BAYERs Wiedergeburt
1945 keine Zäsur
In diesem Jahr kann BAYER das 150-jährige Bestehen feiern. Danach sah es 1945 nicht aus. Die Alliierten betrachteten die deutschen Unternehmen nämlich als willige Helfer der Nazis. Und „härter als alle anderen trat die IG FARBEN auf“, urteilten sie über den vom Leverkusener Multi mitgegründeten Mörder-Konzern. Im Potsdamer Abkommen verständigte sich die Anti-Hitler-Koalition deshalb auf „die totale Zerstörung der gesamten deutschen Rüstungsindustrie und die Beseitigung oder Zerstörung sonstiger Schlüsselindustrien, die die Grundlage der Wehrkraft sind“. Aber es sollte anders kommen: Für den BAYER-Konzern schlug keine Stunde Null, bald schon wieder galt „Business as usual“.
Von Jan Pehrke
1945 kam die nationalsozialistische Diktatur zu ihrem Ende. Und das hätte eigentlich auch das Ende für BAYER und die anderen Konzerne bedeuten müssen, die 1925 die IG FARBEN gegründet hatten. Diese Gesellschaft bildete nämlich das industrielle Rückgrat des deutschen Faschismus. So erstellte sie die Blaupause für den Vierjahresplan, mit dem Hitler & Co. die Wirtschaft wehrtüchtig machten. Als es dann 1939 soweit war, konnte das Unternehmen die Armee fast alleine ausstatten. Zudem betätigten sich Beschäftigte der Auslandsniederlassungen als Spione und fertigten Karten-Material für Bombenangriffe an. An der Vernichtungspolitik wirkte die IG FARBEN ebenfalls mit. Sie errichtete in unmittelbarer Nähe zu Auschwitz ein eigenes Werk, um Zugriff auf ZwangsarbeiterInnen zu haben, während ihre Tochter-Firma DEGESCH den FaschistInnen mit dem Zyklon B die Mordwaffe bereitstellte. „Sollte es zu Wirtschaftsklagen kommen, würde das Material den Verteidigern den Schlaf rauben“, schwante deshalb dem IG-Vorstandsmitglied Georg von Schnitzler1.
Economic warfare
Die USA haben solches Material über die IG FARBEN schon seit Anfang der 1940er-Jahre gesammelt, wie Bernd Greiner in seinem Buch „Die Morgenthau-Legende“ darlegt. BeamtInnen des Finanz- und des Justizministeriums ermittelten über 500 Firmen-Beteiligungen und 2.000 Kartellverträge mit anderen Unternehmen und machten den Konzern als Hauptlieferanten der Vernichtungsfeldzüge aus. 95 Prozent der Giftgase und 84 Prozent der Sprengstoffe stammten aus IG-Fabriken. Zudem gehörten Brandbomben, Handgranaten, Maschinengewehre und kriegswichtige Rohstoffe wie Benzin, Schmieröle, Magnesium, Nickel und Methanol zur Produkt-Palette. Nach dem Sieg über die Nazis setzten die Emissäre des US-Finanzministers Henry Morgenthau mit ihren „field teams“ die Recherche-Arbeit auf deutschem Boden fort. 14 prall gefüllte Bände mit Dokumenten trugen die Mannen des „Secretary of the Treasury“ zusammen, obwohl die IG viele Akten vernichtet hatte. „Wenn es die Politik der Alliierten ist, dass Deutschland nie wieder seine Nachbarn oder den Frieden der Welt bedrohen wird, dann müssen die IG FARBEN zusammen mit ihren kriegswichtigen Anlagen zerstört werden“, lautete ihr Resümee2. Sie bestätigten damit die Analyse Thurman Arnolds von der Anti-Trust-Division des Justizministeriums. „Dies ist ein Kampf zwischen den Armeen der Industrie, nicht zwischen den Armeen der Militärs“, hatte dieser während des Krieges konstatiert3. Von „economic warfare“, industrieller Kriegführung, sprachen die US-amerikanischen PolitikerInnen und vermochten nicht einmal zu sagen, ob die Großkonzerne im Tausendjährigen Reich Koch oder Kellner waren. „Manchmal frage ich mich, ob diese Leute im Dienst der Nazis standen oder ob die Nazis nicht umgekehrt ihnen zu Diensten waren“, bemerkte etwa der Senator Harley Kilgore4.
Die Bündnispartner Nordamerikas maßen dem „economic warfare“ ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu. Darum einigten sich die Alliierten auf weitgehende Strukturreformen. „Die totale Zerstörung der gesamten deutschen Rüstungsindustrie und die Beseitigung oder Zerstörung sonstiger Schlüsselindustrien, die die Grundlage der Wehrkraft sind“ beschloss die Anti-Hitler-Koalition im Potsdamer Abkommen. Im Zuge des „industrial disarmament“, der industriellen Entwaffnung, verboten die Besatzungsmächte die Produktion von Flugzeugen, Schiffen und Waffen. Chemie-, Eisen- und Stahlwerke wollten sie „rigide kontrollieren“ und nach den Maßstäben einer „zivilen Friedenswirtschaft“ umgestalten. „Bei der Organisation der deutschen Wirtschaft soll die Betonung vor allem auf der Entwicklung der Landwirtschaft und der auf Frieden ausgerichteten einheimischen Industrie liegen“, hieß es in dem Dokument5.
Eine konkrete Vorlage dazu hatte Morgenthau bereits während des Krieges angefertigt. Diese sah unter anderem eine Deindustrialisierung des Ruhrgebietes und des Rheinlandes sowie eine Unterstellung des Gebietes unter das Mandat der UN vor. Der „Morgenthau-Plan“ und die nachfolgenden Konzeptionen zielten dabei – anders als in der Öffentlichkeit oftmals dargestellt – nicht darauf ab, aus Deutschland wieder Ackerland zu machen. Sie wollten zwar tatsächlich die Kriegswirtschaft bis in ihre Grundfeste zerstören und auch im Sinne einer gerechten Strafe wirken, setzten jedoch nicht zuletzt ganz pragmatisch bei einem realen Grundproblem der deutschen Wirtschaft an: dem Ungleichgewicht zwischen der Schwer- und Chemie-Industrie auf der einen und der Konsumgüter- und Bauindustrie sowie der Landwirtschaft auf der anderen Seite. Darum strebten die mit den Umstrukturierungen betrauten US-Strategen unter anderem eine „neue Balance zwischen Schwer- und Leichtindustrien“ an6.
Diese Balance störte das machtvolle Konglomarat der IG FARBEN ganz erheblich. Darum befasste sich das Gesetz Nr. 9 des Alliierten Kontrollrates auch explizit mit dem Multi. Es wollte dazu beitragen, „dass Deutschland nie mehr zu einer Bedrohung für seine Nachbarn oder den Weltfrieden werden kann (…) unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die IG FARBEN wissentlich und an führender Stelle am Aufbau und der Produktion des deutschen Rüstungspotenzials beteiligt war“7. Darum ordnete das Paragraphen-Werk eine Beschlagnahme des Firmen-Vermögens und eine weitreichende Parzellierung an.
Paradigmenwechsel
Zu all diesen Maßnahmen sollte es jedoch nicht kommen. Das hatte vornehmlich drei Gründe. Zum Ersten änderten sich in den USA die politischen Kräfteverhältnisse, so dass die New-Deal-SympathisantInnen unter den DemokratInnen immer mehr an Rückhalt verloren. Zum Zweiten unterhielt die US-Industrie umfangreiche Geschäftsbeziehungen zu deutschen Konzernen und verlangte von der Regierung, ihre Absatzgebiete zu sichern statt eine „Tabula rasa“-Strategie umzusetzen. Zum Dritten schließlich spaltete sich die Anti-Hitler-Koalition, und im Kalten Krieg war wieder ein starkes Deutschland gefragt, das als „Frontstaat“ agieren konnte.
Der Konsens über den von Franklin D. Roosevelt ins Leben gerufenen „New Deal“ brach bereits 1934 auf. Ab 1939 kamen die Reformen zum Erliegen, und AnhängerInnen des Programms wie Henry Morgenthau gerieten in die Defensive. Nicht einmal vor Antisemitismus schreckten die GegnerInnen zurück – vom „Jew Deal“ kündete die Propaganda. Morgenthau selber unterstellte man rein persönliche Motive für seine Politik und wollte „den Eifer des jüdisch-amerikanischen Staatsmannes besiegen, der nach Rache dürstet“8. Nach dem Tode seines Mentors Roosevelt büßte der Politiker entscheidend an Einfluss ein und trat bald zurück; seinen alten Weggefährten ging es unter Harry S. Truman nicht besser.
Zu den größten Opponenten von Morgenthau & Co. gehörte die heimische Industrie, denn es gab viele ökonomische Verflechtungen zwischen den USA und Deutschland. US-Firmen hielten Beteiligungen an 278 deutschen Betrieben im Wert von insgesamt 420 Millionen Dollar, während sich das im Land der unbegrenzten Möglichkeiten investierte Kapital von AEG, IG FARBEN & Co. auf 450 Millionen Dollar belief. Zudem existierten zahlreiche Handelsbeziehungen und Kartell-Verträge. Allein die IG FARBEN hatte 63 nach US-Recht illegale Geschäftsvereinbarungen mit ihren transatlantischen Partnern geschlossen.
Besonders intensiv kooperierte die IG mit STANDARD OIL. So bezog sie etwa das für die Vierjahresplan-Erfüllung unabdingbare Flugbenzin von dem Unternehmen. Bereits 1929 hatten die beiden Multis gegenseitig ihre Claims abgesteckt. Die IG FARBEN sah davon ab, in den USA Treibstoffe, Öle und Schmiermittel zu verkaufen, und STANDARD OIL ließ dafür die IG-Patente zur Herstellung von Benzin und anderen Stoffen in der Schublade. Zu Kriegszeiten konnte STANDARD OIL wegen solcher und anderer Deals Aufträgen der US-Luftwaffe nicht nachkommen. Dann „müssten wir unsere Abmachungen mit unseren Partnern im In- und Ausland verletzen und das in uns gesetzte Vertrauen missbrauchen“, hieß es in dem abschlägigen Bescheid9. Als sich GOODRICH und GOODYEAR über die Schutztitel hinwegsetzten, reichte STANDARD OIL – vergeblich – Klage ein. Auch sonst verwendete sich die Gesellschaft als Hüterin des geistigen Eigentums der IG. Im September 1939 einigte sie sich mit FARBEN-Managern darauf, 2.000 Patente auf ihren eigenen Namen zu überschreiben, damit sie vor dem Zugriff der Behörden geschützt waren, was sich letztlich ebenfalls als vergebliche Maßnahme erwies. Das Nazi-Reich honorierte jedoch diese Freundschaftsdienste und erteilte den U-Boot-Kommandanten Weisung, Schiffe des Chemie-Riesen vor Angriffen zu verschonen.
Zu FORD hatte die IG ebenfalls ein ausgezeichnetes Verhältnis. Mit Carl Krauch saß beispielsweise einer der ihren im Aufsichtsrat der deutschen FORD AG und sicherte deren Unabhängigkeit, indem er persönlich bei Göring vorsprach, um die Eingliederung des Auto-Produzenten in die Hermann-Göring-Werke zu verhindern. Auch mit AMERICAN ROHM & HAAS trieb der Mogul Handel. Darum versicherte deren Management dem IG-Vorstand: „Wir werden zum Status quo ante zurückkehren, sobald wieder normale Bedingungen eingekehrt sind.“10 Ähnliches versprachen DUPONT und zahlreiche weitere US-Unternehmen ihren deutschen Partnern.
In der Nachkriegszeit standen die Zeichen dafür bald schon wieder gut. Statt der braunen machten die Westmächte nun nämlich eine rote Gefahr aus. Zunächst hatte Lucius D. Clay als Militär-Gouverneur der US-amerikanischen Besatzungszone, in der das Hauptquartier der IG FARBEN lag, noch einen harten Kurs gegenüber dem Unternehmen befürwortet. Er stand dem „economic disarmament“ eigentlich kritisch gegenüber, wollte aber nicht zuletzt der Sowjetunion entgegenkommen und die Anti-Hitler-Koalition auf keinen Fall wegen der IG auseinanderbrechen lassen. In seinen Augen wäre das „vielleicht der größte Schritt zu einem Dritten Weltkrieg“11. Dieses Risiko nahmen die Westmächte dann jedoch in Kauf: Auf den heißen Krieg folgte ein kalter. „Nicht Deutschland ist unser Problem, sondern Russland“, lautete nun die Devise12.
All diese drei Faktoren – die veränderte politische Konstellation in den USA, die Verflechtungen zwischen deutschen und US-amerikanischen Konzernen und der beginnende Ost/West-Konflikt – führten zu einer Besatzungspolitik, die sich von den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens mehr und mehr entfernte. Mit dazu bei trug auch das wachsende Bewusstsein über die strategischen Möglichkeiten der Atombombe. Der qualitative Sprung in der Waffentechnik machte nicht nur ein allzu strenges Vorgehen gegen die industriellen Rüstungsschmieden alter Schule auf deutschem Boden obsolet, er sorgte auch für ein gesteigertes Selbstbewusstsein im Auftreten gegenüber der Sowjetunion. Ein Übriges zum Verzicht auf „die totale Zerstörung der gesamten deutschen Rüstungsindustrie und die Beseitigung oder Zerstörung sonstiger Schlüsselindustrien, die die Grundlage der Wehrkraft sind“13 trug die Befürchtung bei, ein in seiner Wirtschaftskraft eingeschränktes Deutschland auf Dauer alimentieren zu müssen.
Nur noch Entflechtung
Und so wandelte sich die Einstellung gegenüber dem Land, das den Kontinent mit einem beispiellosen Vernichtungsfeldzug heimgesucht hatte. Statt einem „industrial disarmament“ stand jetzt nur noch eine Entflechtung der Wirtschaft auf dem Programm, und selbst diese führten die Alliierten nur halbherzig durch. Die erste Weiche zu der neuen Strategie wurde schon früh gestellt. Nach dem Tod Roosevelts verlor Morgenthau den Rückhalt in der Regierung. Dem Nachfolger Truman war die Außenpolitik des Finanzministers suspekt, weshalb er ihn aus dem Amt drängte. Auch dessen „treasury boys“ konnten sich nicht allzu lange halten. Bernhard Bernstein, der als Abgesandter des Finanzministeriums das alliierte Oberkommando in Geldangelegenheiten beriet und mit seinen „field teams“ Belastungsmaterial in Sachen „IG FARBEN“ zusammengestellt hatte, stieß auf immer mehr Widerstände. Kurz nach Vorlage des IG-Berichts löste der Militärgouverneur Lucius D. Clay Bernsteins Abteilung auf und schlug sie der „Finance Division“ zu. Clay betraute den Juristen stattdessen mit der Leitung eines Bereichs zur Untersuchung von Kartellen und Auslandsvermögen. Diese DICEA hatte allerdings kaum Kompetenzen. Als einen „Meilenstein in dem Bemühen, die einzige zusammenhängende und schlagkräftige Gruppe aufzulösen, die es in Deutschland darauf abgesehen hatte, die Deutschen hart anzupacken“, bezeichnete Bernsteins Mitstreiter Russell Nixon die Umstrukturierung deshalb14. Bernstein kämpfte in Washington noch darum, die DICEA direkt dem Finanzministerium unterstellen zu lassen, scheiterte aber und trat schließlich zurück. Nixon rückte nach, bis er die Amtsgeschäfte an James Stewart Martin weiterreichte, der aber – ebenso frustriert über den zunehmenden Machtverlust gegenüber der von William Draper geleiteten „Economic Division“ wie sein Vorgänger – auch schnell wieder aufgab.
Draper kam von der Wall Street, und in seinem Stab fanden sich viele Emissäre von Unternehmen wie DUPONT, STANDARD OIL, GENERAL MOTORS oder AT & T, denen an einer Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen gelegen war. Vor Ort erhielten diese Unterstützung für ihre Interessenspolitik von US-Wirtschaftsdelegationen, die Deutschland besuchten und befanden: „Von einem kriegerischen Potenzial in der Industrie geht nur wenig Gefahr aus“15. Nicht zuletzt wegen ihres eigenen kriegerischen Potenzials, das ihnen bei ungünstigen politischen Entwicklungen vielleicht auch einmal zum Verhängnis werden könnte, gaben sie Entwarnung. Daheim kam indessen Flankenschutz von Banken, die gegen einen dem besiegten Dritten Reich angeblich zuviel abverlangenden Karthago-Frieden wetterten.
Die US-amerikanische Besatzungsdirektive JCS 1067, die es den Militärgouverneuren untersagten, Schritte zu unternehmen, „die (…) zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands führen könnten oder (…) geeignet sind, die deutsche Wirtschaft zu erhalten oder zu stärken“ ignorierte die „Economic Division“ deshalb nach Kräften. Das räumte Draper später auch selber ein: „Wir haben JSC 1067 nicht soviel Beachtung geschenkt, wie wir es vom Standpunkt militärischer Disziplin vielleicht hätten tun sollen.“16 Dass dies ohne Konsequenzen blieb, hatte der Banker nur seiner Protektion durch General Clay zu verdanken. Ab Juli 1947 jedoch konnte er unbeschwert seines Amtes walten. Die Direktive JCS 1779 trat an die Stelle der alten und erteilte der wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands die höchste Priorität. „Diese Direktive ist ein Schritt weg von Potsdam und den Kriegsjahren, als man einen deutschen Agrarstaat und einen Karthago-Frieden im Auge hatte, jubilierte der ehemalige Bank-Manager17.
JCS 1779 schuf die rechtliche Basis für den Marshall-Plan. Auch wenn sein Schöpfer George Marshall vor Harvard-StudentInnen erklärte: „Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder eine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos“18, war sein „European Recovery Program“ ein Kind des sich anbahnenden Kalten Krieges. „Die Politik der Russen (…) zwingt uns unweigerlich, in enger Abstimmung mit den Briten die Wirtschaft in Westdeutschland in Schuss zu halten“, stellte Kriegsminister Henry Stimson fest19. Die Besatzer fürchteten, ein allzu rigides Durchgreifen würde Deutschland der Sowjetunion in die Arme treiben und setzten sich deshalb daran, das Land zu einem ökonomisch florierenden Frontstaat mit Ausstrahlung auf den ganzen Kontinent aufzubauen. 13 Milliarden Dollar wendete die USA dafür zwischen 1948 und 1952 auf. Knapp 30 Prozent davon erhielt Deutschland. Dieser Verteilungsschlüssel stieß auf Protest, denn die ökonomische Lage in den 15 anderen Staaten, die auf der Liste des Programms standen, hätte dort ein größeres finanzielles Engagement verlangt. „Die Erinnerung an die Nazis ist in Europa (…) noch nicht so verblasst, wie das (aus verständlichen Gründen) jenseits des Atlantiks der Fall ist. Die Welt wird in jedem Fall alle ihre Weisheit aufbieten müssen, um Europa zur Einheit zu überreden. Aber wenn hinter dieser Einheit die Möglichkeit lauert, dass ein wiederbelebtes Deutschland in Zukunft Europa beherrscht, dann ist der Plan zum Scheitern verurteilt, bevor er geboren ist“, kommentierte The Economist mit viel Weitblick die spätere Rolle der Bundesrepublik in der EU betreffend20.
Grundlegende ökonomische Veränderungen standen da nicht mehr auf der Agenda. An die Stelle des „economic disarmament“ war eine bloße Entflechtungspolitik getreten, und selbst diese hatte einen schweren Stand. Deshalb forderte Martin als Leiter der „Decartelization Branch“ im August 1946 von Clay mehr Rückendeckung gegenüber Draper. Sich der Tatsache bewusst, „dass mehr und mehr Schritte unternommen werden, um das Dekartellisierungsprogramm ins Leere laufen zu lassen“21, sicherte der Militärgouverneur Martin auch Unterstützung zu und veranlasste die Regierung in Washington, ein Entflechtungsgesetz vorzubereiten. Dazu kam es allerdings nie, denn bei den Zwischenwahlen im November 1946 verloren die Demokraten ihre Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat. „Damit ging der ganze Entflechtungskram über Bord“, kommentierte ein US-amerikanischer Botschaftsangehöriger22. US-Amerikaner und Briten strebten auf ihrem zur Bizone vereinigten Besatzungsgebiet mit dem „Law 56“ und der „Ordinance 78“ nunmehr nur noch „ein Verbot der übermäßigen Konzentration deutscher Wirtschaftskraft“ an. Zunehmend entnervt, unternahm Martin im Frühjahr 1947 letzte vergebliche Versuche, der US-Administration ein eindeutiges Bekenntnis zur Zerschlagung von IG FARBEN & Co. abzuringen. „Daraus schloss ich, dass die Entflechtung keine Zukunft mehr hatte“, erklärte er und stellte im Mai 1947 seinen Posten zur Verfügung23. Zehn Monate später erschien schon ein Vorgehen gegen eine „übermäßige Konzentration“ übermäßig – das „Law 56“ fiel. 19 MitarbeiterInnen der „Decartelization Branch“ legten dagegen Protest ein, ohne etwas zu erreichen. Stattdessen wanderte ihre Sektion von der „Economics Division“ zur „Property Division“ und musste sich fortan den Anweisungen des „Bipartite Control Office“ fügen.
Zu allem Überfluss konnten die Manager der IG FARBEN und anderer Unternehmen fleißig mitentflechten24. Im „Bizonal IG FARBEN Dispersal Panel“ (FARDIP)“ fungierte unter anderem der ehemalige IG-FARBEN-Direktor Oskar Löhr als Berater des „Bipartite IG FARBEN Control Office“ (BIFCO). Die Adenauer-Regierung ersetzte das Panel 1951 dann durch ein Gremium, dem Hermann Gross, Leiter des Wiener Büros der „Volkswirtschaftlichen Abteilung“ der IG FARBEN, IG-Aufsichtsrat Hermann Josef Abs und der Vierjahresplan-Ministerialdirektor Helmuth Wohlthat angehörten. Und auch der in Ludwig Erhards Wirtschaftsministerium mit dem Konzern befasste Felix Prentzel hatte eine IG-Vergangenheit.
Keine Stunde Null
Den Einflüsterungen dieser „Experten“ erlagen die USA, Großbritannien und Frankreich schließlich. Von den ursprünglich geplanten 50 „independent units“ blieben in einem ersten Schritt noch zwölf IG-Nachfolger und dann mit BAYER, BASF, HOECHST und CASELLA gar nur noch vier übrig. Damit unterschied sich die Lösung nicht mehr allzu sehr von den Nachkriegsplänen der IG selber, welche vorsahen, den Zentralismus abzubauen und mehr auf Regionalisierungen zu setzen. Das Quartett konnte großzügigerweise mit fast dem gesamten Kapital der in den westlichen Besatzungszonen gelegenen IG-Niederlassungen operieren, das Vermögen der 24 in der Sowjetzone gelegenen Firmen-Sitze musste es hingegen abschreiben. Die Westmächte behielten jedoch bloß zehn Prozent des Grundvermögens der IG FARBEN ein; Reparationen verlangten die Länder nicht. BAYER bekam von dem schmutzigen Geld im Mai 1952 mit 387 Millionen D-Mark den höchsten Betrag. Dann folgten die BASF mit 340 Millionen und HOECHST mit 285 Millionen. CASSELLA hatte sich mit 34 Millionen zu begnügen25.
Für die BAYER-Werke, die größtenteils unter das Mandat Großbritanniens fielen, hatte es sich schon vorher recht gut angelassen. „Die britischen Militärbehörden verfuhren pragmatisch und ließen die Betriebsgemeinschaft Niederrhein intakt“, hält die zum 125. Jahrestag der Firmengründung erschienene Jubelschrift „Meilensteine“ fest26. Nicht einmal auf den Standort Dormagen brauchte der Verbund zu verzichten, und selbst die Umsiedelung der AGFA aus dem roten Wolfen nach Leverkusen gelang. Geschafft hatte das Ulrich Haberland, der IG-Leiter der Betriebsgemeinschaft Niederrhein, durch seine „hartnäckigen Verhandlungen“. Seine Kollegen von den Betriebsgemeinschaften in den anderen Zonen durften so etwas nicht mehr vollbringen, denn die Militärgouverneure duldeten sie nicht mehr im Amt. „Britischer Pragmatismus“ hingegen verschonte Haberland, obwohl Bernstein viel Aktenmaterial – unter anderem über seine Versuche, IG-Manager nach 1945 wieder zu Posten zu verhelfen – gesammelt hatte.
Die Beschlagnahmung des ganzen Besitzes der IG FARBEN und die Aufteilung in kleine Unternehmen, wie es das Gesetz Nr. 9 wegen der wehrwirtschaftlichen Bedeutung des Mörder-Konzerns vorschrieb, „erwies sich in der Praxis als undurchführbar“, befanden die „Meilensteine“ mit Verweis auf die große Not in der Nachkriegszeit27. Überhaupt hätten die IG-Oberen ja nur „angeblich Hitlers Angriffskriege mit geplant und vorbereitet“28. Damit nicht genug, geht die Unternehmenschronik sogar so weit, den „passiven Widerstand“ derjenigen Beschäftigten zu feiern, die Militärs Auskünfte über bestimmte Produktionsverfahren verweigerten und sogar gezielte Desinformationen streuten.
Schon im Juni 1945 hatten die Briten die Erlaubnis für das Anlaufen bestimmter Fertigungsreihen erteilt. So verließen bald schon wieder Chlor, Arzneien, Wurmmittel und Kunststoff-Borsten für Bürsten die Anlagen. Dementsprechend stieg die Beschäftigten-Zahl. „Schneller, als sich jemand in der Stunde Null hätte vorstellen können, wuchsen Belegschaft und Produktion am Niederrhein wieder an, konstatierten die „Meilensteine“ zufrieden29. Von 1.730 ArbeiterInnen im April 45 auf fast 11.000 im April 46 erhöhte sich der Personalstand. Später stießen auch alte IGler wie der in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilte Fritz ter Meer wieder hinzu und sorgten mit für florierende Geschäfte. Bei der BASF und bei HOECHST entwickelten sich die Dinge in ähnlicher Weise. „Mit den Franzosen kam es zu keinen Reibungen und keinen Spannungen“, vermeldete etwa der IGler und spätere BASF-Vorstandsvorsitzende Bernhard Timm30. Unter anderem ließ sich die französische Kommandatur von dem IG-Vorständler Otto Ambros in Sachen „Export-Förderung“ beraten. Und so waren sowohl BAYER als auch HOECHST und BASF kaum 20 Jahre nach ihrem Neustart 1951 alleine so groß wie die IG FARBEN zu ihren besten Zeiten.
Anmerkungen
1 Bernd Greiner, Die Morgenthau-Legende; Hamburg 1995; S. 219
2 zit. n. Greiner; S. 243
3 zit. n. Greiner; S. 34
4 zit. n. Greiner; S. 42
5 zit. n. Greiner; S. 231
6 zit. n. Greiner; S. 284
7 zit. n. Dietrich Eichholtz, Abwicklung unerwünscht; junge welt vom 27.11.2010
8 zit. n. Greiner; S. 208
9 zit. n. Greiner; S. 33
10 zit. n. Greiner; S. 43
11 zit. n. Greiner; S. 257
12 zit. n. Greiner; S. 205
13 zit. n. Greiner; S. 171f
14 zit. n. Greiner; S. 248
15 zit. n. Greiner; S. 323
16 zit. n. Greiner; S. 263
17 zit. n. Greiner; S. 328
18 zit. n. Greiner; S. 327
19 zit. n. Greiner; S. 239
20 zit. n. Greiner; S. 329
21 zit. n. Greiner; S. 297f
22 zit. n. Greiner; S. 303
23 zit. n. Greiner; S. 338
24 Peer Heinelt, Die Entflechtung und Nachkriegsgeschichte der IG FARBEN-INDUSTRIE AG; S. 13
25 Heinelt; S. 16
26 Meilensteine, Hrsg: BAYER, Leverkusen 1988; S. 304
27 Meilensteine; S. 304
28 Meilensteine; S. 314
29 Meilensteine; S. 303
30 zit. n. Heinelt; S. 8
Quelle: STICHWORT BAYER 02/2013 http://www.cbgnetwork.org/4999.html