Lizenz zum Töten
Die Geschichte ist immer wieder die Gleiche: aufgrund einer Anhäufung von günstigen Umständen wird ein Land mächtig – viel mächtiger als der Rest – und nimmt eine Zeit lang die führende Position ein. Aber die günstigen Umstände, die oft nicht viel mehr ausmachen als ein paar vorteilhafte Launen der Geologie, sei es walisische Kohle oder westtexanisches Erdöl, gehen mit der Zeit zu Ende. In der Zwischenzeit wird die einstige Supermacht durch ihre eigene Macht korrumpiert.
Wenn das Endspiel naht, greifen die noch immer für das zusammenbrechende Imperium Zuständigen zu allen Arten von verzweifelten Maßnahmen – allen außer einer: sie werden sich weigern, die Tatsache in Betracht zu ziehen, dass ihre imperiale Supermacht am Ende ist, und dass sie ihre Vorgangsweise danach ausrichten sollten.
George Orwell gab einmal eine exzellente Erklärung für dieses Phänomen: wenn das Endspiel naht, wird es zu einer Maßnahme der imperialen Selbsterhaltung, eine herrschende Klasse für einen speziellen Zweck heranzuzüchten – eine, die nicht imstande ist zu begreifen, dass das Endspiel naht. Weil, sehen Sie, wenn die eine Ahnung hätten, was los ist, würden sie ihre Jobs nicht ernst genug nehmen, um das Spiel so lange wie möglich am Laufen zu halten.
Der herannahende imperiale Zusammenbruch lässt sich erkennen an den immer schlechter werdenden Ergebnissen, die das Imperium bei seinen imperialen Anstrengungen erzielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereinigten Staaten von Amerika imstande, mit der Hilfe zum Wiederaufbau Deutschlands und des Restes von Westeuropa eine respektable Leistung zu erbringen. Auch Japan ging es gut unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika, ebenso Südkorea nach dem Ende des Kriegs auf der koreanischen Halbinsel. In den Fällen Vietnam, Laos und Kambodscha, die alle durch die Vereinigten Staaten von Amerika schwere Schäden erlitten haben, waren die Ergebnisse signifikant schlechter: Vietnam war eine eindeutige Niederlage, Kambodscha machte eine Periode des Völkermords durch, während das erstaunlich resiliente Laos – das am schwersten bombardierte Land auf dem Planeten – sich aus eigener Kraft erholte.
Der erste Golfkrieg verlief sogar noch schlimmer: weil sie Angst davor hatten, in den Irak einzumarschieren, verzichteten die Vereinigten Staaten von Amerika gerade noch auf ihre übliche Praxis, die Regierung zu stürzen und ein Marionettenregime zu installieren und ließen das Land ein Jahrzehnt lang in einer Grauzone. Als die Vereinigten Staaten von Amerika dann letztendlich einmarschierten, bestand ihr Erfolg darin, dass sie – nach der Tötung zahlloser Zivilisten und Zerstörung eines großen Teils der Infrastruktur – die verstümmelte Leiche eines Landes hinter sich ließen.
Ähnliche Ergebnisse wurden erzielt in anderen Bereichen, wo die Vereinigten Staaten von Amerika es für angemessen hielten, sich einzumischen: Somalia, Libyen und in jüngster Zeit Jemen. Lassen wir Afghanistan beiseite, wo kein einziges Weltreich geschafft hat, gewünschte Ergebnisse zu erzielen. Der Trend ist also unverkennbar: während das Imperium in seiner Blütephase zerstörte, um die Welt nach seinem Vorbild aufzubauen, zerstört es angesichts seines nahenden Endes einfach nur mehr um der Zerstörung willen und hinterlässt Berge von Leichen und rauchende Ruinen.
Ein weiterer unverkennbarer Trend hat zu tun mit der Wirkungskraft der Ausgaben für „Verteidigung“ (die im Fall der Vereinigten Staaten von Amerika in „Angriff“ umbenannt werden sollte). Ein großzügig ausgestattetes Militär kann manchmal zum Erfolg führen, aber auch hier hat sich einiges im Lauf der Zeit geändert. Der berühmte amerikanische wir-schaffen-das-Geist, der im Zweiten Weltkrieg allgemein erkennbar war, als die Vereinigten Staaten von Amerika den Rest der Welt mit ihrer industriellen Macht überflügelten, ist nicht mehr. Jetzt sind immer mehr die Ausgaben für das Militär selbst das Ziel – ganz egal, was damit erreicht wird.
Diesbezügliche Errungenschaften sind etwa das neueste F-35 Kampfflugzeug, das nicht fliegen kann; der neuste Flugzeugträger, der keine Flugzeuge starten lassen kann, ohne sie zu zerstören, wenn sie die Zusatztanks montiert haben, die sie für Kampfeinsätze benötigen; den technologisch höchstentwickelten AEGIS-Zerstörer, der von einem einzelnen unbewaffneten russischen Flugzeug mit der entsprechenden elektronischen Ausstattung außer Gefecht gesetzt werden kann, und einen weiteren Flugzeugträger, der von ein paar routinemäßig patrouilliernden russischen U-Booten aus dem tiefen Wasser gescheucht und zum Ankern gezwungen werden kann.
Aber die Amerikaner mögen ihre Waffen, und sie geben sie gerne weiter, um ihre Unterstützung zu zeigen. Aber in den überwiegenden Fällen geraten diese Waffen in die falschen Hände: diejenigen, die sie einst dem Irak gaben, befinden sich jetzt in der Hand von ISIS, diejenigen, die sie den ukrainischen Nationalisten gaben, wurden an die syrische Regierung verkauft, diejenigen, die sie der jemenitischen Regierung geliefert hatten, befinden sich jetzt in den Händen der Houthis, die diese vor kurzem gestürzt haben. So ist also auch die Wirksamkeit großzügiger militärischer Ausgaben dahingeschwunden. Irgendwann wird es vielleicht effizienter, wenn sie die Banknotenpressen der amerikanischen Notenbank so programmieren, dass sie bündelweise Dollars in die Richtung des Feindes blasen.
Wenn die Strategie „Zerstören um zu schaffen” nicht mehr brauchbar ist, aber in dem blinden Bestreben, weiterhin weltweit am Ruder zu bleiben, noch immer Teil der politischen Kultur ist, ist alles was bleibt Mord. Das wichtigste Mittel der Außenpolitik wird politischer Mord: sei es Saddam Hussein oder Muammar Gaddafi oder Slobodan Milosevic oder Osama bin Laden, oder eine Reihe nicht so wichtiger Ziele, es geht einfach darum, sie zu töten.
Während eine favorisierte Technik in dem Abschuss von führenden Köpfen von Organisationen besteht, kriegt auch die allgemeine Bevölkerung ihren Teil vom Morden ab. Wieviele Begräbnisse und Hochzeitsgesellschaften wurden schon von Drohnenangriffen ausgelöscht? Ich weiß nicht, ob es in den Vereinigten Staaten von Amerika jemand gibt, der das weiß, aber ich bin mir sicher, dass diejenigen, deren Angehörige getötet worden sind, sich daran erinnern, und sich die nächsten paar Jahrhunderte daran erinnern werden. Diese Taktik ist im Allgemeinen nicht förderlich bei der Schaffung eines anhaltenden Friedens, aber es ist eine gute Taktik für die Perpetuierung und Eskalation von Konflikten. Dieses Ziel ist jetzt akzeptabel, weil es die Begründung für zunehmende Militärausgaben schafft und ermöglicht, noch mehr Chaos zu stiften.
Vor kurzem trat ein pensionierter General der Vereinigten Staaten von Amerika im Fernsehen auf und erklärte, dass man einfach damit anfangen müsse, “Russen zu töten,” um die Situation in der Ukraine herumzureißen. Die Russen hörten sich das an, staunten über seinen Schwachsinn und eröffneten gegen ihn ein Strafverfahren. Jetzt wird dieser General nicht in der Lage sein, in eine ständig wachsende Zahl von Ländern auf der ganzen Welt zu reisen, aus Angst, verhaftet und an Russland ausgeliefert zu werden, um dort vor Gericht gestellt zu werden.
Das ist weitgehend eine symbolische Geste, aber weniger symbolische Nichtgesten präventiver Natur werden sicher folgen. Es ist halt nun einmal so, dass Mord illegal ist. In den meisten Rechtssystemen ist auch die Anstiftung von anderen zum Mord illegal. Die Amerikaner haben sich selbst die Lizenz zum Töten erteilt, ohne zu überprüfen, ob sie damit vielleicht ihre Befugnisse überschreiten. Wir sollten daher erwarten, dass mit dem Abbröckeln ihrer Macht auch ihre Lizenz zum Töten nicht mehr gelten wird und sie sich selbst zurückgestuft finden werden von globalen Machthabern zu bloßen Mördern.
Wenn Imperien zusammenbrechen, dann wenden sie sich nach innen und unterwerfen ihre eigenen Bevölkerungen der selben kranken Behandlung, die sie anderen zugefügt haben. In dieser Beziehung ist Amerika nicht exzeptionell: die Anzahl der Amerikaner, die von ihrer eigenen Polizei ermordet werden, ist überwältigend, wobei denen, die töten, kaum etwas passiert. Wenn die Amerikaner wissen wollen, wer wirklich ihr Feind ist, brauchen sie nicht weit zu schauen.
Aber das ist nur der Anfang: der Präzedenzfall für den Einsatz von US-Truppen auf dem Boden der Vereinigten Staaten von Amerika wurde bereits gesetzt. In dem Ausmaß, in dem Recht und Ordnung in immer mehr Orten zusammenbrechen, werden wir immer mehr US-Soldaten auf den Straßen von Städten in den Vereinigten Staaten von Amerika sehen, wo sie Tod und Zerstörung verbreiten, wie sie es im Irak oder in Afghanistan taten. Die letzte Lizenz zum Töten wird die Lizenz sein, uns selbst umzubringen.
Orginalartikel „License to Kill“ vom 10.4.2015