Auf der Suche nach einem Helden
VOR ETWA 60 JAHREN schrieb der damals neue ägyptische Machthaber Gamal Abd-al-Nasser ein Buch über „Die Philosophie der Revolution“. In Nachahmung des Stückeschreibers Luigi Pirandello (Sechs Personen suchen einen Autor) behauptete er, dass die Aufgabe der Vereinigung der arabischen Welt die „Suche nach einem Helden“ sei.
Nach einem Helden schreit in diesem Augenblick die Aufgabe, eine israelische Kraft zu schaffen, der es gelingt, uns von Benjamin Netanjahu und seiner Gang politischer Hooligans zu befreien.
Irgendwo unter den Millionen israelischer Männer und Frauen muss ein Held versteckt sein, der Israel retten wird.
DIE FÜHRERIN der Meretz-Partei Sehava Galon schockierte letzte Woche viele ihrer Anhänger damit, dass sie laut darüber nachdachte, dass ihre Partei sich mit einer anderen Partei zusammentun müsse, um zu überleben und um sich an den Bemühungen zu beteiligen, die rechtsgerichtete Regierung zu ersetzen.
Natürlich sagte sie das aus Angst. Die linke zionistische Partei Meretz wurde in den letzten Wahlen fast ausgeschaltet. Mitten im Wahlkampf deuteten Meinungsumfragen darauf hin, dass die Partei vielleicht die 4%-Hürde nicht nehmen könnte. Daraus hätte sich unter anderem der Verlust aller Stimmen ergeben, die für sie abgegeben worden waren.
Die Berichte alarmierten viele Wähler und sie eilten in letzter Minute Meretz zu Hilfe. Statt die Arbeitspartei zu wählen (die sich diesmal als „Zionistisches Lager“ verkleidete), stimmten sie für Meretz und retteten damit die Partei. Sie zog mit fünf Sitzen – gerade eben über dem notwendigen Minimum – in die gegenwärtige Knesset ein.
Für Galon und ihre Kollegen war der Schock enorm. Am Tag nach der Wahl trat sie zurück, aber kurz darauf überlegte sie es sich anders und trat von ihrem Rücktritt zurück. Sie blieb Parteiführerin.
Jetzt fürchtet sie offensichtlich, dass Meretz in den nächsten Wahlen verschwinden könnte. Sie möchte, dass Meretz sich irgendwie mit wenigstens einer anderen Partei zusammentut.
Meretz befindet sich zwischen dem „Zionistischen Lager“ und der „Vereinigten Liste“, zu der sich die arabischen Parteien vereinigt haben, weil sie ebenfalls fürchteten, dass keine der einzelnen Parteien die 4%-Hürde würde nehmen können.
Das Problem (für Galon) ist, dass keine der beiden benachbarten Parteien irgendeine Bereitschaft zeigt, ihre Partei aufzunehmen.
Das „Zionistische Lager“ (auch Arbeitspartei genannt) ist todängstlich, dass man es als linksgerichtet etikettieren könnte. Es möchte eine Zentrumspartei sein, da es glaubt, dass diese die Stimmen zusammenbringen kann, die sie dringend braucht, um zurück an die Macht zu kommen. Wenn die Partei eine Union mit Meretz einginge, würde sie sich mit einer noch schlimmeren Links-Färbung beflecken.
Auch die arabische Liste auf der anderen Seite kann sich nicht mit Meretz vermählen. Die Liste besteht aus drei unterschiedlichen Kräften: den Kommunisten (mit einigen jüdischen Mitgliedern), den Islamisten und den arabischen Nationalisten. Wenigstens die letzteren beiden werden eine zionistische jüdische Partei nicht in ihre Allianz aufnehmen.
Galons Wunschvorstellung hat deshalb wenig Chancen, sich zu erfüllen. Meretz, die auf ihrem Höhepunkt 12 Knessetabgeordnete hatte, ist in ihrer Existenz bedroht. Das würde heißen, dass die ohnehin schon geringen Chancen, der extrem rechten Koalition die Macht zu entreißen, noch geringer würden.
MIT DEM gesamten Ansatz stimmt grundsätzlich etwas nicht.
Politik ist kein Lego-Spiel. Man kann mit Parteien nicht wie mit Bausteinen umgehen: sie beliebig zusammensetzen und wieder auseinandernehmen. Parteien bestehen aus Menschen, von denen jeder seine eigene Denkweise hat.
Wenn man zwei verlierende Parteien zusammenlegt, schafft man damit noch keine gewinnende Partei. In der Politik machen zwei und zwei nicht notwendig vier. Wenn man Glück hat, können sie fünf machen. Aber sie können auch leicht auf drei absinken.
Eine aus Meretz und dem Zionistischen Lager vereinigte Partei kann viele der Wähler der Mitte verlieren, die linke Haltungen verabscheuen, und gleichzeitig kann sie Linke verlieren, die ihre kostbare Stimme nicht dem Zionistischen Lager geben wollen, das sie – nicht ohne Grund – als einen verwässerten Likud betrachten.
Die Einstellungen des Zionistischen Lagers sind bestenfalls Wischiwaschi. Sein Führer Jitzchak Herzog hatte sich angeboten, als Netanjahus Helfer im dummen Propaganda-Krieg gegen das Abkommen der USA mit dem Iran in die USA zu fliegen. Die Partei erhebt ihre Stimme nicht dagegen, dass im besetzten Westjordanland fast täglich Palästinenser erschossen werden. Im Kampf gegen die Magnaten, die Israels ohnehin geringe Naturressourcen plündern, ist von ihr nur ein Flüstern zu hören. Gegen die Kampagne des Likud gegen den Obersten Gerichtshof erhebt sie kaum ihre Stimme. (Ein Minister vom Likud forderte den Ausschluss arabischer Richter, die die Nationalhymne, die die „jüdische Seele“ feiert, nicht mitsingen.)
Meretz ist nicht wesentlich mutiger. Sie erwähnt das Wort „Frieden“ so gut wie nie, sondern sie spricht lieber von einer „politischen Abmachung“. Kein Mensch opfert sich für eine „politische Abmachung“.
Viele Wähler von Meretz mit tief verwurzelten zionistischen Überzeugungen werden nicht für eine Liste stimmen, auf der arabische Mitglieder wie die Knesset-Abgeordnete Chanin Suabi stehen. Sie ist eine provozierende Person, die sich einen Sport daraus macht, jüdischen Durchschnittsisraelis eine Nase zu drehen und ihre Gemüter zu erschüttern.
ABER DAS Hauptproblem ist die Führung.
Sehava Galon ist sehr nett. Sie ist ehrlich und geradlinig. Sie denkt und sagt das Richtige. Man kann sie mit gutem Gewissen wählen.
Das Problem ist, dass sie kein Charisma ausstrahlt. Man kann sie wählen, sie unterstützen, sie sogar mögen. Aber man begeistert sich nicht für sie. Sie ist keine mitreißende Rednerin, sie flößt weder Liebe noch Verehrung ein.
Leider gilt das auch für alle anderen Führer einer möglichen künftigen Allianz. Jitzchak Herzog, Zipi Livni und Scheli Jachimowitsch sind alle gute Leute. Ihnen allen würde ich, ohne zu zögern, einen Gebrauchtwagen abkaufen. Sie sagen oft sehr vernünftige Sachen. Aber sie alle können Menschen weder begeistern noch sie inspirieren noch sie dazu bringen, massenhaft ihre Anhänger zu werden.
Und was schlimmer ist: Sie alle haben nichts Neues zu sagen. Sie können ziemlich langweilig sein. Wenn man sie im Fernsehen sieht, fühlt man durchaus nicht den unwiderstehlichen Drang, aus dem Sessel aufzuspringen, auf die Straße zu rennen und dort „Nieder mit Netanjahu!“ zu schreien.
ISRAEL braucht unbedingt einen Helden, einen Führer.
Einen Menschen (einen Mann oder eine Frau), der die Menschen inspiriert, der ihre Liebe und Verehrung auf sich zieht, der sie dazu bringt, einen Wandel herbeizuwünschen.
Nicht nur einmal alle paar Jahre am Wahltag, sondern jeden Tag, jetzt.
Es geht nicht vor allem um Persönlichkeit und um Charisma, obgleich auch die wichtig sind. In erster Linie geht es um Ideen, um Überzeugungen.
Die Menschen in Israel haben den Eindruck, dass die Linke nichts Neues zu bieten hat. Keine neuen Gesichter, keine neuen Ideen, keine neuen Wahlsprüche – und das seit sehr langer Zeit. Die Linke – wie soll man sagen – begeistert einfach nicht.
Niemand wird für etwas sterben wollen, das sich „Zentrum-links“ nennt. Das ist ein Import aus Amerika und hat keine einzige Wurzel in der politischen Tradition Israels. Es vermittelt die Idee von Wischiwaschi, etwas Unverbindlichem, Vagen, von ein bisschen hiervon und ein bisschen davon.
Wir brauchen unbedingt jemanden, der eine neue Fahne hisst, der eine neue Überzeugung ausstrahlt, der es versteht, die ewigen Wahrheiten in neue ideologische Gewänder zu kleiden – ja Frieden, ja Gleichheit, ja Gerechtigkeit, ja Patriotismus – und das alles auf eine Weise, dass sich Menschen, und besonders junge Menschen, dafür begeistern können.
In der jüdischen Legende sind es die Makkabäer, die die Fahne hissten und riefen: „Wer für Gott ist, schließe sich uns an!“ Etwas Derartiges brauchen wir.
NACH DEN letzten Wahlen, hoffte ich, das würde nun geschehen. Alle waren schockiert. Netanjahus Überraschungssieg und die Errichtung einer sehr, sehr weit rechten Regierung hätten jeden rechtdenkenden (und linksdenkenden) israelischen Patrioten aus seiner Gleichgültigkeit reißen sollen.
Nun, das geschah nicht. Ein paar Tage lang gab es viel Aufregung, Politiker sprachen von einem „Neubeginn“ und das war es dann. Alles kehrte ganz gemütlich zu dem zurück, was zuvor gewesen war.
Nur dass es jetzt eine Regierung gibt, die sich aus Leuten zusammensetzt, die sich vor dreißig Jahren keiner von uns in dieser Stellung hätte vorstellen können. Wie ein Mückenschwarm ließen sie sich auf dem Land nieder, entwarfen Gesetze und brachten sie durch, Gesetze, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Das neueste: zehn Jahre Gefängnis für das Werfen eines Steins – wenn der Werfer kein jüdischer Siedler in Konfrontation mit Soldaten ist, wie es diese Woche einige Male vorkam. (Wie jemand scherzte: Goliath hätte den jungen David ins Gefängnis geworfen und die Bibel würde dann ganz anders aussehen.)
Wie war es möglich, dass dieser Haufen fanatischer Antidemokraten Minister und Ministerstellvertreter werden konnte? Netanjahu gab sich große Mühe, alle gemäßigten, vernünftigen Schüler Wladimir Jabotinskis und Menachem Begins, die mit ihm hätten konkurrieren können, auszubooten. Stattdessen förderte er eine Gruppe wild ehrgeiziger Niemands, die keine andere Qualifikation außer einem Anflug von Gewalttätigkeit hatten. Sie bemannen (und befrauen) jetzt die Ministerien.
Ich glaube daran, dass man einen Führer nach den Leuten beurteilen kann, mit denen er sich umgibt. Ein selbstbewusster Führer wählt ernsthafte und kompetente Helfer. Ein Führer, der seiner selbst nicht sicher ist, umgibt sich mit Niemands, die seine Stellung nicht gefährden und im Vergleich mit denen er wie ein Genie wirkt. Oder kurz: Netanjahu.
BEI SEHAVA GALONS Vorhaben gibt es einen Punkt, der besondere Aufmerksamkeit verdient.
Sie hat die Möglichkeit einer Vereinigung zwischen Meretz und der Arabischen Liste nicht ausgeschlossen. Im heutigen Israel kommt das einer mentalen Revolution nahe.
In den ersten Jahrzehnten Israels war die Bindung zwischen der israelischen Friedensbewegung und den arabischen Bürgern Israels eng und wurde immer enger. Ich selbst habe mich an der Organisation vieler gemeinsamer Demonstrationen für Frieden und Gleichheit beteiligt.
In den letzten Jahrzehnten wurde dieser Prozess zurückgefahren, bis fast nichts davon übrig geblieben ist. Arabische Bürger sind von der jüdischen Linken zutiefst enttäuscht. Jüdische Linke befürchten, für „Araberliebhaber“ und Antizionisten gehalten zu werden.
Dasselbe ist zwischen der israelischen Friedensbewegung und den Palästinensern in den besetzten Gebieten geschehen. Israelische Linke hatten Angst, sie könnten für unpatriotisch gehalten werden. Nach der Ermordung Jitzchak Rabins hatten die Palästinenser das Gefühl, die israelischen Linken unterschieden sich nicht sehr von den israelischen Rechten. Seit Arafats Tod fürchten Palästinenser außerdem alles, was nach „Normalisierung“ aussieht, alles, was als Duldung der Besetzung gedeutet werden könnte.
Von keinem vernünftigen Israeli kann man erwarten, dass er an Frieden glaubt, wenn nicht einmal israelische Linke mit arabischen politischen Kräften in Israel zusammenarbeiten können, geschweige denn mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten.
Eine derartige Zusammenarbeit aufzubauen ist darum die vorrangige Pflicht jedes Neuerwachens der israelischen Friedenskräfte, dazu der Aufbau einer neuen Bewegung mit breiter Basis, um die rechtsgerichtete Koalition zu stürzen, die Israel runterzieht, weg vom Frieden, weg von Demokratie, weg von Gerechtigkeit.
Wenn der Held das hört, dann möge er doch bitte aufstehen.
1. August 2015
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler