„Das wäre die Infrastruktur zur Totalüberwachung“
Bürgerrechtler, Abgeordnete, Presse, Anwälte, 80 Millionen Menschen sehen in der Spionage-Affäre um den Bundesnachrichtendienst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Zustandsbericht einer surrealen, kafkaesken Republik außer Funktion.
Am 11. April 2015, bald zwei Jahre nach den ersten Veröffentlichungen der Unterlagen von Agent Edward Snowden im Außendienst, konstatierte Markus Beckedahl auf Netzpolitik.org:
„Die Bundesregierung sieht die Snowden-Enthüllungen leider als Machbarkeitsstudie und nimmt genau den anderen Weg“
Anderthalb Jahre zuvor hatte das Innenministerium vom damaligen geschäftsführenden Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und seinem Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche, bereits tief in die Edathy-Affäre eines sich entpuppenden Tiefen Staates verstrickt, eine „Wunschliste“ in die laufenden Koalitonsverhandlungen eingebracht. Das Parlament war zu diesem Zeitpunkt faktisch lahmgelegt – fast ein volles halbes Jahr. Der Bundestag hatte noch nicht einmal die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Ausschüsse gebildet, Innenausschuss, Verteidigungsausschuss, etc. Ebenso hatte es nicht das Parlamentarische Kontrollgremium, die G-10-Kommission, und andere weniger oder noch weniger taugliche Gremien neu gewählt, geschweige denn den bereits geforderten Untersuchungsausschuss zu den „Snowden-Enthüllungen“. Stattdessen bildete das Parlament im Reichstag einen seit dem Kaiserreich präzedenzlosen Hauptausschuss, dem sogar die Fraktion „Die Linke“ konstatierte, dass er eine „Entmündigung des Parlaments“ darstellte.
In dieser Situation nun berichtete der „Spiegel“ am 6. November 2013 über die ihm vorliegende „Wunschliste“ des Bundesinnenministeriums. Durch die zukünftigen Regierungsparteien S.P.D., C.D.U. und C.S.U. müsse der Regierung, Zitat aus dem BMI-Papier,
„die Möglichkeit geschaffen werden, die bestehenden Befugnisse zur TKÜ sowie zur Erhebung von aktuell anfallenden Verkehrsdaten (…) auch durch Ausleitung an den Netzknoten ausüben zu können“.
Kommentar des „Spiegel“ dazu:
„Die Wunschliste des Bundesinnenministers für die Koalitionsverhandlungen enthält eine Forderung, die klingt wie aus einem NSA-Lehrbuch. Polizei und Geheimdienste sollen an Internetknotenpunkten Daten ausleiten und mitlesen können, auch im Inland. Das wäre die Infrastruktur zur Totalüberwachung.“
Genau diese Infrastruktur zur Totalüberwachung existiert längst.
Im Jahre 2002 weitete die Regierung, damals von S.P.D. und Bündnis 90/Die Grünen, die Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) zwecks einer „Strategischen Überwachung der Kommunikation“ aus. Eine weitere Verschärfung der TKÜV im November 2005 ermöglichte der Regierung das Kopieren der Telekommunikationsverkehre an den Netzknoten, auch “vom und in das Ausland” (Wortlaut: Bundesverfassungsgericht, Beschluss 1 BvL 7/08). Spätestens seit der Antwort der Bundesregierung auf eine entsprechende Kleine Afrage der „Linksfraktion“ im Mai 2012 musste dies der gesamte Bundestag wissen.
Wir wiederholen noch einmal das Zitat von Ronald Pofalla, damals Kanzleramtsleiter und Vorgesetzter in seiner Antwort auf die Anfrage vom 11. Mai 2012. Das gleiche Zitat der Antwort Pofallas, welches wir am 29. April 2015 verwendeten, findet sich bereits im „Spiegel“ Artikel vom 6. November 2013:
“Hierzu fordert der BND gemäß § 2 Abs. 1 S. 3 G10 in Frage kommende Telekommunikationsdienstleister auf, an Übergabepunkten gemäß § 27 TKÜV eine vollständige Kopie der Telekommunikationen bereitzustellen, die in den angeordneten Übertragungswegen vermittelt wird.”
Die Öffentlichkeit muss jetzt begreifen, dass der sogenannte „Auslandsnachrichtendienst“ der Regierung, in Kollaboration mit anderen staatlichen Stellen, bereits seit Jahren die gesamte über das Territorium der Republik laufende Telekommunikation ausspioniert; dazu gehört natürlich auch die Telekommunikation im Inland.
Wir leben nicht in, wir leben unter einem Überwachungsstaat, einem Tiefen Staat, der mit Republik und Grundgesetz nichts mehr zu tun hat, sondern im Gegenteil auch noch vor aller Augen versucht beides loszuwerden und sich auf die Ebene der paneuropäischen Zentralstruktur zu retten.
Wer schweigt, stimmt zu. Galt damals, gilt heute, gilt morgen.