Das Furcht-Ministerium

„DAS EINZIGE, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst“, sagte Präsident Franklin Delano Roosevelt. Er hat sich geirrt.

Furcht ist eine notwendige Bedingung für das Überleben des Menschen. Die meisten Tiere in der Natur haben Furcht. Sie trägt dazu bei, dass sie auf Gefahren reagieren, indem sie fliehen oder kämpfen. Menschen überleben, weil sie furchtsam sind.

Furcht gibt es sowohl individuell als auch kollektiv. Seit ihren frühesten Tagen lebt die menschliche Rasse in Kollektiven. Das ist eine sowohl notwendige als auch erwünschte Lebensbedingung. Frühe Menschen lebten in Stämmen. Der Stamm verteidigte das Territorium gegen alle „Fremden“ – gegen benachbarte Stämme -, um seine Nahrungsversorgung und seine Sicherheit zu schützen. Furcht war etwas, das die Mitglieder eines Stammes miteinander verband.

Die Zugehörigkeit zum eigenen Stamm (der nach vielen Entwicklungsschritten zur modernen Nation wurde) entspricht dazu auch einem tiefen psychischen Bedürfnis. Auch sie hängt mit Furcht zusammen – die Furcht vor anderen Stämmen, die Furcht vor anderen Nationen.

Aber Furcht kann zu einem Ungeheuer heranwachsen.

VOR KURZEM bekam ich einen sehr interessanten Artikel des jungen Wissenschaftlers Joaw Litwin, der von diesem Phänomen handelt.

Der Autor stellt auf wissenschaftliche Weise dar, wie leicht Furcht manipuliert werden kann. Der wissenschaftliche Ansatz war die Gehirnforschung am Menschen, die sich auf Experimente mit Labortieren – Mäusen und Ratten – gründete.

Nichts ist leichter, als Furcht zu erregen. Ein Beispiel: Mäusen wird ein Stromschlag verabreicht und dabei hören sie Rockmusik. Nach einiger Zeit zeigten die Mäuse Zeichen äußerster Furcht, wenn ihnen Rockmusik vorgespielt wurde, auch wenn sie dabei keinen Stromschlag erhielten. Die Musik allein erregte bei ihnen Furcht.

Das war umkehrbar. Lange Zeit wurde ihnen die Musik vorgespielt, ohne dass sie Schmerzen erlitten. Langsam, sehr langsam ließ die Furcht nach. Aber nicht vollständig: Wenn nach wieder einer langen Zeit mit der Musik erneut der Stromschlag verabreicht wurde, kamen die vollständigen Angstsymptome sofort zurück. Einmal genügte.

WENN MAN das auf menschliche Nationen überträgt, ist das Ergebnis dasselbe.

Die Juden sind ein perfektes Beispiel dafür. Jahrhunderte der Verfolgung in Europa lehrten sie, der Furcht einen Wert beizumessen. Sie rochen die Gefahr von Weitem und lernten, sich zur rechten Zeit in Sicherheit zu bringen – gewöhnlich indem sie flohen.

In Europa waren die Juden eine Ausnahme und das kam einer Einladung gleich, sie zu Opfern zu machen. Im Byzantinischen (Oströmischen) Reich war es normal, Jude zu sein. Im ganzen Reich wandelten sich die territorialen Völker zu ethnisch-religiösen Gemeinschaften. Ein Jude in Alexandria konnte eine Jüdin in Antiochien heiraten, aber nicht das Mädchen nebenan, wenn es zufällig eine orthodoxe Christin war.

Das Millet-System hatte während der gesamten Zeit des islamischen Osmanischen Reiches und des Britischen Mandats Bestand und lebt im heutigen Staat Israel glücklich weiter: Ein israelischer Jude kann eine israelische Christin oder Muslima nicht legal heiraten.

Das war der Grund dafür, dass es in der arabischen Welt keinen Antisemitismus gab – ganz abgesehen von der Kleinigkeit, dass Araber selbst Semiten sind. Juden und Christen, die „Völker des Buches“, haben in einem islamischen Staat (wie dem heutigen Iran) eine besondere Stellung. In mancher Hinsicht sind sie Menschen zweiter Klasse, in anderer Hinsicht sind sie privilegiert (sie müssen keinen Wehrdienst leisten). Vor dem Aufkommen des Zionismus waren arabische Juden nicht ängstlicher als die meisten anderen Menschen.

Die Situation in Europa war eine ganz andere. Das Christentum, das aus dem Judentum hervorgegangen war, hegte von Anfang an einen tiefen Groll gegen die Juden. Das Neue Testament enthält stark antijüdische Beschreibungen vom Tod Jesu, und das lernte einmal jedes christliche Kind in einem eindrucksfähigen Alter. Dazu ließ sie die Tatsache, dass die Juden in Europa (neben den Zigeunern) das einzige Volk waren, das kein Heimatland hatte, umso verdächtiger und furchteinflößender erscheinen.

Das unausgesetzte Leiden der Juden in Europa prägte jedem europäischen Juden eine ständige und tief sitzende Furcht ein. Jeder Jude war bewusst, unbewusst oder unterbewusst in ständiger Alarmbereitschaft, selbst in Zeiten und Ländern, in denen jede Gefahr weit entfernt zu sein schien – wie im Deutschland der Jugend meiner Eltern.

Mein Vater war ein Musterbeispiel für dieses Syndrom. Er wuchs in einer Familie auf, die seit Generationen in Deutschland lebte. (Mein Vater hatte Latein gelernt und bestand immer darauf, dass unsere Familie mit Julius Cäsar nach Deutschland gekommen sei.) Aber als die Nazis an die Macht kamen, brauchte mein Vater nur ein paar Tage, um sich zur Flucht zu entschließen, und ein paar Monate später kam meine Familie glücklich in Palästina an.

PERSÖNLICH gesprochen: Meine eigene Erfahrung mit Furcht ist auch interessant. Jedenfalls für mich.

Als 1948 der hebräisch-arabische Krieg ausbrach, meldete ich mich natürlich freiwillig zum Kriegsdienst. Vor meiner ersten Schlacht war ich – buchstäblich – verkrampft vor Furcht. Während meines ersten Einsatzes, der glücklicherweise ein leichter war, verließ mich die Furcht und kam niemals zurück. Einfach so. Sie verschwand.

In den folgenden etwa 50 Einsätzen, darunter einem halben Dutzend großer Schlachten, empfand ich keine Furcht.

Darauf war ich sehr stolz, aber es war dumm. Gegen Kriegsende, als ich schon Zugführer war, wurde mir befohlen, eine Stellung einzunehmen, die dem Feuer des Feindes ausgesetzt war. Ich ging sie mir ansehen und spazierte fast aufrecht im hellen Tageslicht herum. Da wurde ich plötzlich von einer ägyptischen panzerbrechenden Kugel getroffen. Vier meiner Soldaten, Freiwillige aus Marokko, holten mich im Kugelregen tapfer aus dem Feuer. Ich kam gerade noch so rechtzeitig ins Feldlazarett, dass sie mir dort das Leben retten konnten.

Nicht einmal das brachte mir meine verlorene Furcht zurück. Ich empfinde immer noch keine Furcht, obwohl mir bewusst ist, dass das äußerst dumm ist.

ZURÜCK zu meinem Volk.

Die neue hebräische Gemeinschaft in Palästina, die von Flüchtlingen vor den Pogromen in Moldawien, Polen, der Ukraine und Russland gegründet und von den vom Holocaust übrig Gebliebenen später verstärkt wurde, lebte in Furcht vor ihren arabischen Nachbarn, die sich von Zeit zu Zeit immer wieder gegen die Einwanderung auflehnten.

Die neue, Jischuw genannte Gemeinschaft war sehr stolz auf die Heldenhaftigkeit ihrer Jugend, die durchaus in der Lage war, sich, ihre Städte und ihre Dörfer zu verteidigen. Ein richtiger Kult entstand um den neuen Sabra (Kaktus): den furchtlosen heldenhaften jungen Hebräer, der im Land geboren war. Als wir den Krieg von 1948 nach langem und hartem Kampf (wir verloren 6.500 junge Männer aus einer Gemeinschaft von 650.000 Menschen) schließlich gewannen, wurde die kollektive rationale Furcht durch irrationalen Stolz ersetzt.

Hier waren wir: eine neue Nation auf neuem Boden, stark und unabhängig. Wir hätten uns Furchtlosigkeit leisten können. Aber wir waren nicht furchtlos

Furchtlose Menschen können Frieden schließen, einen Kompromiss mit dem Feind von gestern eingehen, die Hand nach Koexistenz und sogar Freundschaft ausstrecken. In Europa geschah das nach vielen Jahrhunderten unausgesetzter Kriege mehr oder weniger.

Hier geschah es nicht. Die „arabische Welt“ fürchten gehörte zur ständigen festen Einrichtung unseres Nationallebens, das Bild vom „kleinen, von Feinden umgebenen Israel“ war sowohl eine innerliche Überzeugung als auch ein Propagandatrick. Ein Krieg folgte auf den anderen und jeder produzierte neue Wellen von Furcht.

Diese Mischung aus übertriebenem Stolz und tief sitzenden Ängsten, aus Eroberer-Mentalität und beständiger Angst, ist ein Kennzeichen des heutigen Israel. Viele Ausländer vermuten, dass das vorgespiegelt sei, aber es ist ganz real.

FURCHT ist auch ein Werkzeug der Herrscher. Schaffe Furcht und herrsche. Das ist seit Ewigkeiten eine Maxime von Königen und Diktatoren.

In Israel ist das die leichteste Sache der Welt. Man braucht nur den Holocaust (oder auf Hebräisch: die Schoah) zu erwähnen und Furcht quillt aus jeder Pore des Nationalkörpers.

Erinnerungen an den Holocaust schüren ist ein Nationalgewerbe. Kinder werden – es ist ihre erste Auslandsreise – zum Besichtigen nach Auschwitz geschickt. Der letzte Erziehungsminister ordnete (allen Ernstes) an, dass schon die Kinder im Kindergarten über den Holocaust belehrt würden. Es gibt neben vielen anderen jüdischen Feiertagen, von denen die meisten an Verschwörungen zur Tötung von Juden in der Vergangenheit erinnern, nun auch einen Holocaust-Tag.

Das historische Bild, das im Geist eines jeden jüdischen Kindes in Israel ebenso wie im Ausland geschaffen wird, ist, in den Worten des Pessach-Gebets, das in jeder jüdischen Familie jedes Jahr laut vorgelesen wird: „In jeder Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu vernichten, aber Gott rettet uns aus ihren Händen!“

DIE LEUTE fragen sich, was wohl die besondere Eigenschaft Benjamin Netanjahus sein mag, die es ihm ermöglicht, immer wieder gewählt zu werden und, umgeben von einer Herde lautstarker Niemands, so gut wie allein zu regieren.

Der Mensch, der ihn am besten kannte, sein eigener Vater, hat einmal gesagt, „Bibi“ könnte ein guter Außenminister, aber auf keinen Fall ein guter Ministerpräsident werden. Es stimmt schon, Netanjahu hat eine gute Stimme und er ist ein wahres Fernsehtalent, aber das ist auch alles. Er ist oberflächlich, er hat keine Vision von der Welt und keine wirkliche Vision für Israel, seine historischen Kenntnisse sind unbeträchtlich.

Aber er hat ein wahres Talent: Panikmache. Darin hat er nicht seinesgleichen.

Es gibt kaum eine große Rede Netanjahus, weder in Israel noch im Ausland, in der er nicht wenigstens einmal den Holocaust erwähnt. Dem folgt dann das neueste, das aktuelle, angsteinflößende Bild.

Früher einmal war es der „internationale Terrorismus“. Als Netanjahu jung war, schrieb er ein Buch darüber und etablierte sich als Experte. In Wirklichkeit ist das Unsinn. So etwas wie internationalen Terrorismus gibt es nicht. Er wurde von Scharlatanen erfunden, die auf diese Erfindung eine Karriere bauen wollten. Professoren und ihresgleichen.

Was ist Terrorismus? Zivilpersonen töten? Wenn er das ist, waren die abscheulichsten Taten des Terrorismus in der neuen Geschichte die Ereignisse von Dresden und Hiroshima. Oder: Wenn nicht staatliche Kämpfer Zivilpersonen töten? Suchen Sie sich eine Definition aus. Wie ich schon oft gesagt habe: „Freiheitskämpfer“ heißen die Kämpfer meiner Seite und „Terroristen“ die der anderen Seite.

Palästinenser und Araber sind natürlich generell Terroristen. Sie hassen uns, weil wir ihnen einen Teil ihres Landes weggenommen haben. Offensichtlich kann man mit dermaßen perversen Leuten keinen Frieden schließen. Man kann sie nur fürchten und bekämpfen.

Wenn das Gebiet der Terrorismus-Kämpfer übervölkert ist, dann wechselt Netanjahu zur Bombe des Iran. Da war sie: die aktuelle Bedrohung unserer bloßen Existenz. Der zweite Holocaust.

Meiner Ansicht nach war das immer schon lächerlich. Die Iraner werden keine Bombe bekommen, und wenn doch, werden sie sie nicht einsetzen, weil das die Vernichtung ihrer eigenen Nation garantieren würde.

Aber wenn man Netanjahu die Bombe wegnimmt – was bleibt dann von ihm übrig? Kein Wunder, dass er mit Zähnen und Klauen gekämpft hat, um sie zu behalten. Aber jetzt ist sie endgültig vom Tisch. Was ist da zu machen?

Keine Sorge. Bibi wird eine neue Bedrohung finden, eine, die das Blut in den Adern stärker gefrieren lässt als jede andere zuvor.

Einfach warten und schon einmal zittern.

26. September 2015

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler