„Stuttgart 21“: Rede auf Montagsdemo zum fünften Jahrestag der Zerstörung des Nordflügels
Die Rede von Dipl.-Ing. Peter Dübbers, Architektinnen und Architekten für
K21, auf der heutigen 285. Stuttgarter Montagsdemo der Demokratiebewegung gegen das urbane und verkehrsindustrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21). Die Montagsdemo zum 5. Jahrestag der Zerstörung vom Nordflügel des intakten Stuttgarter Kopfbahnhofs steht unter dem Motto „5. Jahrestag zur Zerstörung des Nordflügels – Viel zerstört und nichts gewonnen!“.
Als ich vor dreieinhalb Jahren zuletzt hier auf der Demobühne gestanden bin, hat die Welt noch etwas anders ausgesehen. Wir Architektinnen und Architekten für K21 hatten eine Demo gestaltet mit Anklage der Verantwortlichen bei Politik, Bahn und Stadt auf großen Portraitfotos und mit anschließendem Schweigemarsch. Der Platz hier war bis weit zum Königsbau mit Demoteilnehmern gefüllt.
Mein Spezialthema, der Versuch, das geerbte Urheberrecht gegenüber der Bahn einzuklagen und so den Bonatzbau zu retten, war nach zwei verlorenen Instanzen damals schon so gut wie erledigt. Ähnlich wie die Demobeteiligung haben inzwischen auch die Aktivitäten der ArchitektInnen für K21 merklich nachgelassen. Aber muss einen das wundern? Nach so langer Zeit mit unzähligen Veranstaltungen und 285 Montagsdemos? Nach dem ständigen Frust mit der nicht zu überbietenden Beratungsresistenz der Verantwortlichen gegenüber stichhaltigen Argumenten und der eindeutig pro-S21-orientierten Rechtsprechung, deren gemeinsame, schlimmste Vorstellung es offensichtlich ist, einer Bürgerbewegung von unten Recht geben zu müssen!
Deshalb muss man Ihnen und Euch hier und allen Organisatoren und „Mahnwächtern“ immer wieder dafür danken, dass Ihr als harter Kern die Glut des Widerstands gegen das Wahnsinnsprojekt Stuttgart 21 am Leben erhaltet. Wer weiß, welche Ereignisse in Zukunft den Protest wieder richtig aufflammen lassen. Denn die ganz große Zahl der Gegner – mit Ausnahme vielleicht der vermeintlich „guten Demokraten“, die sich durch die Volksabstimmung endgültig einschüchtern ließen, könnte sicher durch einen entsprechenden Vorfall wieder aktiviert werden.
Heute, am Vorabend des 25. August, denke ich an den 25. August 2010, als vor fünf Jahren – einem halben Jahrzehnt! – mit dem ersten Baggerbiss am Nordflügel die barbarische Zerstörung begonnen hat, die sich kaum einer hatte vorstellen können und die manchem Zornestränen in die Augen trieb. Aus diesem Anlass habe ich einen offenen Brief an unseren OB Fritz Kuhn geschrieben und vorhin im Rathaus abgegeben. Den möchte ich jetzt vorlesen:
OFFENER BRIEF zum 25. August 2015
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kuhn!
Sie werden vielleicht mit dem Datum 25. August 2015 nichts Besonderes verbinden – die große Zahl von Kopfbahnhof-Freunden in Stuttgart und im Land dagegen sehr viel! Es jährt sich nämlich zum fünften Mal der Beginn des Abbruchs des Nordflügels am Stuttgarter Hauptbahnhof, der Beginn der Teilzerstörung eines stadt-bildprägenden Bau- und Kulturdenkmals von europäischem Rang – zu Gunsten des äußerst fragwürdigen Megaprojekts Stuttgart 21 der Deutschen Bahn AG, das Ihre Vorgänger OB Rommel und OB Schuster nach Kräften gefördert und gefordert haben.
Sie selbst haben von diesem „Jahrhundertprojekt für Stuttgarts Infrastruktur“ (tatsächlich mehr für Stuttgarts Immobilienmarkt) bis zur Volksabstimmung im November 2011 nichts gehalten und es wortreich kritisiert, und dann, nachdem Sie – auch mit Hilfe Tausender Stuttgart-21-Gegner – zum Oberbürgermeister gewählt waren, haben Sie nach Ihrem Amtsantritt im Januar 2013 zunächst noch die Hoffnung auf einen echten Kurswechsel im Stuttgarter Rathaus geweckt: Sie haben versprochen, Alternativen zu Stuttgart 21 zu prüfen und die „Desinformationen“ der DB AG zu bekämpfen.
Inzwischen haben Sie sich längst auf den Standpunkt Ihres Freundes Winfried Kretschmann, unseres Ministerpräsidenten, zurückgezogen, dass in der Demokratie die Mehrheit, nicht die Wahrheit zähle (ein „Realpolitiker“-Spruch, der im Grunde eine wünschenswerte demokratische Staatsform mit den Bürgern und für die Bürger ad absurdum führt), und dass Sie als guter Demokrat das Votum der Volksabstimmung und die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten zu respektieren hätten.
Wäre es aber bei Ihrer Grundhaltung zu Stuttgart 21 nicht ehrlicher, mit der starken Stellung im Gemeinderat, die Ihnen die Gemeindeordnung verleiht, mit aller Kraft und Ihrem rhetorischen Geschick für eine Änderung dieser Mehrheitsverhältnisse zu kämpfen? Ist es ein großes Konsensbedürfnis oder die Angst vor Niederlagen, die Sie davon abhält?
Natürlich gibt es momentan in Stuttgart noch andere, ebenso akute Probleme: Von der Flüchtlings-Unterbringung über die Feinstaubreduzierung mit dazu notwendigen Verkehrsbeschränkungen und gleichzeitiger Stärkung des ÖPNV bis zum dringend zu steigernden sozialen Wohnungsbau. Aber das darf doch kein Grund sein, die Bahn in dem wichtigen Citybereich rund um den Hauptbahnhof, den sie bisher (mit Billigung der Stadt!) nur gründlich zerstört hat, in ihrer Planlosigkeit dahinwurschteln zu lassen – ohne echte Kontrolle durch die Stadt.
Im Spiegel-Interview vom Oktober 2012 hatten Sie noch postuliert: „Partnerschaft geht nicht ohne Transparenz. Das muss die Bahn wissen.“ Was ist davon geblieben, wenn Sie sich nicht einmal mit der Forderung durchsetzen konnten, die Frage der Bahnhofsturm-Gründung – Eisenbeton-oder doch Eichenpfähle? – mit einfachen Mitteln endgültig und nachprüfbar zu klären?
Ich hoffe, Sie haben trotz Ihrer starken zeitlichen Belastung den ausgezeichneten Artikel „Ja mach nur keinen Plan!“ von Prof. Arno Lederer, z.Zt. einem der besten Architekten Stuttgarts, vom 8. August in der Stuttgarter Zeitung gelesen. Er schildert ja mit treffenden Vergleichen das Dilemma der fehlenden städtebaulichen Vision für diese prägnante und empfindliche Engstelle im Stuttgarter Talkessel zwischen Kriegsberg und Kernerviertel, die im A1-Areal durch überdimensionierte und gesichtslose Investorenklötze bereits „nachhaltig“ verunstaltet ist!
Sie wollen jetzt schon eine Bürgerbeteiligung für das „Rosensteinviertel“ auf dem Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs beginnen. Das würde aber erst in vielen Jahren und nur bei ausreichender Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs, vor allem im Hinblick auf den dringend notwendigen Zuwachs im Nah- und Regionalverkehr, ganz frei werden. Viel wichtiger wäre aber doch ein Anlauf zur Lösung dieser weiträumigen, städtebaulichen Problematik rund um den Hauptbahnhof.
Die Stadt sollte zum Beispiel einen mehrstufigen Ideenwettbewerb unter Stadt- und Freianlagenplanern und Architekten für diesen Citybereich ausloben. Dabei müsste das Thema nicht nur die Situation mit dem geplanten Tiefbahnhof sein, sondern als gleichwertige Alternative auch die Situation mit einem kompletten, zeitgemäß ergänzten und ertüchtigten, allenfalls noch mit einem reduzierten Kopfbahnhof in Kombination mit einem schmaleren Tiefbahnhof. Sowohl die Ausschreibung als auch das Ergebnis wäre in einer breiten Bürgerbeteiligung transparent zu machen.
Dieser „B-Plan“ könnte dann zur Verfügung stehen, wenn Stuttgart 21 doch noch an der technischen Undurchführbarkeit, an der Geologie- und Mineralwasser-Problematik, am immer weiter ausufernden Finanzbedarf, an juristischen Hürden, oder gar an der späten Einsicht der Politiker scheitern würde. Jeder einzelne dieser Gründe ist nicht ganz auszuschließen!
Ein anderes Beispiel für mangelnde Transparenz ist für mich als Erbe des Urheberrechts meines Großvaters Paul Bonatz am historischen Hauptbahnhof besonders unverständlich: Die Tatsache, dass die Bahn ihre Planung für den – angeblich über 100 Millionen teuren – Umbau des verbliebenen Kopfbahnhof-Torsos nur in einer nichtöffentlichen Ausschusssitzung des Gemeinderats vorträgt und der Öffentlichkeit keine Pläne gezeigt werden.
Man könnte fast vermuten, dass die Bahn bei den ständigen Verzögerungen im Bauablauf insgeheim darauf spekuliert, die Fertigstellung bis 2026 hinauszuzögern, weil dann das Urheberrecht – 70 Jahre nach dem Tod des Erbauers – endgültig erlischt. Mit dem zahnlosen Denkmalschutz in Stuttgart hat sie wohl auch vorher keine gravierenden Probleme.
Sehr geehrter Herr Kuhn, sicherlich möchte doch jeder Oberbürgermeister eine möglichst positive Spur in der Geschichte seiner Stadt hinterlassen. Wenn Sie sich aber in der Kritik an Stuttgart 21 gegen Ihre innere Überzeugung weiterhin so passiv verhalten, wird sich ein lobendes Prädikat in Zukunft bestimmt nicht einstellen, das Ihnen Ihr Stellvertreter Herr Föll bei Ihrer 60er-Feier im Rathaus vorauseilend schon mal zugeschrieben hat: Fritz Kuhn, der Brückenbauer in einer gespaltenen Stadt. (Josef-Otto Freudenreich hat das in der KONTEXT:Wochenzeitung vom 8.7.2015 in der Überschrift zu seinem Bericht über diese Feier übrigens abgewandelt in Der Brückenabbauer.)
Mit freundlichen Grüßen
gez. P. Dübbers
Liebe Freundinnen und Freunde, ich habe nicht die Illusion, dass dieser Brief etwas direkt bewirken wird. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass wir immer wieder die Verantwortlichen und die „willigen Vollstrecker“ daran erinnern, was sie unserer Stadt schon angetan haben und ihr weiterhin antun wollen.
Und wenn wir das scheinbar Unmögliche denken können, werden wir auch
OBEN BLEIBEN!