Amerikas Achillesferse

Am vergangenen Samstag wurde in Moskau eine riesige Siegesparade zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands vor der Roten Armee und an die Aufrichtung der sowjetischen Fahne auf dem Reichstagsgebäude in Berlin abgehalten. Es gab ein paar unübliche Erscheinungen in dieser Parade, die ich erörtern möchte, da sie in Widerspruch stehen zu der Erzählung der offiziellen Propaganda des Westens.

Fürs erste waren es nicht nur russische Soldaten, die in der Parade marschierten, sondern es nahmen Soldaten aus zehn weiteren Ländern daran teil, darunter die chinesische Ehrengarde und ein Kontingent Grenadiere aus Indien.

Auf der Ehrentribüne befanden sich hochrangige Persönlichkeiten aus diesen Ländern, so saßen der chinesische Präsident Xi Jinping und seine Gemahlin neben Präsident Vladimir Putin, der in seiner Rede am Beginn der Parade vor Versuchen warnte, eine unipolare Welt zu schaffen – scharfe Worte, gerichtet direkt an die Vereinigten Staaten von Amerika und deren westliche Alliierte.

Ein Blick auf die militärische Ausrüstung, die über den Roten Platz rollte oder flog, ergibt den Eindruck, dass abgesehen von einer gegenseitigen atomaren Selbstvernichtung das Militär der Vereinigten Staaten von Amerika nicht viel gegen Russland aufzubieten hat, was Russland nicht neutralisieren könnte.

Es hat den Anschein, dass die amerikanischen Versuche, Russland zu isolieren, genau das Gegenteil bewirkt haben: wenn zehn Länder, mit rund drei Milliarden Einwohnern, unter ihnen die größte Wirtschaft der Welt, bereit sind, ihre Differenzen beiseite zu legen und Schulter an Schulter mit den Russen stehen, um sich den amerikanischen Versuchen entgegenzustellen, die Welt zu dominieren, dann wird Amerikas Plan ganz gewiss nicht aufgehen. Die Medien des Westens konzentrierten sich auf die Tatsache, dass westliche Führer es ablehnten, an der Feier teilzunehmen, sei es in einem Anfall von Groll oder auf Weisung der Obama-Administration, aber das zeigt nur ihre gemeinsame Bedeutungslosigkeit, sei es beim Sieg über Hitler oder angesichts der Feier seiner Niederlage 70 Jahre danach. Dessen ungeachtet dankte Putin in seiner Rede besonders den Franzosen, den Briten und den Amerikanern für ihren Beitrag zu den Anstrengungen des Krieges. Ich finde es schade, dass er die Belgier nicht erwähnt hat, die in Dünkirchen so hilfreich waren.

Ein kleines Detail am Rande der Parade ist verblüffend: Verteidigungsminister Sergei Shoigu, ein Tuvan-Buddhist und einer der am höchsten geachteten russischen Anführer, der dem Ministerium für Krisenfälle vorstand, ehe er Verteidigungsminister wurde, tat etwas, das keiner seiner Vorgänger jemals tat: am Beginn der Feier machte er das Kreuzzeichen auf russisch orthodoxe Weise. Diese einfache Geste verwandelte die Parade von einer Zurschaustellung militärischen Pomps zu einem geheiligten Ritual. Dann folgte der langsame Marsch mit den beiden Fahnen Seite an Seite: der russischen Fahne und der sowjetischen Fahne, die am Tag des Sieges vor 70 Jahren an der Spitze des Berliner Reichstags wehte. Der Marsch wurde begleitet von einem populären Lied aus dem Zweiten Weltkrieg. Sein Titel? „Der heilige Krieg.“ Die Botschaft ist eindeutig: das russische Militär und das russische Volk haben sich in Gottes Hände gegeben, um Gottes Werk zu vollbringen, um sich einmal mehr zu opfern, um die Welt vor dem verheerenden Wüten eines bösartigen Reiches zu bewahren.

Wenn Sie versuchen, etwas von dem als russische Staatspropaganda abzutun, dann gibt es noch etwas anderes, dessen Sie sich bewusst sein sollten. Haben Sie gehört von der spontan organisierten Prozession, in der nach der offiziellen Parade eine halbe Million Menschen durch Moskau zogen mit Bildern ihrer Verwandten, die im Zweiten Weltkrieg um ihr Leben kamen? Die Veranstaltung wurde als „Das ewige Regiment“ bezeichnet. Ähnliche Prozessionen fanden in vielen Städten in ganz Russland statt, und die Zahl der Teilnehmer wird auf insgesamt etwa vier Millionen geschätzt. Die Presse des Westens machte sich darüber entweder lustig oder stellte es hin als einen Versuch Putins, antiwestliche Gefühle hochzupeitschen. Diese „Berichterstattung“ der Presse ist reine Propaganda! In der Tat handelte es sich um einen enthusiastischen spontanen Ausbruch eines genuinen Gefühls der Öffentlichkeit. Wenn Sie nur ein bisschen darüber nachdenken, dann wird klar, dass so etwas in diesem Ausmaß nie künstlich erreicht werden hätte können, und der Gedanke, dass Millionen Menschen ihre Toten für Propagandazwecke prostituieren würden, ist ehrlich gesagt zynisch und beleidigend.

Anstatt ruhig zusammenzubrechen haben sich die Vereinigten Staaten von Amerika entschlossen, einen Kampf gegen Russland zu beginnen. Sie scheinen den Kampf bereits verloren zu haben, aber eine Frage bleibt: wieviele Länder werden die Vereinigten Staaten von Amerika noch zerstören können, ehe die Realität ihrer unvermeidlichen Niederlage und Auflösung endlich ihrem Treiben ein Ende setzt?

Wie Putin im letzten Sommer sagte, als er vor dem Seliger Jugendforum sprach: „Ich habe das Gefühl, dass die Amerikaner, ganz egal was sie angreifen, mit Libyen oder Irak enden.“ In der Tat befanden die Amerikaner sich auf einem Raubzug und haben ein Land nach dem anderen zerstört. Der Irak wurde verstümmelt, Libyen ist eine no-go-Zone, Syrien ist eine humanitäre Katastrophe. Ägypten ist eine Militärdiktatur, die ein Programm der Masseninhaftierung betreibt. Das jüngste Fiasko ist der Jemen, wo die proamerikanische Regierung vor kurzem gestürzt wurde und wo die Amerikaner, die dort in der Falle sassen, warten mussten, bis die Russen und Chinesen sie herausholten und nachhause schickten. Es war allerdings das vorhergehende Fiasko der amerikanischen Außenpolitik in der Ukraine, das die Russen gemeinsam mit den Chinesen dazu brachte, zu signalisieren, dass die Vereinigten Staaten von Amerika einen Schritt zu weit gegangen sind und dass alle weiteren Schritte zu automatischer Eskalation führen werden.

Der Plan Russlands, gemeinsam mit China, Indien und einem großen Teil des Rests der Welt besteht darin, sich auf einen Krieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika vorzubereiten, jedoch alles zu unternehmen, dass dieser möglichst verhindert werden kann. Die Zeit ist auf ihrer Seite, denn mit jedem Tag werden sie stärker, während Amerika schwächer wird. Aber während dieser Prozess seinen Lauf nimmt, könnte Amerika ein paar weitere Länder „herausgreifen“ und ein Libyen oder einen Irak aus ihnen machen. Ist Griechenland das nächste auf der Liste? Wie wäre es, die baltischen Länder (Estland, Lettland, Litauen), die jetzt Mitglieder der NATO sind (das heisst Opferlämmer), unter den Bus zu stossen? Estland ist nur eine kurze Strecke entfernt von Russlands zweitgrößter Stadt St. Petersburg, es hat eine große russische Bevölkerung, es hat eine mehrheitlich russische Hauptstadt und es besitzt eine fanatisch antirussische Regierung. Wird es präpariert, um sich selbst zu vernichten? Einige zentralasiatische Republiken in Russlands gefährdetem Unterbauch könnten ebenfalls reif dafür sein, „herausgegriffen“ zu werden.

Es ist keine Frage, dass die Amerikaner damit weitermachen werden, Unheil rund um die Welt zu stiften, verletzbare, ausbeutbare Länder „herausgreifen“ werden, so lange sie können. Aber es stellt sich noch eine weitere Frage, die beantwortet zu werden verdient: werden die Amerikaner sich selbst „herausgreifen“? Denn wenn sie das tun, dann könnte der nächste Kandidat für gründliche Verwandlung in ein ausgebombtes Ödland die Vereinigten Staaten von Amerika selbst sein. Beschäftigen wir uns mit dieser Option.

Die Ereignisse in Ferguson und neulich in Baltimore haben gezeigt, dass die Spannungen zwischen Afroamerikanern und der Polizei bis zu einem Punkt eskaliert sind, an dem Explosionen wahrscheinlich werden. Der amerikanische „Krieg gegen die Drogen“ war im Wesentlichen ein Krieg gegen junge schwarze (und Latino-) Männer: rund ein Drittel der jungen Schwarzen sind in Gefängnissen eingesperrt. Sie haben auch ein hohes Risiko, von der Polizei erschossen zu werden. Um fair zu sein, auch die Polizei hat ein hohes Risiko, von jungen schwarzen Männern erschossen zu werden, was bewirkt, dass sie schreckhaft ist und überreagiert. Angesichts der nach und nach zusammenbrechenden Wirtschaft – fast 100 Millionen Amerikaner im arbeitsfähigen Alter sind arbeitslos („stehen außerhalb der Arbeiterschaft,“ wenn man Haare spalten will) – ergibt sich der Eindruck, dass für einen ständig wachsenden Anteil der Bevölkerung die Zusammenarbeit mit den Behörden nicht länger eine nützliche Strategie darstellt: man wird so oder so eingesperrt oder umgebracht, aber man hat keine der zeitweiligen Vorteile, die mit dem Ignorieren des Gesetzes verbunden sind.

Es besteht eine interessantes Ungleichgewicht zwischen der Fähigkeit der amerikanischen Medien, Informationen über zivile Unruhen und Aufstände abzublocken: wenn es im Ausland geschieht, dann können die Nachrichten sorgfältig bemessen oder einfach unterdrückt werden. (Hat Ihnen das amerikanische Fernsehen etwas über die kürzliche Wiederaufnahme des Beschusses ziviler Gebiete durch das ukrainische Militär berichtet? Natürlich nicht!) Das ist möglich, weil Amerikaner notorisch selbstverliebt und dem Rest der Welt gegenüber weitgehend gleichgültig sind, von dem die meisten wenig wissen und das, was sie zu wissen glauben, oft falsch ist. Wenn aber die Unruhen in den Vereinigten Staaten von Amerika selbst stattfinden, dann finden sich die verschiedenen Medien in einem Wettbewerb gegeneinander, wer die besseren Sensationen bringt, um größere Zuseherzahlen zu erreichen und höhere Einnahmen aus der Werbung. Die Mainstream-Medien in den Vereinigten Staaten von Amerika werden von einer Handvoll riesiger Konglomerate kontrolliert, die sie zu einem riesigen Informationsmonopol machen, aber auf der Ebene der Werbeeinnahmen gelten noch immer die Prinzipien des Marktes.

Somit ist das Potenzial für einen positiven Rückkoppelungseffekt gegeben: mehr zivile Unruhen generieren mehr Sensationsnachrichten, die ihrerseits wieder die zivilen Unruhen verstärken, was wiederum die sensationslüsterne Berichterstattung verstärkt. Und da gibt es noch einen zweiten Rückkoppelungseffekt: je mehr zivile Unruhen es gibt, desto mehr überreagiert die Polizei bei dem Versuch, die Situation unter Kontrolle zu bringen, wodurch sie wiederum mehr Wut hervorruft, die die zivilen Unruhen verstärkt. Diese beiden Rückkoppelungseffekte können eine Zeit lang außer Kontrolle geraten, aber das Endergebnis bei allen Vorfällen wie bei denen in jüngster Zeit ist dasselbe: der Einsatz von Soldaten der Nationalgarde und die Verhängung von Ausgehverbot und Standrecht.

Der rasche Einsatz des Militärs mag ein bisschen eigenartig erscheinen, wenn man bedenkt, dass die meisten Polizeidepartments, sogar die in Kleinstädten, in den letzten Jahren schwer militarisiert worden sind, und sogar die Sicherheitswachen in einigen Schulbezirken über Militärfahrzeuge und Maschinengewehre verfügen. Diese Entwicklung ist jedoch eine natürliche. Einerseits, wenn Leute, die gewohnheitsmäßig zu brutaler Gewalt greifen, finden, dass das nicht funktioniert, dann nehmen sie natürlich an, dass das daran liegt, dass sie nicht genug davon einsetzen. Andererseits, wenn das System der Strafjustiz bereits ein Schwindel und ein Sauhaufen ist, warum dann nicht gleich das rote Band durchschneiden und Standrecht verhängen?

Es befindet sich bereits ein heilloser Haufen Waffen aller Art in den Vereinigten Staaten von Amerika, und es werden immer mehr werden, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika gezwungen sind, wegen Geldmangel Militärstützpunkte im Ausland zu schließen. Und sie werden wahrscheinlich benutzt werden, aus demselben Grund und in derselben Weise wie diese roten Ziegel in Boston benutzt wurden. Sehen Sie, rote Ziegel kamen massenhaft laufend an Bord britischer Schiffe nach Boston, wo sie als Ballast für die Rückfahr benutzt wurden. Das schuf den Anstoß, etwas damit zu machen. Aber Ziegelgebäude zu errichten ist ein schwieriger anspruchsvoller Vorgang, besonders wenn die Arbeiter ständig betrunken sind. Daher war die Lösung, Ziegel zur Pflasterung der Gehsteige zu benützen – etwas was man auf Händen und Knien machen kann. Ähnlich mit der militärischen Hardware, die aus dem Ausland in die Vereinigten Staaten von Amerika zurück kommt. Sie wird benützt werden, weil sie da ist, und sie wird benützt werden auf die dümmstmögliche Weise: indem auf die eigenen Leute geschossen wird.

Aber es geschehen schlimme Dinge bei Militärs, wenn ihnen befohlen wird, auf ihre eigenen Leute zu schießen. Es ist eine Sache, auf „Handtuch-Köpfe“ in einem weit entfernten Land zu schießen, aber es ist eine ganz andere, den Befehl zu bekommen, auf jemanden zu schießen, der dein eigener Bruder aus der Straße sein könnte, in der du aufgewachsen bist. Solche Befehle führen dazu, dass die eigenen Offiziere erschossen werden bei der Verweigerung von Befehlen und zu Versuchen, sich für die andere Seite einzusetzen.

Und hier wird’s interessant. Weil nämlich, sehen Sie, wenn Sie lange genug auf eine wehrlose Bevölkerung schießen, diese einsperren und sie auf sonstige Weise misshandeln, dann bekommen Sie im Gegenzug einen bewaffneten Aufstand. Der Ort, an dem Aufstände am leichtesten organisiert werden, ist das Gefängnis. ISIS oder das Islamische Kalifat wurden zum Beispiel federführend geplant von Leuten, die davor für Saddam Hussein gearbeitet hatten, während sie von den Amerikanern eingesperrt waren. Sie nützten diese Gelegenheit, eine effiziente Organisationsstruktur auszuarbeiten, und nach der Entlassung fanden sie sich zusammen und begannen zu arbeiten. Ein Drittel der jungen amerikanischen Schwarzen eingesperrt zu halten gibt denen alle Gelegenheit, die sie brauchen, um einen effektiven Aufstand zu organisieren.

Um erfolgreich zu sein braucht ein Aufstand einen Haufen Waffen. Auch hier gibt es eine Vorgangsweise für die Erlangung militärischer Technologie, die bereits fast zur Routine geworden ist. Welche Waffen werden von ISIS benutzt? Amerikanische natürlich, die die Amerikaner dem Regime in Bagdad zur Verfügung stellten, die ISIS erbeutete, als die irakische Armee sich zu kämpfen weigerte und davonlief. Und welche Waffen haben die Houthirebellen im Jemen? Natürlich amerikanische, die die Amerikaner dem später gestürzten proamerikanischen Regime dort lieferten. Und woher kommen einige der Waffen, die das syrische Regime von Bashar al-Assad benutzt? Natürlich aus Amerika, verkauft von der ukrainischen Regierung, die sie von den Amerikanern bekommen hat, Es gibt hier ein Muster: es sieht so aus, dass wann immer Amerikaner eine Armee bewaffnen, ausbilden und ausrüsten, die Chancen groß sind, dass diese Armee einfach dahinschmilzt, wobei die Waffen in die Hände derjenigen fallen, die sie gegen die amerikanischen Interessen benutzen wollen. Es ist kaum anzunehmen, warum dieses Muster sich ändern sollte, sobald die Vereinigten Staaten von Amerika einen großen Teil ihrer selbst unter militärische Besatzung stellen.

Und hier wird es wirklich interessant: eine gut bewaffnete, gut organisierte Erhebung, bestehend aus durchwegs radikalisierten, wütenden Leuten, die absolut nichts zu verlieren haben und für ihr Heim und für ihre Familien gegen ein demoralisiertes, geschlagenes Militär der Vereinigten Staaten von Amerika kämpfen, das spektakulär in jedem Land versagt hat, auf das es „zugegriffen“ hat.

Sie sagen, „du kannst nicht gegen das Rathaus kämpfen.” Aber was ist, wenn du ein Panzerbataillon hast, das vier Kreuzungen rund um das Rathaus kontrollieren kann, Geschütze in alle Richtungen gerichtet, das auf alles feuert, was sich bewegt? Und was ist, wenn du genügend Infanterie hast, um herumzugehen und alle wichtigen Bürokraten des Rathauses herauszuläuten? Würde das nicht die Chancen auf einen Sieg im Kampf gegen das Rathaus ändern?

Die Vereinigten Staaten von Amerika mögen vielleicht ein paar weitere Länder „herausgreifen,” bis es zu diesem Szenario kommt, aber es scheint wahrscheinlich, dass Amerika (außer im Fall eines totalen Kriegs) sich selbst „herausgreifen“ wird, worauf dann alle die Länder, deren Soldaten am letzten Samstag über den Roten Platz marschiert sind, sich nicht länger mit Amerika herumplagen müssten.

Orginalartikel America‘s Achilles‘ Heel vom 12.5.2015

Quelle: http://antikrieg.com/aktuell/2015_05_14_amerikas.htm