Zur Verfassung von Palästina
Nach der faktischen Anerkennung durch die Vereinten Nationen und den Internationalen Strafgerichtshof durch Inkraftsetzen des Römischen Statuts für den Staat Palästina in der Nacht zum 7. Januar, dem am Morgen in Paris das Charlie Hebdo Attentat von und für Blauäugige folgte, stellt sich nun die Frage nach der Verfassung dieses neuen, wenn auch noch besetzten Staates am Mittelmeer.
Israel und die Vereinigten Staaten von Amerika, beide keine Vertragsparteien des Römischen Statuts, hatten zuvor mit aller nicht vorhanden Macht versucht genau diesen Schritt zu verhindern. Die Staats- und Parteichefs Netanyahu und Obama behalten ihre gemeinsam abgesprochene Position weiterhin bei, stellen sich gegen die Realitäten der Weltgemeinschaft und spielen für den Fortgang der völkerrechtlichen Entwicklung auf internationaler Ebene, sowie der souveränen innerstaatlichen Entwicklung von Palästina, keine Rolle.
Vielmehr kann Palästina nun, mit Unterstützung der internationalen Institutionen und der überwältigenden Mehrheit der Weltöffentlichkeit, in aller Ruhe und Souveränität selbst entscheiden welchen Weg es gehen und welche Staatsform es sich geben will. Diesbezüglich arbeitet die Zeit für Palästina. Die Mehrheiten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben sich seit dem Verrat vom 30. September, der auf direkte Intervention von Israel und den U.S.A. erfolgte, mit dem Einzug von Angola, Venezuela, Spanien, Malaysia und Neuseeland entscheidend geändert. Selbst in Neuseeland wird nicht nur eine Enthaltung, sondern ein Ja bei der nächsten Abstimmung über die Unabhängigkeits-Resolution Palästinas diskutiert, welche die Palästinensische Befreiungsorganisation und ihr leitender Verhandlungsführer Saeb Erekat bereits angekündigt haben.
Ohne Bestand vor dem Gerichtshof der Öffentlichen Meinung und Unterstützung der Vereinten Nationen werden die Besatzungstruppen und Kolonisten Israels Palästina über kurz oder lang verlassen müssen. Die israelische Mauer, auf palästinensischem Territorium errichtet, wird fallen.
„und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“
Wie wird nun die Verfassung von Palästina entstehen? Wie werden ihre Artikel, was wird ihr Inhalt sein? Welchen Geist wird sie atmen?
Fakt ist, dass all dies einen gewaltigen Effekt auf den muslimischen und arabischen Teil der Welt haben wird. Und darüber hinaus. Palästina und seine Verfassung können ein Vorbild für die gesamte Region Vorderasiens, sowie für die Staaten- und Verfassungsbildung auf dem Planeten insgesamt sein. Gerade auch für das verfassungslose Israel, dessen fragile Demokratie sich zunehmend destabilisiert und dessen zio-faschistisches Regime an dem Versuch zerbrochen ist, selbst die eigene Unabhängigkeitserklärung durch die Systemveränderung zu einem institutionell nationalistisch-klerikalen und rassistischen Staat in Frage zu stellen.
Stets wurden die Palästinenser von den Großmächten für geopolitische Zwecken missbraucht. Ihre eigene Oberschicht hat diesen oft zugearbeitet. Dieser Artikel soll nun keinen Versuch einer Intervention darstellen oder einer solchen direkt oder indirekt zuarbeiten, sondern in ehrlichem Interesse an der prosperierenden Koexistenz zweier Staaten im für drei Weltreligionen heiligen Land ein paar Ideen vorbringen.
Die Republik
Die Staatsform Palästinas wird letztlich auch dessen Gesellschaftsordnung prägen, vielleicht sogar entscheiden. Die Republik ist die höchste Form der Demokratie, da sie diese schriftlich durch eine Verfassung sichert und bei entsprechender Umsetzung und Teilung der Gewalten garantiert, statt sie der Willkür und dem Missbrauch ehrenwerter Monarchen, Medienmogulen, imperialer Präsidentschaften und manipulativer Mechanismen ausliefert.
Anzunehmen ist, dass es auf eine Republik Palästina hinauslaufen wird.
Sicherlich ist ebenfalls anzunehmen, dass es gesellschaftliche Gruppen in Palästina gibt, die eine Islamische Republik nach dem Vorbild des Iran bevorzugen würden. Die P.L.O. sollte diesen Standpunkt akzeptieren und gegen diesen einen eigenen Verfassungsentwurf vorlegen, ohne zu versuchen andere Entwürfe zu unterdrücken oder den sinnlosen Weg eines Konsens zu versuchen. Gruppen, letztlich lediglich Milizen, wie der „Islamische Dschihad in Palästina“ oder die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, sind bei jedem auf Wahlen basierenden politischen Prozess irrelevant. Bei der Hamas sieht das schon anders aus. Gegen sie verlor die P.L.O. die Wahlen von 2006. Das sollte der P.L.O. zu denken geben.
Entscheidend wird sein, wie die Palästinenser, die als Staatsvolk genauso divergent und vielfältig sind wie jedes andere, einerseits ihre Differenzen austragen und andererseits ihre verschiedenen Strömungen insoweit interagieren, dass sie sich auf einen tragfähigen Gesellschaftsvertrag einigen, eine Verfassung.
Jedweder Verfassungsentwurf, der von provisorischen, indirekt gewählten, oder sogar gar nicht gewählten Gremien entwickelt werden sollte, etwa durch die Autonomiebehörde oder den Legislativrat, ist zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn dieser Entwurf, in westlicher Manier von „magischen“ Rechtszerbrechern zu London entworfen und auf die Etablierung einer weiteren Finanzkolonie in Vorderasien zugunsten des weltweiten Bankenkartells ausgerichtet, alternativlos dem Palästinensischen Volk vorgelegt werden sollte, würde dieser bereits den Keim des Verfalls und der Destruktion in sich tragen. Von Neid zerfressene Imperialisten und Usurpatoren, allen voran die Menschenschinder der saudischen Monarchie und ihre Brüder und Schwestern in der Nomenklatura Israels, würden alle Hebel in Bewegung setzen um die Republik Palästina und deren Aufblühen über ihren leider immer noch vorhandenen Einfluss auf die winzige palästinensische Funktionärs-Kaste bereits im Keim zu ersticken.
Nur ein Gremium, dessen Mitglieder ausschließlich die Aufgabe der Entwicklung eines tragfähigen Verfassungsentwurfs haben, die mit dieser Aufgabe keine weiteren Profit- und Karriereinteressen verbinden können und die direkt aus dem Volke Palästinas gewählt sind, wird dieser Aufgabe gerecht werden.
Womit wir zur Verfassungsgebenden Versammlung kommen.
Die Verfassungsgebende Versammlung
Was die Meisten nicht wissen: nach der Revolution in den nordamerikanischen Kolonien des Britischen Imperiums im Jahre 1776 dauerte es zwölf Jahre und einen Krieg, bis vom ersten Kontinentalkongress (1774-1775), vom zweiten Kontinentalkongress (1775 – 1781) und dem Kongress der Konföderation (1781-1789), bis sich die dreizehn, bis dahin lose über die “Konföderationsartikel” verbundenen ehemaligen Kolonien schließlich 1787 in einer über vier Monate andauernden Versammlung in Philadelphia auf eine Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und ein Regelwerk zu deren Inkraftsetzung einigten.
Mal abgesehen vom Schicksal der dortigen Ureinwohner: das kann kein Maßstab für das 21. Jahrhundert sein. Aber einerseits ein Hinweis darauf, wie schwierig die Entwicklung einer Verfassung tatsächlich ist, sowie andererseits für die Größe der Chance die mit einem Gelingen verbunden sind.
Eine Verfassungsgebende Versammlung von Palästina sollte in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher, geheimer und direkter Wahl gewählt werden, also nicht etwa über Listenverbindungen, Parteien-Anteile, etc, pp. Zur Wahl sollten sich in allen noch zu bestimmenden Regionen Personen aus dem tatsächlichen realen Leben in Palästina stellen, Arbeiter wie Wissenschaftler, Künstler wie Ärzte, Juristen wie Menschenrechtler, sowie Repräsentanten und Dissidenten aller politischen, geistigen und religiösen Strömungen. Da die derzeitig einflussreichen Gruppen wie die Fatah oder die Hamas alle jeweiligen Kandidaten entweder unterstützen oder ablehnen werden, ergibt sich deren Einfluss von selbst, allerdings ohne bestimmend oder manipulativ wirken zu können, da in jeder Region bzw in jedem Wahlbezirk die Vertreter in der Verfassungsgebenden Versammlung unabhängig voneinander gewählt werden.
Nach der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung, die eine ganz eigene Dynamik entfalten wird, nimmt sich diese erst einmal Zeit und zwar alle die sie braucht. Um einerseits die Blockade oder Zersetzung durch eine extreme Minderheit zu verhindern und andererseits einen möglichst breiten Rückhalt in der Bevölkerung zu gewährleisten, wäre eine Drei-Viertel-Mehrheit für den Beschluss eines Verfassungsentwurfs zielführend. Ideen und Diskussion in der Palästina (und im Zuge dieser Zwei-Staaten-Lösung durchaus auch Israel) wohlwollend gegenüberstehenden Weltöffentlichkeit werden diese Entwicklung aller Voraussicht nach positiv beeinflussen und bereichern, unter Wahrung des Respekts für die souveräne Entscheidung des palästinensischen Staatsvolkes.
Wohlgemerkt – des palästinensischen Staatsvolkes. Denn ein Weg diesen ganzen Prozess zu sabotieren, wäre zu versuchen nicht in Palästina lebende Palästinenser um jeden Preis in den Verfassungsgebungsprozess einzubinden. Die Flüchtlingsfrage kann erst nach der bzw durch die Implementierung der palästinensischen Verfassung produktiv und konstruktiv gelöst werden. Nicht vorher.
Nach der Erstellung eines Verfassungsentwurfs oder mehrerer Entwürfe, werden dieser dem Staatsvolk von Palästina in Palästina zur Abstimmung vorgelegt. Ein Entwurf könnte z.B. durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen werden und anschließend sofort in Kraft treten. Erreicht kein Entwurf diese Mehrheit, gehen der Entwurf bzw die Entwürfe zurück an die Verfassungsgebende Versammlung.
Diesbezüglich sollte dem Palästinensischen Staatsvolk explizit das derzeitige Schicksal Ägyptens ein mahnendes Beispiel sein. Bereits mitten in der Revolution, am 29. Januar 2011, wies ich daraufhin, dass nun der Wahl-Kampf um eine neue Republik begonnen hatte und dass diejenigen, die das am schnellsten begreifen und die eigenen politischen Kräfte organisieren könnten, die kommenden Parlamentswahlen und eine eventuelle Nationalversammlung (Verfassungsgebende Versammlung) dominieren würden. Ägypten zugewandt gestattete ich mir anlässlich vom Besuch des damaligen noch amtierenden und demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens, Mohammed Mursi, in Berlin am 30. Januar 2013 folgenden guten Rat:
„Ägypten muss eine verfassungsgebende Versammlung wählen. Und die wählt dann eine neue Verfassung. Solange gilt die jetzige. Alles andere führt nur ins Chaos, in die von einer einflussreichen Minderheit gestützten Gewalt (des Stärken, also des Militärs), in Verfall und schließlich wieder in die Diktatur. Das muss Präsident Mursi, das muss die Muslimbruderschaft begreifen.“
Sie begriffen es nicht. Und nach dem Militärputsch im Juli 2013 wurden die Ägypter natürlich abermals um ihre Verfassungsgebende Versammlung betrogen.
Wenn nun die Hamas irgendetwas begreift, fordert sie, im Kontext einer Verständigung mit der P.L.O., genau diese Verfassungsgebende Versammlung für das Volk von Palästina. Sie sollte nicht die fatalen, verheerenden Fehler der Muslimbruderschaft in Ägypten begehen, nicht in bräsiger Eitelkeit die säkularen Kräfte vor den Kopf stoßen und sich nicht mit wahabitischen / salafistischen Extremisten verbünden, die in Ägypten den Militärputsch unterstützten und die Muslimbruderschaft ans Messer lieferten.
Und vor allen anderen verheerenden Fehlern und unfassbaren Dummheiten sollte die Hamas sich nicht mit den Amerikanern einlassen. Und sich von diesen Berufslügnern der 5. Generation nicht wieder irgendwelche Genialitäten wie die Kollaboration bei der Syrien-Invasion aufschwatzen lassen.
Was ich von Khaled Meshaal halte, habe ich schon vor geraumer Zeit geschrieben. Möge er irgendwo Pfeffer planzen. Und dort bleiben.
Vorsicht gilt auch für die P.L.O. und dem, für mich unerklärlicherweise bis heute selbst in der Russischen Föderation, offenkundig wirkenden Steinmeier-Syndrom. Hanebüchende Versuche in Absprache mit der Berliner Regierung, dem Weißen Haus und der israelischen Regierung deutsche Soldaten oder Einheiten in irgendwelche Intrigen gegen die Hamas und eine Eroberung des aufständischen Gazastreifens zu involvieren, sollten die Autonomiebehörde und Mahmud Abbas lieber ganz schnell vergessen und nie wieder versuchen.
Die Verfassung von Palästina
Klar ist, dass ein unabhängiges Palästina, überfällig seit dem Abzug der britischen Kolonialtruppen vor über 67 Jahren, nur entlang der Waffenstillstandslinie von 1949 existieren kann, also diesen Grenzen. Phantasien über ein Verschwinden Israels bzw ein Palästina in den Grenzen von 1920 („from the river to the sea“) sind genauso verheerend wie die eines Kolonialreiches Groß-Israel, auf dass wiederum das zerfallende Netanyahu-Regime und die in Bedeutungslosigkeit versinkende Obama-Präsidentschaft setzen.
Drei Grundfehler nun sollte die Verfassung einer Republik Palästina vermeiden:
a) von der noch herrschenden Kolonialmacht Israel „lernen“ bzw sich auf diese zu beziehen, egal ob positiv oder negativ, also z.B. so etwas wie Unter- oder Überbürger nach Zugehörigkeit zu Kirchen, Ethnien oder anderen Minderheiten zu schaffen, welche auch immer das sein mögen…
b) irgendeinem „pro-asiatischen“ Selbstmord-Kult verfallen bzw panarabische Fantasien verfolgen, nach dem „Vorbild“ der auf Zerstörung der europäischen Demokratien ausgerichteten zentralistischen Blockmodell der sogenannten „Europäischen Union“…
c) die Kontrolle über das eigene Finanzsystem dem internationalen Bankenkartell bzw dessen Handlangern wie dem „Internationalen Währungsfonds“ in den Rachen zu werfen.
Punkt c) ist vielleicht der brisanteste und sollte nicht unterschätzt werden. Dazu noch einmal der Hinweis: meiner bescheidenen Meinung nach war der eigentliche Hintergrund des Militärputsches in Ägypten Artikel 206 der von der Muslimbruderschaft durchgesetzten Verfassung, der in Rückwirkung mit Artikel 122 einem Ausschuss der ägyptischen Abgeordnetenkammer die parlamentarische Kontrolle des ägyptischen Geldsystems ermöglichte.
Eine gute Zukunft für Palästina, in mürrischem Frieden neben Israel
Palästina kann seine Situation in Frieden und Unabhängigkeit nur verbessern, solange es zusammenhält und nicht den Fehler Indiens nach der Befreiung von der Gewaltherrschaft des Britischen Empire begeht. Heute stehen sich zwei Atommächte mehr oder weniger feindlich gegenüber, Indien und Pakistan, sowie das letztlich von Pakistan abgefallene Bangladesch.
Nicht ein multikulturelles, ein multiethnisches, ein multireligiöses Palästina, sondern ein interkulturelles, ein interethnisches, ein interreligiöses Palästina wird Bestand haben, welches Unterschiede nicht versucht wegzuassimilieren, zu ignorieren oder zu unterdrücken, sondern die eigenen Unterschiede stehen lässt, die eigene Vielfalt akzeptiert und einen Weg findet seine inneren Differenzen ohne Blutvergießen und nach allgemein akzeptierten Rechten und Regeln auszufechten, ohne das Recht des Stärkeren einreißen zu lassen.
Die Sympathie der Welt wird Palästina dabei sicher sein.