung zu verweigern, herrscht in Israel. Hier wurde ein Buch unter dem Titel „Israbluff“ (Israelische Lüge) geschrieben. In der Alltagssprache hat sich das Wort „als ob“ durchgesetzt, auch wenn dieser Begriff nichts erklärt. So kann ich feststellen, dass die israelische Regierung „als ob“ Frieden will, dass es „als ob“ bereit ist zu verzeihen. Wir – Israel – sind eine „als ob“-Demokratie und ein „als ob“-Rechtsstaat und unterdrücken die Palästinenser seit Jahrzehnten, „als ob“ es rechtschaffende Gerichtsverfahren gäbe.
Aber, eine Mehrheit der israelischen Knesset bemüht sich unablässig, das Recht schaffende Oberste Gericht abzuschaffen. Damit schafft man grünes Licht für eine schreckliche Korruption, die oft Staatspräsidenten, Minister, Polizei-Offiziere und viele andere Oligarchen vor dem Gefängnis schonen.
Inzwischen stimmt meine Behauptung, dass Israel drei Sorten von Ministern zählt: diejenigen, die nach Jahren Gefängnisaufenthalt befreit wurden, diejenigen, einschließlich des ehemaligen Staatspräsidenten und eines Ministerpräsidenten, der durch eine Korruptionsaffäre zu jahrelanger Gefängnisstrafe verurteilt wurde, diejenigen, die noch ins Gefängnis kommen werden – beispielsweise der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert.
Durch eine unanständige Manipulation – neulich enthüllt durch eine pensionierte Richterin im Obersten Gericht – sitzt der Außenminister Lieberman nicht im Gefängnis.
Unter solchen Umständen über Hoffnung, die als letzte stirbt und von Frieden zu reden oder zu versuchen, der Korruption und den Ungerechtigkeiten zu entkommen – z.B. durch Auswanderung in die gelobte Stadt Berlin – ist nur Augenwischerei oder frömmelndes Lippenbekenntnis.
Was mich sehr beschäftigt, ist: Wie können wir Hoffnungen erfüllen und Wahrheit erreichen, ohne eine schreckliche Niederlage wie im Zweiten Weltkrieg dafür zu benötigen.
Der arabische Frühling, der sich zu einem bitteren Herbst und kalten Winter gewandelt hat, zeigt schon das hässliche und mörderische Antlitz des islamischen Fanatismus, der sich im grausamen islamischen Kalifat verkörpert.
Leider zähle ich zu den wenigen, die diese Tatsachen mit der Politik verbinden, die es zugelassen hat, die wiederholt gegebenen Friedensmöglichkeiten zu verpassen. Diese Versäumnisse sind u.a. der Nährboden für diesen Fundamentalismus.
Die israelischen Regierenden sind gezwungen worden, mit Ägypten und Jordanien Frieden zu machen – und dieser funktioniert. Ich frage mich, wie viel hochkarätige Politologen und regierenden Politiker bereit sind, sich zu der Tatsache zu bekennen, dass man dummerweise versäumt hat, mehrere Friedensgelegenheiten mit Palästina, Syrien, Libanon, den Arabischen Emiraten und vielleicht auch mit dem Irak aufzugreifen.
Und dennoch ist die Hoffnung nicht verloren. Die Voraussetzung dafür ist der Ausstieg aus der enormen Lüge, die – sei es von der westlichen Politik, sei es hauptsächlich vom israelischen Wahn von Groß-Israel mit der Bantusierung des palästinensischen Gebietes, sei es von diesem wachsenden islamischen Fanatismus, der den Weltfrieden gefährdet – gepflegt wurde.
Nur die Umkehr zu einer aufgeklärten Zivilisation kann der Hoffnung eine neue Perspektive öffnen.
Herzlichst,
Reuven Moskovitz
Oktober 2014