Im kommenden Jahr soll ein neues Weißbuch der Bundeswehr veröffentlicht werden, dessen Zweck und Relevanz auf der Homepage der Truppe folgendermaßen beschrieben wird:
„Das Weißbuch stellt die Grundzüge, Ziele, und Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik, die Lage der Bundeswehr und die Zukunft der Streitkräfte dar. Das Weißbuch steht in der Hierarchie sicherheitspolitischer Grundlagendokumente an oberster Stelle, gefolgt von den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR).“
Das aktuelle Weißbuch stammt noch aus dem Jahr 2006 und beinhaltet folgenden Kernsatz, der sich gleich im Vorwort finden lässt:
„Die Bundeswehr ist durch den größten Wandel ihrer Geschichte gegangen. Sie ist immer mehr zu einer Armee im Einsatz geworden.“
Tatsächlich waren der Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee und die damit einhergehende „Enttabuisierung des Militärischen“ (Gerhard Schröder) zum damaligen Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten. Das Weißbuch hatte also vorrangig die Aufgabe, Ross und Reiter beim Namen zu nennen und damit eine Art Knopf an die bisherige Entwicklung zu machen, vor allem weil sich besonders angesichts des desaströsen Verlaufs des Afghanistan-Krieges zunehmend Skepsis in der Bevölkerung ob des bisherigen Interventionskurses breit machte.
In vielerlei Hinsicht hat es den Anschein, als diene die für 2016 geplante Neuauflage demselben Zweck: Nur steht heuer augenscheinlich nicht mehr die Frage im Zentrum, ob militärische Mittel überhaupt eingesetzt werden sollen, sondern wie häufig, in welcher Form und vor allem zu welchem Zweck. Die Debatte hierum kam spätestens mit den Auftritten von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und vor allem von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 in Gang. Ihre unisono lautstark erhobene Forderung: Deutschland müsse international mehr militärische „Verantwortung“ übernehmen und künftig seinem wirtschaftlichen und politischen „Gewicht entsprechend handeln“ (Gauck).
Stand beim aktuellen Weißbuch also die generell die „Enttabuisierung des Militärischen“ auf der Agenda, dürfte es bei der 2016er Version also primär darum gehen, die „Enttabuisierung militärischer Großmachtpolitik“ aktiv zu propagieren. So beschrieb Silke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift „Internationale Politik“, die Dynamik beim ersten Treffen der von ihr geleiteten Weißbuch-Arbeitsgruppe „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ folgendermaßen:
„Die Debatte wurde maßgeblich angetrieben durch die faktische Verantwortung und die Realitäten der deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.“ Ins selbe Horn blies auch Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der Auftaktveranstaltung des Weißbuchprozesses. Dort betonte er, das Ziel sei es, zu untermauern, „dass wir im Stande sind, unsere Interessen zu verteidigen, wo das erforderlich ist, und Verantwortung zu übernehmen, wo es angemessen [ist].“
Nun hat die ganze Angelegenheit allerdings einen großen Haken – der Großteil der Bevölkerung will von einer militarisierten Verantwortungspolitik Gauckscher Prägung absolut nichts wissen. So fasste die Süddeutsche Zeitung die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage vom April und Mai 2014 folgendermaßen zusammen:
„Verglichen mit den Ergebnissen einer ähnlichen Untersuchung der amerikanischen Rand-Corporation aus dem Jahr 1994 haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Damals plädierten 62 Prozent für ein größeres deutsches Engagement. Heute sind es noch 37 Prozent. Damit wird klar: Eine deutliche Mehrheit steht den Plädoyers von Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Steinmeier, Deutschland möge sich weltweit mehr engagieren, erst mal skeptisch gegenüber.“
Und genau hier dürfte der Grund dafür liegen, dass der Weißbuchprozess in eine auf die Bevölkerung gerichtete Charmeoffensive eingebettet ist, wie auf der Bundeswehr-Seite zu lesen ist:
„Erstmalig ist in Deutschland beabsichtigt die Erstellung des Weißbuches durch einen breit angelegten, öffentlichen Partizipationsprozeß zu begleiten. […] Der Entstehungsprozess ist so angelegt, um durch Einbeziehung vieler sicherheitspolitisch Interessierter und vor allem der Öffentlichkeit ein breites Interesse zu erreichen.“
Den Sinn und Zweck der Übung beschrieb Wolfgang Ischinger bei seinem bereits erwähnten Auftritt folgendermaßen:
„Das Weißbuch hat ja nicht nur den Zweck Konsens innerhalb der Bundesregierung über Ziele, Mittel, Ressourcen und Methoden der Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen, sondern es soll auch das Verständnis in der Bevölkerung dafür wecken, dass wir Sicherheitspolitik brauchen, warum wir sie brauchen, wofür die Mittel, die dafür ausgegeben werden, notwendig sind. Ich denke dieser zweite Bereich ist gerade in unserer Zeit besonders wichtig.“
Natürlich soll sich das Weißbuch auch damit beschäftigen, wie die nassforsch formulierten Großmachtansprüche militärisch-machtpolitisch „effektiv“ mit Leben gefüllt werden können. Das jedenfalls fordert etwa Christoph Hickmann von der Süddeutschen Zeitung:
„Das Grundproblem ist, dass hierzulande bislang nie offen diskutiert wurde, was Deutschlands Verbündete längst aussprechen: Dass aus der ökonomischen und politischen Stärke dieses Landes die Verantwortung erwächst, im äußersten Fall auch militärisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen haben im vergangenen Jahr versucht, dieses Tabu zu brechen. Ihre Ankündigung, Deutschland werde mehr Verantwortung übernehmen, krankte allerdings daran, dass sie diesen Satz nicht konkret unterfüttern konnten. Was sollte das denn genau heißen, mehr Verantwortung? Für diese Konkretisierung ist das Weißbuch jetzt das richtige Instrument. Das Weißbuch muss die sicherheitspolitische Selbstbestimmung werden, um die dieses Land sich bislang immer herumgedrückt hat.“
Wesentlichen Raum dürften dabei auch rüstungspolitische Fragen einnehmen, um generell die Schlagkraft zu erhöhen – oder, in den Worten von Thomas Wiegold von der Weißbuch-Arbeitsgruppe „Perspektiven der Bundeswehr“ betont:
„Die Arbeitsgruppe wird […] beraten, welche Fähigkeiten die Bundeswehr langfristig braucht, oder man könnte auch sagen, wie die PS auf die Straße gebracht werden.“
Doch im Zentrum des Prozesses dürfte der Versuch stehen, der Bevölkerung einzutrichtern, dass die Straße, die dabei befahren werden muss, schnurstracks in Richtung deutsche Weltmacht führt.
Erstveröffentlichung am 17.März 2015 auf Informationsstelle Militarisierung e.V.