Wein, Blut und Benzin
Das Dorf KAFR KANA in der Nähe von Nazareth ist wahrscheinlich der Ort, an dem Jesus – so erzählt es das Neue Testament – Wasser in Wein verwandelt hat. Jetzt ist es ein arabisches Dorf, in dem die israelische Polizei Steine in Blut verwandelt.
An dem schicksalhaften Tag standen die Polizisten einer Gruppe junger Araber gegenüber, die gegen die Bemühungen Israels protestierten, den Status quo auf dem Tempelberg (die Muslime nennen ihn „das Edle Heiligtum“) zu verändern. Derartige Demonstrationen fanden an diesem Tag in vielen arabischen Städten und Dörfern in ganz Israel statt und besonders im besetzten Ostjerusalem.
Nach den ersten Aussagen der Polizisten hatte der 22-jährige Araber Kheir a-Din Hamdan sie mit einem Messer angegriffen. Die Polizisten hatten keine andere Wahl, als in Selbstverteidigung auf ihn zu schießen und ihn zu töten.
Wie so oft in Polizeiberichten war alles erstunken und erlogen.
DUMMERWEISE (für die Polizisten) wurde der Zwischenfall von Überwachungskameras aufgezeichnet. Die Bilder zeigen klar und deutlich, dass sich Hamdan einem Polizeiauto näherte und mit einem Gegenstand, vielleicht einem Messer, an die Fenster schlug. Als er sah, dass das keine Wirkung hatte, drehte sich Hamdan um und wollte weggehen.
In diesem Augenblick stiegen die Polizisten aus dem Auto und schossen sofort Hamdan in den Rücken. Der war getroffen und fiel zu Boden. Die Polizisten standen um ihn herum und nach einigem Zögern, währenddessen sie miteinander gesprochen hatten, begannen sie, den verwundeten Jugendlichen wie einen Sack Kartoffeln auf dem Boden in Richtung Auto zu schleifen. Sie warfen ihn im Auto auf den Boden und fuhren weg (anscheinend zu einem Krankenhaus). Die Füße stellten sie auf oder dicht neben den Sterbenden.
Die Bilder zeigen so eindeutig, dass es jeder sehen konnte, dass die Polizisten den Dauerbefehl hinsichtlich der Eröffnung des Feuers verletzten: Sie waren nicht unmittelbar in Lebensgefahr, sie hatten keinen Warnruf abgegeben, sie hatten nicht zuerst in die Luft geschossen, sie hatten nicht auf die unteren Körperteile gezielt. Sie hatten keinen Krankenwagen gerufen. Der Junge verblutete. Es war eine kaltblütige Hinrichtung.
Es gab einen Aufschrei. An vielen Orten tobten die arabischen Bürger. Unter Druck gesetzt, brachte der Untersuchungsausschuss der Polizei (der dem Justiz-Ministerium unterstellt ist) eine Untersuchung in Gang. Die erste Untersuchung deckte schon einige Tatsachen auf, die dem Zwischenfall einen noch ernsteren Anstrich gaben.
Es stellte sich heraus, dass die Polizisten, bevor die Kameras die Szene eingefangen hatten, Hamdans Vetter verhaftet und in das Auto gesteckt hatten. Offensichtlich wollte Kheir a-Din, dass sein Vetter freigelassen würde, und er schlug deshalb an das Autofenster. Der Vetter sah, wie auf Hamdan geschossen wurde und wie er dann in dem Auto, in dem er selbst saß, auf den Boden geworfen wurde.
Die erste Reaktion der Polizeiführung war, das Verhalten der Polizisten zu rechtfertigen. Ihre Namen und Gesichter wurden nicht bekanntgegeben. Sie wurden zu einer anderen Polizeieinheit weggezaubert.
ICH BESCHREIBE den Zwischenfall ausführlich, nicht weil er einzigartig wäre, sondern weil er im Gegenteil so typisch ist. Das Besondere daran war nur die unbemerkte Anwesenheit der Kamera.
Einige Minister lobten das vorbildliche Verhalten der Polizisten bei diesem Zwischenfall. Das kann man als Jagd extrem rechter Demagogen auf die Zustimmung der Öffentlichkeit abtun, die glauben, dass ihre Wähler absolut jedes Abschießen von Arabern gutheißen. Die sollten ja Bescheid wissen.
Eine Äußerung darf man jedoch nicht übersehen, nämlich die, die der Minister für Innere Sicherheit von sich gegeben hat.
Ein paar Tage vor dem Zwischenfall hatte Minister Jitzchak Aharonowitsch, ein Schützling Avigdor Liebermans und selbst ein früherer Polizeioffizier, öffentlich erklärt, er wünsche nicht, dass irgendein Terrorist einen Anschlag überlebe.
Das ist eine offenbar gesetzwidrige Äußerung. Tatsächlich ist es ein Aufruf zum Begehen von Verbrechen. Nach dem Gesetz dürfen Polizisten weder „Terroristen“ noch sonst irgendjemanden erschießen, nachdem diese gefangen genommen worden sind, schon gar nicht, wenn sie verwundet sind und zur betreffenden Zeit keine „lebensbedrohende Gefahr“ darstellen.
Aharonowitsch tritt immer als der nette Junge auf. Er hat das Talent, nach jedem berichtenswerten Ereignis – ob das nun ein schlimmer Autounfall, ein politisches Verbrechen oder ein Feuer ist – vor den Kameras aufzutauchen. Gott weiß, wie er das fertigbringt.
Im Grunde hat der Minister für Innere Sicherheit (früher Polizei-Minister genannt) praktisch keine Funktion. Seit den Tagen des Britischen Mandats ist der Generalinspekteur, ein uniformierter Berufsoffizier, der Kommandeur der Polizeikräfte. Die einzige Polizei-Funktion des Ministers ist es, der Regierung einen neuen Kommandeur zur Ernennung zu empfehlen.
Aber für gewöhnliche Polizisten klingt die Äußerung des Ministers wie ein Befehl. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die unverantwortliche Äußerung des Ministers das Verbrechen von Kafr Kana direkt bewirkt hat. Besonders deshalb, weil weder der Generalinspekteur noch der Ministerpräsident sie gebrandmarkt hatte.
Das alles erinnert an die schicksalhafte Äußerung des damaligen Ministerpräsidenten Jitzchak Schamir, der 1984 erklärt hatte, kein Terrorist solle nach einem Anschlag am Leben bleiben. Das direkte Ergebnis war die „Buslinie-300“-Angelegenheit, bei der vier arabische Jungen, von denen keiner irgendeine Waffe bei sich hatte, einen israelischen Bus entführt hatten. Der Bus wurde angehalten, zwei der Jungen wurden bei der Wiedereinnahme des Busses erschossen und zwei wurden lebend gefangen genommen. Einer von ihnen wurde vom Chef von Shin Bet Avraham Schalom eigenhändig ermordet: Er schlug ihm mit einem Stein den Schädel ein. Als die Bilder veröffentlicht wurden (zuerst von mir), wurden Schalom und seine Kollegen begnadigt. Schamir wies jede Verantwortung von sich.
ZURÜCK ZU DEN heutigen Ereignissen. Ist das die seit Langem erwartete Dritte Intifada? Ja oder nein?
Armee- und Polizeioffiziere, Politiker und besonders die Kommentatoren in den Medien beschäftigen sich mit dem Versuch, diese Frage zu beantworten. (Intifada bedeutet wörtlich „Abschütteln“.)
Das ist kein bloßes semantisches Spiel. Die Definition bringt Konsequenzen für das Handeln mit sich.
Tatsächlich steht das ganze Land jetzt in Flammen. Ostjerusalem ist bereits Kriegsgebiet, in dem es täglich Demonstrationen, Aufstände und Blutvergießen gibt. Im eigentlichen Israel veranstalten arabische Bürger seit dem Totschlag von Kafr Kana täglich Streiks und Demonstrationen. Im Westjordanland gab es einige Demonstrationen und die Erdolchung einer jüdischen Frau, nach der ein Araber erschossen wurde.
Mahmoud Abbas tut alles, was in seiner Macht steht, einen allgemeinen Aufstand zu verhindern; der könnte ihn sein Regierungsamt kosten. Aber der Druck von unten wird immer stärker.
Die Volksweisheit in Israel hat für die Situation schon einen Namen gefunden: „Intifada der Einzelnen“. Für die israelischen Sicherheitschefs ist das ein Albtraum. Auf eine organisierte Intifada sind sie vorbereitet. Sie wissen, wie sie sie mit Gewalt zerschlagen können und, wenn nötig, mit noch mehr Gewalt. Aber was sollen sie mit einer Intifada anfangen, die ganz und gar von einzelnen Individuen gemacht wird, von Einzelnen, die keinen Befehlen irgendeiner Organisation gehorchen, die keine Gruppen bilden, die von Kollaborateuren des Shin-Bet-Spionage-Netzes infiltriert werden können?
Ein einzelner Araber hört die Nachrichten, regt sich über die neueste Ausschreitung gegen das Edle Heiligtum auf und lenkt sein Auto in die nächstbeste Gruppe israelischer Soldaten und Zivilisten. Oder er nimmt aus der Küche des israelischen Restaurants, wo er Geschirr spült, ein Messer und ersticht damit Leute auf der Straße. Ohne Vorwarnung. Kein Netzwerk, das infiltriert werden könnte. Das ist schon recht frustrierend.
Der Mittelpunkt des Sturms ist der Tempelberg. Die al-Aqsa („weit entfernte“)-Moschee, der drittheiligste Ort des Islam, ist im Belagerungszustand. Einmal haben sogar israelische Soldaten – mit Stiefeln an den Füßen! – bei der Verfolgung Steine werfender Demonstranten die Moschee betreten.
WOHIN STEUERN wir?
Seit einigen Jahrzehnten plant jetzt eine Gruppe israelischer Fanatiker den Bau eines neuen jüdischen Tempels an der Stelle, wo jetzt die al-Aqsa-Moschee und der großartigen Felsendom stehen. Sie sticken Gewänder für die Priester und treffen die für Tieropfer notwendigen Vorbereitungen.
Bis vor Kurzem wurden sie als bloße Kuriosität betrachtet. Jetzt nicht mehr.
Einige Minister und Knesset-Abgeordnete haben entgegen dem Status quo den heiligen Bezirk betreten, um dort zu beten. Das hat in der gesamten islamischen Welt Alarm ausgelöst. Palästinenser in Ostjerusalem, im Westjordanland, im Gazastreifen und im eigentlichen Israel sind wütend.
Netanjahu verspricht, die Ruhe wiederherzustellen. Aber er tut das Gegenteil.
Jesus hat Wasser in Wein verwandelt. Netanjahu verwandelt Wasser in Benzin und gießt es in die Flammen.
15. November 2014
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler