Israel: Messerangriffe zu Mehrheiten?

Soll die Eskalation in Israel und seiner Besatzungszone Palästina zur Installation einer „großen Koalition“ und Rettung des vor dem Aus stehenden langjährigen Premierministers und Autokraten Benjamin Netanyahu benutzt werden?

Benjamin „Bibi“ Netanyahu sind in letzter Zeit bekanntlich die Höflinge und üblichen Opfer ausgegangen. Erst vor kurzem erlitt seine rechtsextreme bellizistische Regierung, die im besetzten Palästina als faschistisches Kolonialregime agiert, im Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika eine strategische Niederlage. Trotz jahrelanger Bemühungen und tatkräftiger Hilfe der ebenso abgetakelten Regierung von Frankreich unter Francois Hollande, schaffte es Israels Regierung und Nomenklatura nicht, das internationale Abkommen mit den Iran zu sabotieren. Dabei hatte Netanyahu noch im März mit einer Rede „aus dem Dick Cheney Handbuch“ (Abgeordneter John Yarmuth) vor dem U.S. Kongress eine „Machtübernahme“ versucht, „um die amerikanische Außenpolitik dem Präsidenten aus den Händen zu nehmen“ (Chris Matthews, MSNBC).

Nach dem durch das Iran (und Friedens-) Abkommen erfolgten faktischen zweiten Independence Day der U.S.-Außenpolitik, stationierte nun auch noch die Russische Föderation Luftwaffen-, Luftwaffenabwehr- und Luftkampf-Einheiten („air-to-air“) in Syrien. Syrien wird seit viereinhalb Jahren durch eine mit immensen finanziellen und militärischen Ressourcen durchgeführte Invasion bedrängt, deren „Rebellen“ der „Al Kaida“ aka „Al Nusra“ mit dem israelischen Militär auf den besetzten Golanhöhen „interagieren“. (UN Tribune, 04.12.2012, Originalquelle: Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, 01.12.2014 “ interacting with IDF“).

Mit der Stationierung der russischen Luftwabwehr- bzw Luftkampf-Einheiten scheiden auch die Syrer als Opfer Netanyahus aus, zumindest durch Luftangriffe wie diesen vom 5. Mai 2013, genauso moderat wie die lieben interagierenden Partner von der „Al-Nusra“-„Opposition“.

Was bleibt der israelische Regierung also derzeit übrig, um sich irgendwie abzureagieren und ihre längst gescheiterte Strategie der Spannung zwecks eigenem Machterhalt irgendwie zum Erfolg zu bringen? Sie schlägt auf die letzten ihr noch verbliebenen hilflosen Opfer und Sündenböcke ein: die Bevölkerung im besetzten Palästina und die eigenen israelischen Minderheiten, vorneweg die „Araber“. Zündfunke – man könnte auch sagen Alibi – für die gezielte Eskalation der Lage dabei sind Morde an oder Angriffe auf jüdische Israelis, zumeist durch Messer ausgeführt, die anschließend keiner gerichtlichen Untersuchung unterliegen, weil der Verdächtige ohne lästiges Gerichtsverfahren umgehend „verurteilt“ bzw liquidiert wird.

Zunächst einmal dazu klargestellt, dass es mit Sicherheit Israelis gibt, denen das Leben anderer Menschen gar nichts zählt. Dazu zählen natürlich auch Arab-Israelis. Auch bei Palästinensern gibt es solche Leute.

Nun hat sich der Mensch aber irgendwann Gerichtsverfahren ausgedacht. Dafür gab es Gründe. Dass diese im Zuge des Terrorkrieges schon bei dessen Ausbruch vor 14 Jahren blitzkriegartig außer Mode gerieten, soll für uns kein Anlass sein dem einen oder anderen Lynchmob klein bei zu reden, sondern stattdessen uns ein paar Vorfälle näher anzuschauen.

Sonntag, 4. Oktober. Es ist früh am Morgen. In Ost-Jerusalem ist der 18-jährige Fadi Alloun allein unterwegs. Später wird seine Familie sagen: er ist auf dem Weg zu seiner Arbeit in einer Bäckerei. Irgendwann wird er, eingekreist und gejagt von einem Mob, unter solchen Rufen wie „Erschiess ihn! Warte nicht!“ und „Er ist ein Terrorist!“ durch die Polizei gezielt liquidiert.

Seine Jäger werden später sagen, er habe sie alle – die sie sich mit innerer religiöser Sicherheit nur aus lauteren Motiven als erkennbar homogene Gruppe im besetzten Ost-Jerusalem aufhielten, mitten in der Nacht – mit dem Messer angegriffen und mehrere von ihnen verletzt. Ob Fadi Alloun das tatsächlich hat, oder überhaupt nicht, oder in Notwehr handelte, weil er in einer späten Samstag Nacht von einer Gruppe feindlich gesinnter Personen angegriffen wurde, wird kein Gericht je feststellen. Zumindest keines in Israel.

Am gleichen Tag, am Sonntag den 4.Oktober im Jahre 2015, werden nach palästinensischen Angaben allein im besetzten Ost-Jerusalem 160 Menschen durch Schüsse der israelischen Besatzungstruppen verletzt, wohl primär durch Gummigeschosse.

Früher Donnerstag, 8. Oktober, Jerusalem, am bis ins Stadtzentrum reichenden Bar Lev Boulevard. Kurz nach Mitternacht sind dort zwei Menschen durch Messerangriffe verletzt, einer schwer. Wie die israelischen Behörden später melden, hatte sich der außerhalb Jerusalems im Flüchtlingscamp Shuafat wohnende Terrorist Subhi Abu Khalifa mitten in der Nacht am Bar Lev Boulevard ein zufälliges 25-jähriges männliches israelisches Opfer herausgepickt (welches im Folgenden ungenannt bleibt), habe dieses in den Nacken gestochen und sei „Momente“ später von einer israelischen Sondereinheit überwältigt worden, die sich zufällig in unmittelbarer Nähe befunden habe, genauso wie das nationale Polizei-Hauptquartiers befunden habe. Obwohl dies (in der „Jerusalem Post“ beschrieben und damit felsenfest in alle Ewigkeit in Stein gemeisselt) nur „Momente“ gedauert habe, habe Terrorist Subhi Abu Khalifa vorher noch eine andere Person mit dem, äh, ja, äh, wohl gleichen Messer (wo war das doch gleich…) leicht verletzt, obwohl er gleich nach der Tat erst zu einer Bahnhaltestelle geflüchtet sei, wo ihn ein „Sicherheitsbeamter“ angesprochen habe, welchen er dann spontan angriffen habe und versucht habe ihm dessen Waffe (ähm, welche war das doch gleich) zu entwenden. Wonach ihn dann wiederum, wie gesagt nur „Momente“ später (bitte nach oben scrollen) spontan die zufällig anwesende Sondereinheit am zufällig in der Nähe befindlichen Polizei-Hauptquartier Israels überwältigt habe. Er werde nun durch den Shin Beth Geheimdienst verhört.

Und wo sie schon mal alle in Fahrt waren (und die Presse natürlich auch) griff dann am Donnerstag gleich noch einer von diesen israelischen Palästinensern eine israelische Soldatin an, diesmal in der zufälligen Nähe des Militär-Hauptquartiers, in Tel Aviv an der Moses Straße. Er habe ihr die Waffe entwunden, hieß es, und sie und drei weitere Personen mit einem Schraubenzieher am Oberkörper verletzt, sei dann aber (trotz entwendeter Schusswaffe) erschossen worden. Von einem Feuergefecht ist nicht die Rede. Der Arbeiter habe (wie praktisch) gegenüber vom Militär-Hauptquartier auf einer Baustelle gearbeitet.

Und so weiter.

Nun, warum sich die Mühe machen und auf Gerichtsverfahren mit lebenden (und vielleicht sogar nicht gefolterten) Angeklagten beharren?

Weil das ansonsten sehr schnell bei einem selbst landen kann, wenn z.B. Sadisten und Menschenschinder aus dem „Sicherheits“-Bereich international kooperieren und dann bei einem Drink untereinander damit angeben was man mit „denen“ alles machen kann. Oder wenn wieder einmal ein Krieg vom Zaun gebrochen wird um eine nicht haltbare Besatzungszone zu halten (namentlich Palästina). Oder wenn versucht wird eine tatsächliche, seit Jahrzehnten überfällige Opposition im Parlament loszuwerden (namentlich die drittstärkste Fraktion der Knesset, die Gemeinsame Liste), deren Vorsitzender Ayman Odeh in dem Augenblick Oppositionschef wird, an dem Isaac Herzog und die „Zionistische Union“ eine „große Koalition“ mit Netanyahu eingehen, der wiederum Angst um sein politisches Überleben haben muss, weil er trotz einer heimtückischen Panikmache am Nachmittag des Wahltags – einer Warnung vor wählenden „Arabern“, den israelischen Wählerinnen und Wählern der Gemeinsamen Liste – nur eine Stimme Mehrheit für seine Regierung in der Knesset zusammenbekam.

Wie praktisch, dass diese „Einheitsregierung“ für Onkel Bibi nun so plötzlich-zufällig Thema der etablierten Presse von Israel ist.