Chronologie zum “Patriot Act” (II): „Jedwede greifbaren Dinge“

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Chronologie zum “Patriot Act” Teil 1: Durchblick in einen Abgrund

Washington: Sonntag um Mitternacht, bei Anbruch des 1. Juni 2015, brachte Senator Rand Paul, mit Hilfe von Senatoren wie Ron Wyden, einen Teil vom weltweiten eng vernetzten System der Massenüberwachung zum Stillstand. Drei Bestandteile des ursprünglich in 2001 beschlossenen „Patriot Acts“, die seitdem zwar keine permantente Gültigkeit bekommen hatten, aber dafür immer wieder verlängert oder sogar eskaliert worden waren, konnten durch die Lobby des geheimdienstlichen Komplexes im Senat nicht rechtzeitig verlängert werden.

In der Nacht zum heutigen Mittwoch (3.) nun tagte der Senat erneut und bewilligte schließlich den unter dem zynischen Namen eingebrachten „Freedom Act„. Dieser verlängert in seiner section 705 das erste Verlängerungsgesetz “USA Patriot Improvement and Reauthorization Act” von 2005 erneut bis zum 15. Dezember 2019 (wir berichteten.)

Der “Patriot Act” verändert in seiner (derzeit bis zur Unterschrift des U.S.-Präsidenten stillgelegten) Section 215 den “Foreign Intelligence Surveillance Act of 1978″ (F.I.S.A. Act) und ermächtigt so zunächst einmal die Bundespolizei F.B.I., zwecks einer „Untersuchung“ zur Abwehr von „internationalem Terrorismus“ und Spionage „jedwede greifbaren Dinge“ („any tangible things“) an sich zu bringen bzw zu „produzieren“, also zu rauben oder zu kopieren (wie Daten zum Beispiel) – ohne Gerichtsbeschluss.

Die entsprechende Rechtsformulierung

„may make an application for an order requiring the production of any tangible things (including books, records, papers, documents, and other items) for an investigation“

ist nicht an Individuen gebunden, kann also durch entsprechende Interpretation als Vollmacht über das gesamte (In-)Land ausgelegt werden.

Des Weiteren ermächtigt Section 215 den Justizminister, der auch oberster Staatsanwalt (“Attorney General”) der U.S.A. ist, für diese “Untersuchung“ des F.B.I. “Handlungsanweisungen” (“guidelines”) nach dem Präsidentenbefehl (“Executive Order”) 12333 von Ronald Reagan vom 4. Dezember 1981 zu erlassen.

Damit kann nicht nur die „National Security Agency“ (N.S.A.), sondern auch die Bundespolizei „Federal Bureau of Investigation“ (F.B.I.) ihre unter Berufung auf Section 215 betriebene Inlands-Spionage ( deren tatsächlicher Umfang geheim ist) wieder aufnehmen. Der „Guardian“, wie viele Zyniker unter falscher Flagge merkbar erleichtert, kam heute aus dem „Snowden“ gar nicht mehr heraus und meldete:

„Die Annahme des Freedom Acts wird den Neustart genau des Programms bedeuten, das der Kongress beschlossen hatte zu killen. (…) Ein führender Regierungsbeamter sagte dem Guardian, dass die N.S.A. vor einem Neustart-Prozess stehe.“

Noch immer wissen die Wenigsten, was das wirklich bedeutet. Und wie es seinen Anfang nahm.

 17. September 2001:

U.S.-Justizminister John Ashcroft, gleichzeitig auch oberster Staatsanwalt der U.S.-Republik, stellt sich im F.B.I. Hauptquartier zusammen mit F.B.I.-Chef Robert Mueller vor die Presse und gibt eine Konferenz. Er verlangt vom Kongress die Autorisierung von „ausgedehnter elektronischer Überwachung“ und Abhörmaßnahmen durch Polizeibehörden gegen jedermann – auch U.S.-Bürgerinnen und Bürger – und kündigt entsprechende Gesetzesinitiativen an, auch zur finanziellen Durchleuchtung von Bürgern und „Aliens“ (im Amerikanischen sowohl Synonym für „Ausländer“ als auch „Außerirdische“, in etwa mit „Fremdkörper“ übersetzbar).

Nach der Pressekonferenz wird an Journalisten ein entsprechender, äußerst weitreichender und ausführlicher Gesetzentwurf verteilt, der zunächst „Akt der Mobilisierung gegen Terrorismus“ (Mobilization Against Terrorism Act, MATA) und dann „Anti-Terrorismus-Akt“ (Anti-Terrorism Act, ATA) genannt wird.

Dieser ist, ohne dass dies bis zum heutigen Tage irgendjemandem groß aufgefallen wäre, in weiten Teilen identisch mit dem vier Tage zuvor, am 13. September 2001, im Senat als „Zusätze“ zum Finanzierungsgesetz H.R. 2500 durchgewunkenen „Combatting Terrorism Act“. Dessen Unterschrift wiederum trägt der bis heute im Senat sitzende Orrin Hatch. (siehe Teil 1)

Die „Electronic Frontier Foundation“ protestiert. Nicht nur drohe durch den „Anti-Terrorism Act“ die Gewaltenteilung zu „kippen“, auch das geplante indirekte Bespitzeln der eigenen Landsleute durch (alliierte) ausländische Regierungen und den Gebrauch entsprechender Informationen ausländischer Geheimdienste gegen U.S.-Amerikaner kritisiert die U.S.-Bürgerrechtsorganisation scharf.

U.a. enthält bzw ermöglicht dieser nun aus dem Hut gezogene Regierungsentwurf:

– den faktischen Zusammenbruch von Gewaltenteilung bzw der Kontrolle von Exekutivbehörden (Regierung, Polizei, Spione) bei deren Abhörmaßnahmen,

– die Identifizierung von Internet-Nutzern über Eigenschaften ihres Browsers durch die „Gesetzesvollstrecker“ („law enforcement“), ohne Gerichtsbeschluss,

– die Weitergabe aller durch Abhörmaßnahmen „gewonnenen“ Informationen über U.S.-Einwohner an jedweden Funktionär,  Bürokraten, Agenten, Soldaten, Polizisten, Sekretär und einfachen Angestellten der gesamten Bundesbehörden,

– inländische „Untersuchungen“ nach dem „Foreign Intelligence Surveillance Act“ (FISA), also bezüglich von Spionage und Gegenspionage, zu entfesseln und den Präsidenten zu autorisieren auch gegen jeden U.S.-Bürger und jede Organisation in den U.S.A. ein entsprechendes geheimes Verfahren in Gang zu setzen und diese beobachten zu lassen,

– Menschen in den Vereinigten Staaten daran zu „hindern“ auch nur über terroristische Akte zu sprechen,

– eine Datenbank mit Genmaterial anlegen zu lassen, in die DNA von Verurteilten überführt wird, deren Straftaten fast ausschließlich nicht in Bezug zu Terrorismus stehen.

Bei ihrem am 19. September 2001 formulierten Protest der „Electronic Frontier Foundation“ erwähnt diese zwar den bereits am 13. September 2001 „hastig“ durch den Senat gewunkenen „Combatting Terrorism Act“, aber nicht, dass dieser in Teilen identisch ist mit dem nun von Regierung (und de facto auch dem F.B.I.) vorgestellten „Mobilization Against Terrorism Act“ bzwAnti-Terrorism Act“.

Auch der Bürgerrechtsorganisation „Electronic Privacy Information Center“ (EPIC) fällt dies bei ihrer Analyse vom 24. September 2001 offenkundig nicht auf. Auch in der Dokumentation von EPIC zum Zustandekommen des „Patriot Act“ fehlt der bereits am 13. September 2001 durch den Senat gejagte „Combatting Terrorism Act“.

Was EPIC allerdings auffällt: der von Ashcroft und F.B.I.-Chef Mueller auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz quasi vorab beworbene und nach der Pressekonferenz unter Journalisten verteilte „Anti-Terrorism Act“ ermächtigt das in 2000 aufgeflogene geheime F.B.I.-Abhörsystem „Carnivor“ nun nicht nur  Telefonverbindungsdaten (Metadaten), sondern alle Telekommunikationsverbindungsdaten aufzuzeichnen, auch die des sich gerade exponential entwickelnden World Wide Web im Internet.

Bereits in 2000 war zudem der Öffentlichkeit gewahr geworden, dass das von den F.B.I. Laboren selbst entwickelte System „Carnivore“ nicht nur Zugriff auf Metadaten, sondern auf die gesamte Telekommunikation von Telefongesellschaften und Providern bekam. Und war die „vollständige Netzüberwachung“ durch die U.S.-Bundespolizei – und die Anpassung der Infrastruktur des gesamten Internets an die Spionage-Vorgaben des F.B.I. – vor einem Jahrzehnt in der Öffentlichkeit noch vereinzelt Thema, so bekam man es im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im Zuge der „Snowden-Enthüllungen“ gerade noch hin „Carnivore“ mit PRISM der National Security Agency (N.S.A.) zu vergleichen.

Und was selbst heute kaum jemand weiß, weil gerade in Deutschland fast alle in Parteien, Parlamenten, Presse, Anwaltskanzleien, Bürgerrechtsorganisationen, etc, seit Jahrzehnten entweder sich selbst oder die Öffentlichkeit belügen:

Durch den „Digital Telephony and Communications Privacy Improvements Act“ alias „Digital Telephony Bill“, „Network Wiretap Bill“ bzw „Communications Assistance for Law Enforcement Act“ (CALEA) vom 7. Oktober 1994 wurden alle Telekommunikations-Firmen und -Dienstleiser in den Vereinigten Staaten per Gesetz dazu gezwungen, Abhöranlagen der Bundespolizei F.B.I. bei sich zu installieren und zukünftige technische Entwicklungen an die Spionagevorgaben der Bundespolizei anzupassen.

Entsprechendes geschah, explizit nach Vorgaben des F.B.I. und seiner internationalen klandestinen Verbindung mit Geheimdiensten u.a. aus Deutschland namens „ILETS“ („International Law Enforcement Telecommunications Seminar“), 1995 in den Mitgliedsstaaten der „Europäischen Union“ durch die “Enfopol”-Resolution (96/C 329/01 zum “gesetzlichen Abfangen von Telekommunikation” (dt. Version: “über die rechtmäßige Überwachung des Fernmeldeverkehrs“) vom 17. Januar 1995. (mehr dazu in Schach dem Neoconopticon)

Der (keineswegs rechtlich bindenden) Resolution des E.U.-Rats folgte in Deutschland am 18. Mai 1995 die  “Fernmeldeverkehrüberwachungsverordnung” (FÜV) der Bundesregierung (wir berichteten).

Ihr folgte der Aufbau einer Infrastruktur der Totalüberwachung dieser immer noch jungen Republik, in der wir heute leben.

Teil 3 erscheint demnächst. Korrektur am 12.03.2017: erscheint nach eigenem Ermessen.