Die Rede von Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack, ehemaliger Bahnmanager, auf der gestrigen 247. Montagsdemo der Bürgerbewegung gegen das urbane und regionale Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21). Die Rede trug den Titel „OB Kuhns Rosensteinviertel wird zum Phantom“.
Liebe Stuttgarter am 247. Montag des Großprojekts „Stuttgart21“! Vor 20 Jahren wurde die Deutsche Bahn in eine Aktiengesellschaft verwandelt mit der Absicht, sie zur Hälfte zu verkaufen. Vorstand Hartmut Mehdorn verhandelte dazu später mit russischen Oligarchen
und arabischen Ölscheichs. Da schon vorab befürchtet wurde, dass die erwarteten „Investoren“ Bahnhöfe und wertvolles Gelände zugunsten sofort abschöpfbarer Gewinne verkaufen, schuf die Bundesregierung und der Bundestag im Allgemeinen Eisenbahngesetz Barrieren dagegen: Will die DB eine Strecke oder einen Bahnhof stilllegen, so muss sie das vom Eisenbahnbundesamt genehmigen lassen: Das setzt voraus, dass sie die Bahnanlagen zuvor Dritten zur Übernahme oder zur Pacht anbietet – tut sie das nicht, ist die Stilllegung zu verweigern!
Des Weiteren wird in diesem Gesetz verlangt, dass anderweitige Nutzungen von Bahnanlagen einer „Freistellung“ bedürfen. Sie darf vom Eisenbahn-Bundesamt nur dann ausgesprochen werden, wenn kein Verkehrsbedürfnis mehr besteht und auch langfristig nicht zu erwarten ist. Die Promoter von Stuttgart 21 haben dies lange Jahre ignoriert oder sind den Flötentönen der DB blind gefolgt, die verkündeten, diese Gesetzesbestimmungen gälten für Stuttgart 21 nicht. Unter der Hand wurde kolportiert: Beim Befolgen dieser und anderer Gesetze ließe sich S21gar nicht realisieren – eine Gefährdung des Großprojekts rechtfertige einen quasiübergesetzlichen Notstand! Immerhin haben es die Promoter geschafft, die gesetzliche Sicherheitsbestimmung, dass ein Bahnhof kein Gefälle haben darf, außer Kraft zu setzen!
Nun haben Abgeordnete den wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags bemüht und ein Gutachten erhalten, in dem klipp und klar steht, dass die §§ 11 und 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes auch für S21 gelten, dass also die gesetzlichen Verfahren zur Stilllegung und Freistellung des Kopfbahnhofs samt Zufahrtstrecken durchgeführt werden müssen. Eine diesbezügliche Anfrage im Gemeinderat beantwortete seinerzeit OB Schuster damit, dass bei einem Scheitern der Stilllegung und Entwidmung des Kopfbahnhofs, dass also weder Manhattan noch Rosensteinquartier möglich würden, die Stadt den Kaufvertrag „rückabwickeln“ und damit den Kaufpreis zurückerhalten wolle. Da stand offensichtlich kurz der „GAU“ des Großprojekts im Rathaussaal… jedoch ohne Folgen: Statt schwarz sieht OB Kuhn so viel grün, dass er an allen gelben und roten Ampeln vorbeiprescht und dabei Recht und Gesetz ignoriert.
Denn schon zwei Mal verunglückten bei solchen Grundstücksmanövern andere Gemeinden: Sie kauften unbenutzte und stillgelegte Strecken von der DB, mussten sich jedoch von Gerichten darüber belehren lassen, dass hier, weil die Strecken nicht entwidmet waren, weiter Eisenbahnbetrieb stattfinden muss und dass keine anderweitige Nutzungen zulässig ist. Inzwischen rudern Bahn und Bundesregierung zurück: Sie erklärte im Bundestag, diese Verfahren könnten ja noch kurz vor der Fertigstellung von Stuttgart 21 durchgeführt werden! Die Gerichtserfolge beflügelten einige Eisenbahnunternehmen und -Experten, die Stuttgarter Netz AG zu gründen, weil sie sicher sind, den Kopfbahnhof mit den zugehörigen Strecken nach Fertigstellung des Tiefbahnhofs weiter zu betreiben zu können – aus vielfältigen Gründen:
• Mit dem Kopfbahnhof lassen sich bessere Anschlüsse mit weniger Wartezeit herstellen,
• Fahrten in den Kopfbahnhof kosten in etwa nur halb so viel Trassen- und Stationsentgelt,
• Der Kopfbahnhof lässt auch Dieselzüge zu, die im Tiefbahnhof verboten sind,
• Der Tiefbahnhof erfordert eine spezielle, sehr teure Zugsicherungseinrichtung „ECTS“.
Da die DB sich weigert, das gesetzliche Stilllegungsverfahren mit Ausschreibung der Anlagen durchzuführen, erhob die Stuttgarter Netz AG Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart: Bahn und Netz AG haben alle geforderten Schriftstücke eingereicht, die Beteiligten rechnen mit einer baldigen Verhandlung. Nun rückt der GAU für S21 näher, der „Rechts-Reaktor“ fährt in den kritischen Bereich! Während hier das Stuttgarter Rathaus davon nichts bemerkt, läuten offensichtlich in Berlin die Alarmglocken. Dort wirkt die Grauzone von Anfang 2013, als die von der DB proklamierten Kosten den Grenzwert von 4,5 Milliarden überschritten und Vorstand und Aufsichtsrat der DB zwangsläufig das Großprojekt hätten beenden müssen: Da griff die Kanzlerin ein und veranlasste über den Wirtschaftsminister „Durchhalten und Weitermachen“!
Das stellt nun offensichtlich Verkehrsminister Dobrindt in die Pflicht, den GAU abzuwenden. Er versucht dies mit seinem Instrumentarium, einer Gesetzesänderung. Da traf es sich ganz passend, dass die
Länder gerade den § 11 des AEG ergänzen und verschärfen wollten, damit auch sekundäre Anlagen, z.B. Abstellgleise, vor deren Abbau des Stilllegungsverfahrens bedürfen. Dies wurde aufgegriffen und
mit Modifikationen so „angereichert“, dass tatsächlich nun daraus abgeleitet werden kann, dass der Kopfbahnhof, weil er (so eine neue Bestimmung) gar nicht eigenständig betrieben werden kann, nicht
mehr Dritten angeboten werden muss.
Gott sei Dank – aus unserer Sicht! – schrieb ein Beamter in die Begründung zu dieser Gesetzesänderung den Klartext: „Ersatz eines Kopfbahnhofs durch einen leistungsfähigen neuen Durchgangsbahnhof“! Dieses Gesetzesänderungswerk zirkulierte wohl nur in engstem Kreis, jedenfalls erreichte es nicht die Bundestagsfraktion der Grünen – vielleicht, um das geruhsam-grüne Stuttgarter Rathaus nicht in seinen Planspielen „Rosensteinquartier“ zu stören?
Der Entwurf erreichte jedoch die kritischen Bahnexperten im Bündnis „Bahn für Alle“ und Herrn Wüpper, den Berliner Redakteur der Stuttgarter Zeitung, die nun als erste über das geplante Änderungswerk berichtete; Eisenbahn-Fachzeitschriften folgten, ich selbst schrieb darüber im Eisenbahn-Kurier. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, die Grünen starteten im Bundestag eine Anfrage, Verkehrsminister Hermann erklärte seinen Widerstand… Am Freitag vernahm ich aus den Berliner Kulissen, der Gesetzentwurf werde begraben! Hoffen wir es!
Was erfahren wir damit? Was lernen wir daraus?
Zunächst – wenn sich das „Versenken“ bestätigt – einen Erfolg des Widerstands! Weiterhin: Die Chancen, dass nun die Gerichte die Bahn verpflichten, den Kopfbahnhof anderen Bahnunternehmen zu überlassen, sind höher als zuvor! Der GAU „Rückabwicklung der Verträge“ kommt in Sichtweite! Die Unterwühlung, ja partielle Zerstörung der Stadt wird sinnlos und absurd, wenn der Kopfbahnhof weiter betrieben wird – und unbezahlbar, wenn die Stadt 500 oder gar 700 Millionen Euro zurückfordert. Das Hexentheater auf den Fildern wird beendet: die Gäubahnzüge fahren über die Panoramastrecke in den Kopfbahnhof, schön und problemlos! Das gilt auch für andere Züge: Wegen des illegalen Gefälles darf der Tiefbahnhof nur mit dem extrem teuren ECTS-Signalsystem befahren werden: Keiner der heutigen Züge hat es! Jeder der in den Kopfbahnhof fahrenden Züge spart wegen der viel geringeren Trassenkosten Steuergeld und ermöglicht es dem Land, mehr Zugleistungen zu bestellen!
Welche Chancen, welche Aussichten haben wir?
Stuttgart 21 wird an dramatischen Hindernissen scheitern und diejenigen Bürger und Politiker wecken, die bislang blind den nebulösen Versprechen glauben, die bisher nur in ihren Wohnzimmern Krimis sehen und plötzlich wahrnehmen, dass ganz reale Abenteuer ihre Stadt zerstören! Sie hier auf diesem Platz engagieren sich, Sie bringen unzählige Opfer: Damit schaffen Sie soziale Energien und Gemeinschaftskräfte in dieser Stadt, die Früchte bringen wer-
den… wenn Sie durchhalten!
Egal, welche Löcher noch gegraben werden: Der Kopfbahnhof bleibt in jedem Fall! Die Tiefengraberei wird absurd! Wir bleiben oben!
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