Teil 1 einer Artikelserie zu Ursprung, Auswirkung und Aufstieg der in 2001 vom Kongress der Vereinigten Staaten ausgestellten Ermächtigung für den geheimdienstlichen Komplex
Mitternacht in Berlin. In Washington tagt auf Capitol Hill der Senat, eine der zwei Kammern des Parlaments der Republik der Vereinigten Staaten von Amerika, in einer Sondersitzung. Denn diesen Sonntag um Mitternacht U.S.-Ostküstenzeit, am Montag Morgen um 06.00 Uhr unserer Zeit (wir berichteten), laufen Kernbestandteile einer Gesetze-Sammlung aus, die nicht nur die u.s.-amerikanische Gesellschaft in Zeiten eines bald vierzehn Jahre andauernden weltweiten Terrorkrieges auf negative und verheerende Art und Weise prägte, sondern darüber hinaus den Baustein eines eng vernetzten geheimdienstlichen Komplexes schuf, dem die Menschen auf dem Planeten heute ausgesetzt sind: der „Patriot Act“.
Diese Artikelserie und Chronologie soll nun der Öffentlichkeit zumindest einen groben Überblick über den „Patriot Act“ und seine diversen Ermächtigungen geben, denen der U.S.-Kongress im Schatten der Attentate in Washington und New York am 11. September 2001 zustimmte, ohne ihn auch nur gelesen zu haben. Ebenso werden im Laufe der Chronologie die „sections“ bzw „provisions“, die Teile des „Patriot Acts“ beschrieben, die – so sie nicht durch den Senat noch in letzter Minute verlängert werden – am heutigen 1. Juni 2015 schließlich außer Kraft treten, nachdem sie über fast 14 Jahre durch den Kongress immer wieder verlängert, oder sogar ausgeweitet und eskaliert wurden.
13. September 2001:
Nur zwei Tage nach den Attentaten – die trotz eines mit der Unterschrift von Präsident Ronald Reagan unter Executive Order 12333 am 4. Dezember 1981 begonnenen langen Marsches von U.S.-Behörden und militärisch-industriell-geheimdienstlichem Komplex , sowie trotz aller in den 90er Jahren installierten „Anti-Terror“-Gesetzgebungen u.a. im Luftfahrtsektor, durch sämtliche Geheimdienste, Polizeibehörden, Regierungsagenturen, etc, nicht verhindert worden waren – tagt der Senat bis in die Nacht hinein.
Der stellvertretende Vorsitzende des Justizausschusses Orrin Hatch, seit 1977 im Senat, bringt im bereits seit Monaten laufenden Gesetzgebungsverfahren zum Finanzierungsgesetz H.R. 2500 unter dem Terminus „Combating Terrorism Act of 2001“ eine Reihe von „Zusätzen“ („amendments“) ein. „In einer halben Stunde, mitten in der Nacht“, wird der „Combating Terrorism Act“ durch den Senat gewunken.
Der „Combating Terrorism Act“, dessen Inhalte später im „Patriot Act“ wortgleich aufgehen, beinhalten:
– die Uminterpretation von Telefonnummern, die seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofes aus 1979 nicht mehr unter verfassungsrechtlichen Schutz der Privatsphäre stehen, in IP-Adressen bzw Adressen von Telekommunikationsverbindungen (Metadaten), sowie deren Aufzeichnung durch entsprechende Gerätschaften („pen register“ bzw „dialed number recorder“, DNR). Der entsprechende Abschnitt im „Combating Terrorism Act“ wird später Section 216 im „Patriot Act“.
– die Ausweitung von Spionage bzw Abhörmaßnahmen („wiretaps“) im Inland ohne Gerichtsbeschluss durch „ex parte“ (ohne Anhörung des Beschuldigten / Verdächtigen) Autorisierung von einfachen Staatsanwälten, wozu bis zu diesem Zeitpunkt nur hochrangige Regierungsfunktionären im Notfall befugt gewesen waren,
– die faktisch unbegrenzte, weil unbegrenzt interpretierbare Macht von Regierungsstellen (geheime) Inlandsspionage bzw Überwachungsmaßnahmen gegen jedermann zu betreiben und entsprechende Einrichtungen zu installieren, wegen
„(C) einer unmittelbaren Bedrohung von Interessen der Nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika;
(D) unmittelbarer Bedrohung von öffentlicher Gesundheit oder Sicherheit oder
(E) einem Angriff auf die Integrität oder Verfügbarkeit eines beschützten Computers“ (Anm.: im Zuge eines im Text weitergehend definierten „Vergehen“)
sowie insgesamt die
„Autorität mündliche, (Kommunikation) per Kabel und elektronische Kommunikation in Bezug zu Computer Betrug und Missbrauch abzufangen“.
Originalabschnitt:
„AUTHORITY TO INTERCEPT WIRE, ORAL, AND ELECTRONIC COMMUNICATIONS RELATING TO THE COMPUTER FRAUD AND ABUSE.“
Der entsprechende Abschnitt des „Combating Terrorism Act“ wird später Section 202 im „Patriot Act“.
Das in dieser Nacht des 13. September 2001 zunächst als Vehikel dienende Finanzierungsgesetz H.R. 2500 wird im November 2001 ohne die mittlerweile im „Patriot Act“ aufgegangenen Inhalte des „Combating Terrorism Act“ von beiden Kongresskammern endgültig beschlossen.
Über die vom stellvertretenden Justizausschussvorsitzenden Orrin Hatch in dieser Nacht unter dem Namen „Combating Terrorism Act“ eingebrachten „Zusätze“ heisst es im Amendment-Text des Senats zu H.R. 2500 unisono
„Mr. Hatch übermittelte einen Zusatz mit der Absicht von ihm für den Gesetzentwurf H.R. 2500 vorgeschlagen zu werden“
Wer in Wirklichkeit an jenem 13. September 2001 diese umfangreichen und präzedenzlosen Textpassagen und Entwürfe des „Combating Terrorism Act“ aus dem Hut zieht, während nach dem Mord an dreitausend Menschen in den rauchenden Trümmern des World Trade Centers noch die Suche nach Überlebenden läuft, bleibt zu diesem Zeitpunkt im Dunkeln.
03.06.2015 Chronologie zum “Patriot Act” (II): „Jedwede greifbaren Dinge“