„Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird“
Die Rede von Dr. med. Dipl. Psych. Angelika Linckh bei der heutigen 286. Stuttgarte Montagsdemo der Demokratiebewegung gegen das urbane und regionale Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21). Die Rede trägt den Titel „Wir verstehen nicht nur Bahnhof!“. Die Montagsdemo beginnt um 18 Uhr auf dem Stuttgarter Schlossplatz.
Vielleicht hoffen jetzt einige von Ihnen und Euch, dass ich als Ärztin über die krankmachenden Aspekte von S21 rede oder als Psychologin über Frustration und Wege zur Gesunderhaltung. Nein, darüber will ich nicht sprechen, ich spreche heute hier als eine, die seit 1984 in Stuttgart lebt und arbeitet und seit 2009 gegen S21 auf die Straße geht, die im Parkschützer-Forum parkschuetzer.de als Nr. 724 registriert ist.
Liebe Freunde und Freundinnen, heute geht es mir um eine Standortbestimmung unseres Protestes auf der
Straße.
Manchmal frage ich mich, ob es angemessen ist, angesichts einer Welt, die dramatisch aus den Fugen gerät, immer wieder montags hier gegen die Fehlplanungen der S21-Murkser und Profitmacher zu protestieren? Und ich sage, ja, das ist es! Es ist angemessen.
Seit mehr als einem halben Jahrzehnt treffen wir uns an dieser Stelle zu unserem montäglichen Forum gegen S21 und haben in diesen Jahren viel gelernt. Wir lesen anders Zeitung, wir sehen anders die Tagesschau, wir hören anders Radio, wir haben etwas verstanden vom politischen „Prinzip Stuttgart21“. „Bei vielen Beteiligten schwingt … die Ahnung mit, dass mit der modernen Welt mehr im Argen liegt, als nur dieser eine Stein des Anstoßes.“ (aus dem Nachwort der Redaktion des Tunnelblicks „Tyrannei der Geschwindigkeit“) Wir haben unseren Blick auf Zusammenhänge über unser Kernthema Stuttgart21 hinaus längst geschärft.
Wie Christine Prayon so fantastisch gesagt hat: Wir sehen sogar dort Zusammenhänge, wo welche sind.
Dieselben politischen Kräfte und Wirtschaftskonzerne, die hier mehr als 10 Milliarden Euro für ein schädliches Großprojekt vergraben und dabei unsere Heimat, unsere Stadt kaputt machen, zerstören zum Beispiel in Afrika und im Nahen Osten die Lebensmöglichkeiten mit systematischer Destabilisierung, mit Wirtschaftsverträgen und mit Kriegen. Wir S21-Gegner machen nicht einfach Politik unter einer Stuttgarter Käseglocke.
Wir verstehen „nicht nur Bahnhof!“. Wir haben viel politische Erfahrung gesammelt, seit wir regelmäßig auf die Straße gehen.
Wir fügen unseren kleinen Mosaikstein zum weltweiten Kampf gegen eine verantwortungslose Politik hinzu. S21 ist ein klimaschädliches Projekt. Wir wollen, dass dieser Planet bewohnbar bleibt für die menschliche Spezies. Dafür braucht es radikale Änderungen. Naomi Klein sagt ganz richtig:
„Wir können es schaffen, das ist kein naiver Optimismus, sondern ein Kampf der Menschen, die noch nicht aufgegeben haben!“
Wir sagen „Stuttgart21 ist überall. Wehrt Euch. Vernetzt Euch!“
Überall in der Welt müssen wir erleben, dass einfach so weiter gemacht wird, auch wenn eine Entscheidung sich als falsch erwiesen hat. Die überheblichen Mächtigen wollen ihre Durchsetzungsfähigkeit beweisen und damit meist die Interessen der Profitmacher bedienen – unabhängig davon, was sachlich richtig ist und was dabei zerstört wird. Und sie nutzen das staatliche Gewaltpotenzial – in Istanbul wie am Euro Tunnel, in Stuttgart wie im Souza-Tal, bei TTIP und bei der Troika-Erpressungspolitik gegen die Griechen, und jetzt an den europäischen und nationalen Grenzen. Auch diese Themen sind Themen unserer montäglichen Demonstration. Auch diesen Themen haben wir uns hier gewidmet.
Unsere Kundgebungen sind nicht der Ort, an dem – so hat es Peter Grohmann in seinem Bürgerbrief letzte Woche so gut und richtig geschrieben – „aller Schmerz der Welt abgeladen werden kann, und doch wollen wir ein offenes Ohr haben für die großen Plagen unserer Zeit, für die Nöte und Sorgen der Menschen neben uns und jenseits unserer Grenzen“. Denn wer zu viele Eisen im Feuer hat, dem werden viele kalt, und wer sich zu viele Aufgaben gleichzeitig stellt, kriegt am Ende gar keine mehr hin.
Wir alle gemeinsam wollen im Blick behalten, was das Spezifische unserer Bewegung ausmacht: das ist vor allem die sehr breite Palette von Themen, mit denen wir gegen S21 aktiv werden – jedes Thema für sich allein ist schon motivierend: vom Stadtbild- und Denkmalschutz, Mineralquellengefährdung, Grundwassergefährdung, Untertunnelungsrisiken, über den Schutz von Natur und Naherholungsgebieten, Leistungsrückbau beim Bahnknoten, bis zur Verkehrs- und Stadtklimaschutzpolitik und dem Protest gegen die undemokratischen Zustände und die Umverteilung von unten nach oben.
Diese breite Themenpalette war es, die immer mehr Menschen zum Protest gegen S21 zusammengebracht hat, die sich sonst wohl nie begegnet wären. Und damit wurde unsere Protestbewegung mit ihren Demos auch für sehr viele aus der ganzen Region attraktiv. Hier konnte aller Ärger und Frust über 60 Jahre klebrig-schwarzen Filz zum Ausdruck gebracht werden. Mit der Landtagswahl 2011, die bei Vielen Hoffnung auf grundlegende Änderungen geweckt hatte, ist dieser Antrieb leider genauso schnell wieder ermüdet. Und mit der sogenannten Volksabstimmung und der grünen Wendung zur Unterstützung von S21 war Vielen die Zuversicht vollends abhanden gekommen, den Irrsinn stoppen zu können. Ich glaube, das sind doch die wesentlichen Gründe, warum heute keine 10 000 mehr auf der Straße sind.
Sie haben sich nicht aufs Sofa zurückgezogen, weil hier zu viel Klein-Klein über die Details des Murksprojekts geredet worden wäre. Und sie haben sich auch nicht aufs Sofa zurückgezogen, weil sie sich instrumentalisiert gefühlt hätten, weil es hier viel zu politisch um das Prinzip S21 gegangen wäre (vom Gezipark über Klimaschutz bis Griechenland-Solidarität).
Das sollten wir alle im Blick behalten. Wir müssen uns ständig bewusst machen, dass dieser Protest in Deutschland einzigartig ist und wie wertvoll es ist, dass wir nach über einem halben Jahrzehnt und mehr als
280 Montagsprotesten immer noch zusammen auf der Straße sind.
Und vielleicht sind wir uns einig
– selbst wenn Stuttgart21 kein Murksprojekt wäre,
– selbst wenn mit der Bahn nicht weiterhin über Lärmschutz und über Entschädigungen gestritten werden müsste,
– selbst wenn nur reinstes klares Wasser aus den richtigen blauen Rohren fließen würde,
– und alle Rechts- und Genehmigungsfragen unbestreitbar und transparent wären:
Wir würden trotzdem auf die Straße gehen und dafür kämpfen, dass sie endlich aufhören mit diesem Tunnelbahnhofsprojekt Stuttgart21, denn das Projekt an sich ist grottenfalsch, unnötig, schädlich und gefährlich.
Auf unserer OBEN BLEIBEN Seite sind die ökonomische und ökologische Vernunft.
Die Deutsche Bahn und die regierenden Politiker führen einen verzweifelten Kampf gegen die Realitäten, gegen die Geologie, gegen das Wasser, gegen die Physik, gegen alle Vernunft, gegen alle ökonomischen und verkehrswissenschaftlichen Erkenntnisse.
Warum führen sie diesen verbohrten Kampf? Nach Einschätzung von Albrecht Müller, dem Kanzleramtschef von Willy Brandt und Herausgeber der nachdenkseiten.de ist hier auch politische Korruption im Spiel. Er hofft, dass in den kommenden Jahren mit konsequenter Recherche Licht ins Dunkel gebracht wird. Und es wird ans Licht kommen, wer da wessen Herren-Knecht gewesen ist.
Wir sagen laut und deutlich und immer wieder, dass das Projekt an sich auch ohne Murksplanung und Rechtsverdrehung eine verantwortungslose Zerstörung unserer Stadt ist!
„Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse, in Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten. Überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.“
Ist das nicht ein super Zitat von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahre 1828?
Sicher, wir sind mit unserem Protest in einer schwierigen Phase. In solchen Phasen erscheint der mächtige Gegner schier unbesiegbar, und aus Enttäuschung und Ohnmachtsgefühl heraus entsteht in Protestbewegungen dann oft Aggression und Schuldzuweisung nach innen.
Ich zitiere Adorno:
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen.“
Recht hat er, der alte Adorno, und mit Adorno schauen wir jetzt einfach mal genauer hin, um uns nicht so dumm machen zu lassen, wie uns die Regierenden gern hätten: Es stimmt zwar, dass wir bisher keine der schmerzhaften Zerstörungen verhindern konnten. Es stimmt aber auch, dass wir trotzdem nicht wirkungslos sind! Und dieses Dilemma teilen wir mit vielen andern.
Der palästinensische Menschenrechtsanwalt, der 2013 in Stockholm den Alternativen Nobelpreis bekommen hat, der seit mehr als 30 Jahren in Gaza für Gerechtigkeit kämpft, Raji Sourani, sagte einmal in einem Interview: „Wir haben in den letzten 30 Jahren nichts erreicht, gar nichts, aber ohne uns könnte es noch viel schlimmer sein.“
Auch die Anti-AKW-Bewegung hat Aufschwung und Rückgang erlebt. Sie hat Jahrzehnte gekämpft, mit Großdemos, mit Blockaden, ohne das Ende der Atomwirtschaft durchsetzen zu können. Sie hat aber nie kapituliert und aufgehört auf die Straße zu gehen. Es hat große katastrophale Ereignisse gebraucht, in diesem Fall die Katastrophe von Fukushima, um wieder massenhaft Menschen zu elektrisieren und auf die Straße zu treiben und den Regierenden den Atom-Ausstieg aufzuzwingen, den sie kurz davor noch auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben wollten.
Es ist leider allzu vorhersehbar, dass es auch durch S21 zu entsetzlichen Situationen kommen wird. Und wenn wir nicht aufhören, öffentlich präsent zu bleiben, dann wird wieder der komplette Cityring mit Demonstrierenden geflutet sein und der Schlossplatz überlaufen.
Aber wir sind auch heute nicht wirkungslos. *Die beiden kürzlich erschienenen Artikel in der StZ von Arno Lederer und Roland Müller sind ein Signal. Sie zeigen beide die tiefe Skepsis in der Stadt gegenüber dem Projekt und der Zukunft der Stadt. Diese Skepsis reicht bis tief in die Reihen früherer S21-Befürworter. Stuttgart21 hat heute nicht mehr, sondern weniger Zustimmung in der Stadt als 2012. *
Und das hat auch etwas mit unserem Protest zu tun! Es hat damit zu tun, dass wir nie aufgehört haben, laut und öffentlich zu sagen, was ist!
Dass wir nicht akzeptiert haben und nicht akzeptieren werden, dass der Kampf gegen den Irrsinn dieses Projekts als abgeschlossener, beendeter Teil der Geschichte behandelt werden kann! Wir schauen nicht zu, wie der Protest sein historisches Plätzchen im Stadtmuseum bekommt, während gegen jede Vernunft das Projekt weiter unbehelligt durchgezogen wird – das läuft mit uns in Stuttgart nicht!
Das unbesiegliche Aussehen, mit dem die Stuttgart21-Baustellen auch den zunehmend skeptischen StuttgarterInnen heute das Gefühl geben „ dass das doch alles gelaufen ist“ kann schnell wieder umschlagen. Umschlagen in Empörung und neuen Protest! Und mit dem sogenannten „Baufortschritt“ sind – leider – neue Gründe für Empörung garantiert.
Wir müssen das Gras wachsen hören. Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Unsere Bewegung, unsere Demos sind die Glut, die wir bewahren müssen, damit die politische Luft in Stuttgart wieder zu brennen anfangen kann wie 2010. Wie Tom Adler 2013 in der kontextwochenzeitung geschrieben hat: „Wer das Feuer bewahren will, darf es allerdings auch nicht ausgehen lassen.“
Und das schaffen wir, wenn wir uns immer wieder klar machen, in gegenseitiger Wertschätzung der unterschiedlichen Arbeitsweisen und Aktionsformen, wie wertvoll unsere Stuttgarter Protestbewegung auch heute ist! Dazu fällt mir Wladimir Kaminer ein, der einen alten römischen General sagen lässt: es sei für den Sieg nicht ausschlaggebend, wie viele Soldaten eine Einheit hat. Wichtig sei allein, wie viel Staub sie aufwirbeln kann.
Und solange es keinen Baustopp gibt, gibt es für mich montags um 18 Uhr keinen wichtigeren Ort als unsere Demo hier. Und wenn wir zusätzlich mit zivilem Ungehorsam, unberechenbaren, witzigen Aktionen noch mehr Staub aufwirbeln, macht uns das auch noch attraktiver. Gelegenheiten bieten sich immer wieder, wir müssen sie nur nutzen.
In diesem Sinne: Lasst uns weiter zusammen Staub aufwirbeln, vom Feinstaub bis zu den korrupten Machenschaften! Lasst uns zusammen
OBEN BLEIBEN! BAUSTOPP JETZT!