Dabeisein ist alles!
Deutsche Syrien-Interessen und der erste Hauptsatz internationaler Machtpolitik
In den Köpfen der politischen Eliten ist die Überzeugung tief verwurzelt, dass Staaten, die sich nicht „adäquat“ an internationalen Kampfeinsätzen beteiligen, auf dem machtpolitischen Parkett auch nichts zu melden haben. Etwas überspitzt formuliert handelt es sich hierbei um ein derart felsenfest verankertes Gedankengebäude, dass man es als eine Art ersten Hauptsatz internationaler Machtpolitik in etwa so zusammenfassen könnte: „Die Machtposition eines Staates verhält sich direkt proportional zu seiner Bereitschaft, sich an internationalen Militäreinsätzen zu beteiligen.“
Die Ursprünge dieses Gedankengebäudes lassen sich mindestens bis Anfang der 1990er zurückverfolgen. Seither dient es häufig als „Richtschnur“, wenn es um die Begründung geht, weshalb ein deutsches Militärengagement erforderlich sei. (1)
In diesem Zusammenhang wird besonders seit dem „denkwürdigen“ Auftritt von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 gern davon gesprochen, Deutschland müsse seiner internationalen „Verantwortung“ gerecht werden – auch und gerade militärisch. Auch dahinter verbirgt sich recht unverhohlen die Forderung, den machtpolitischen Aufstieg Deutschlands durch ein verstärktes militärisches Engagement zu forcieren. Auch und gerade die jüngste Entscheidung der Bundesregierung, in den Syrien-Krieg zu ziehen, scheint nicht unwesentlich von derlei Überlegungen „inspiriert“ worden zu sein.
Afghanistan: Ohne Kriegsbeteiligung kein Einfluss
Während Deutschland aus bekannten Gründen lange der (Wieder)Eintritt in die Riege der Großmächte verwehrt wurde, eröffnete sich Anfang der 1990er Jahre die Chance, dies zu ändern. Auch über die „Teilnahmebedingung“ am exklusiven Club der Großmächte war man sich völlig im Klaren. So hieß es bereits in den im November 1992 erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien: „Wenn die internationale Rechtsordnung gebrochen wird oder der Frieden gefährdet ist, muß Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können.“ (2)
In den Folgejahren sollte dieses Gedankengebäude maßgeblich die Überlegungen in Regierungskreisen mitbestimmen. (3) Ganz augenscheinlich war dies im Falle der deutschen Teilnahme am seit 2001 laufenden Afghanistan-Krieg der Fall, die der damalige Außenminister Joschka Fischer mit folgenden Worten begründete: „Auch hier haben wir im Rahmen unserer Entscheidungsbefugnisse Verantwortung zu übernehmen. Die Entscheidung ‚Deutschland nimmt nicht teil‘ würde auch eine Schwächung Europas bedeuten und würde letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen.“ (4) Noch deutlicher wurde Rainer Arnold, bis heute SPD-Verteidigungsexperte im Bundestag. Auf die Frage, weshalb die Bundeswehr am Hindukusch kämpfe, antwortete er: „Wir wollen in den internationalen Gremien mitreden und das bringt Verpflichtungen mit sich. Friedenssicherung, Stabilität und Wahrung von Menschenrechten gehört in unseren Verantwortungsbereich.“ (5)
In dem Maße allerdings, wie der Afghanistan-Krieg zunehmend aus dem Ruder lief und in der Bevölkerung immer unbeliebter wurde, sank der Enthusiasmus für großangelegte Einsätze mit zahlreichen Bodentruppen auch in der Bundesregierung spürbar. Diese Entwicklung gipfelte zunächst in der Formulierung des Schwarz-Gelben Koalitionsvertrages aus dem Jahr 2009, Deutschland werde sich in Militärfragen von einer „Kultur der Zurückhaltung“ leiten lassen. (6)
Zeitweise Zurückhaltung: Libyen und Syrien
Ein entscheidendes Ereignis fand im März 2011 statt, als die Bundesregierung entschied, sich bei der Abstimmung über die UN-Resolution 1973 zu enthalten (7) und damit faktisch einer Teilnahme an einem Krieg gegen Libyen eine Absage zu erteilen. Große Teile des außen- und sicherheitspolitischen Establishments sahen darin eine direkte Folge der primär von Außenminister Guido Westerwelle propagierten „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ – und damit war für sie „der Gipfel des Zumutbaren überschritten.“ (8)
In den Chor der zahlreichen Kritiker stimmte auch der ehemalige Außenminister Joschka Fischer ein, der dabei folgendermaßen argumentierte: „Mir bleibt da nur die Scham für das Versagen unserer Regierung und – leider! – auch jener roten und grünen Oppositionsführer, die diesem skandalösen Fehler anfänglich auch noch Beifall spendeten. […] Die deutsche Politik hat in den Vereinten Nationen und im Nahen Osten ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt, der Anspruch der Bundesrepublik auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat wurde soeben endgültig in die Tonne getreten, und um Europa muss einem angst und bange werden.“ (9)
Doch allen Bemühungen zum Trotz sollte sich das Libyen-Debakel kurze Zeit später bei der Frage, ob sich Deutschland an einem möglichen Krieg gegen Syrien beteiligen würde, der seit 2012 im Raum stand, wiederholen. Einer der führenden Kritiker des deutschen Agierens war seinerzeit unter anderem auch Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik: „Bundestag und Bundesregierung sollten sich darauf vorbereiten, dass die Frage einer deutschen Beteiligung an einem internationalen Militärengagement in Syrien von Partnerländern innerhalb wie außerhalb der NATO an sie herangetragen werden könnte, und bereits frühzeitig die deutsche Rolle dabei konkret festlegen. Ein schlichtes ‘Ohne uns‘ würde die moralische Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik massiv unterminieren und die Partner der Bundesrepublik (erneut) fragen lassen, welche Lasten Deutschland denn in der internationalen Politik zu schultern bereit sei.“ (10)
Vor dem beschriebenen Hintergrund sah ein großer Teil der sicherheitspolitischen Elite spätestens 2012 Handlungsbedarf – ein radikaler Kurswechsel musste her. Und die Grundlagen hierfür sollten in dem Projekt „Neue Macht – Neue Verantwortung“ gelegt werden, dessen Leitung wohl nicht von ungefähr mit Markus Kaim einem scharfen Gegner der „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ übertragen wurde. (11)
Neue Macht – Neue Verantwortung
Mit dem Anspruch, „Elemente einer außenpolitischen Strategie für Deutschland“ sowie eine „neue Definition deutscher Staatsziele“ zu erarbeiten, versammelte das Projekt Neue Macht – Neue Verantwortung zwischen November 2012 und September 2013 etwa 50 „außen- und sicherheitspolitische Fachleute aus Bundestag, Bundesregierung, Wissenschaft, Wirtschaft, Stiftungen, Denkfabriken, Medien und Nichtregierungsorganisationen.“ (12)
Heraus kam dabei ein gleichnamiger Bericht, dessen Kernaussage lautete: Deutschland muss seinem Potenzial entsprechend künftig eine führende Weltmachtrolle spielen, hierfür sei es aber zwingend erforderlich, mehr – auch und gerade militärische – „Verantwortung“ zu übernehmen: „Gefragt sind mehr Gestaltungswillen, Ideen und Initiativen. Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen. […] Bisher hat Deutschland jedoch, zumindest im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft, seinem geopolitischen Gewicht und seinem internationalen Ansehen, eher selektiv und zögerlich Gestaltungsangebote gemacht oder Initiativen ergriffen. Noch ist Deutschland eine Gestaltungsmacht im Wartestand. […] Auf der militärisch-operativen Ebene dagegen müssen die Europäer sich darauf einstellen, dass die USA nicht nur seltener eine Führungsrolle einnehmen, sondern sich überhaupt weniger an gemeinsamen Missionen beteiligen wollen. Europa und Deutschland müssen daher Formate für NATO-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen sind. Das verlangt mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung. Vor allem muss Europa mehr Sicherheitsvorsorge in der eigenen Nachbarschaft betreiben; das ist Europas ureigene Verantwortung. Deutschland muss dazu einen seinem Gewicht angemessenen Beitrag leisten.“ (13)
Lautsprecher Gauck
Durchgeführt wurde das „Projekt Neue Macht – Neue Verantwortung“ von der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie dem German Marshall Fund, dessen Leiter zu Beginn des Unterfangens Thomas Kleine-Brockhoff war. Über ihn bestand eine direkte Verbindung zwischen dem Projekt und dem Bundespräsidenten, da Kleine-Brockhoff im Sommer 2013 von Joachim Gauck als neuer Leiter seiner Stabsstelle Planung und Reden verpflichtet wurde. (14)
Insofern ist es nicht allzu überraschend, dass die „legendäre“ Rede von Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014, als er – assistiert von Verteidigungsministerin von der Leyen und Außenminister Steinmeier – nicht weniger forderte, als die als leidig empfundene Kultur der militärischen Zurückhaltung endgültig zugunsten einer militärisch unterfütterten ambitionierten Weltmachtpolitik ad acta zu legen, sich bis hin zu wortgleichen Formulierungen beim „Projekt Neue Macht – Neue Verantwortung“ bediente: „Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und profitiert deshalb überdurchschnittlich von einer offenen Weltordnung – einer Weltordnung, die Deutschland erlaubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden. […] Die Beschwörung des Altbekannten wird künftig nicht ausreichen! Die Kernfrage lautet doch: Hat Deutschland die neuen Gefahren und die Veränderungen im Gefüge der internationalen Ordnung schon angemessen wahrgenommen? Reagiert es seinem Gewicht entsprechend? […] Ich meine: Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen. […] Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. […] Auch wer nicht handelt, übernimmt Verantwortung. Es ist trügerisch sich vorzustellen, Deutschland sei geschützt vor den Verwerfungen unserer Zeit – wie eine Insel. Denn Deutschland ist so tief verwoben mit der Welt wie wenige andere Staaten. Somit profitiert Deutschland besonders von der offenen Ordnung der Welt. Und es ist anfällig für Störungen im System. Eben deshalb können die Folgen des Unterlassens ebenso gravierend wie die Folgen des Eingreifens sein – manchmal sogar gravierender.“ (15)
Eine prägnante Zusammenfassung des Kerns der Gauck-Rede und des dahinterstehenden Projektes Neue Macht – Neue Verantwortung lieferte Albrecht von Lucke: „Was Gaucks Rede […] so problematisch macht, ist die Tatsache, dass sie sich einfügt in den konzertierten Versuch, einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik herbeizuführen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens den Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit‘ (Josef Joffe), und zweitens den Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen.“ (16)
„Gestaltungsmacht in Syrien“ – Mission Accomplished?
Als erster großer „Testfall“ der „Gauck-Doktrin“ galt die Ukraine, wo Deutschland bei Regime Change und Neuordnung des Landes tatsächlich eine führende Rolle übernahm. Aber auch darüber hinaus konnten seither aus Sicht des neuen Leiters der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Karl-Heinz Kamp, in vielen Bereichen bahnbrechende „Fortschritte“ erzielt werden: „Was für eine erstaunliche Entwicklung: Als Anfang 2014 Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen ein größeres deutsches Engagement in internationalen Krisen und Konflikten versprachen, war die Skepsis groß. […] Heute reibt man sich erstaunt die Augen: Das vermeintlich ‚machtvergessene‘ Deutschland hat sich zum zentralen außenpolitischen Akteur in Europa entwickelt […] Die Bundeskanzlerin wurde zum Dreh- und Angelpunkt in der Ukraine-Krise und sorgte dafür, dass der Gesprächsfaden zu Moskau nicht abriss. Deutsche Streitkräfte leisten ihren Beitrag zur Verbesserung der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit der Nato, die nach dem Neo-Imperialen Schwenk des Kreml unabdingbar geworden war. […] Waffen werden an die Peschmerga geliefert, um wenigstens zu versuchen, das Ausbreiten islamistischer Gewalt zu verhindern. […] Die Bundeswehr zeigt heute ein Charakteristikum, das man vor einer Dekade noch gar nicht auszusprechen wagte – sie ist kampferprobt oder wie es Englisch dramatischer heißt: combat hardened. […] Von der Militarisierung der Gesellschaft schwadroniert heute nur noch der politische Rand. Stattdessen wächst die Einsicht, dass die Bundeswehr ein Instrument verantwortlicher Außen- und Sicherheitspolitik ist. Sie kann dazu beitragen, Krisen zu mildern und Konflikte zu lösen.“ (17)
Und auch der Einsatz in Syrien scheint sich auf dieser Wellenlänge zu bewegen. Dieser Gedanke drängt sich jedenfalls auf, wenn Markus Kaim wohlwollend und ganz im Duktus von Neue Macht – Neue Verantwortung feststellt: „Das Einschneidende ist, dass sich Deutschland über das militärische Engagement über die nächsten Jahre als Gestaltungsmacht im Nahen und Mittleren Osten profiliert. Das ist neu für die deutsche Politik, das kannten wir so bisher nicht. […] Deutschland verpflichtet sich im Verbund mit anderen Ländern, sich für lange Zeit militärisch und vor allem politisch in der Region zu engagieren.“ (18)
Auch der Politikprofessor Christian Hacke betont den machtpolitischen Mehrwert, sich an einem Kriegseinsatz in Syrien zu beteiligen, als er sich in einem Interview im Deutschlandfunk folgendermaßen äußerte: „Deutschland wird militärisch-politisch seinen Handlungsspielraum enorm vergrößern können. Das ist eigentlich das Wichtige. […] Ich glaube, das ist eines der Hauptmomente der Kritik: Was ist eigentlich die Gesamtstrategie? Und hier hat gerade die Bundesrepublik eigentlich doch immer nur sehr kleinteilig sich gezeigt. Nicht nur zögerlich, sondern wir haben schon ja kein Gefühl in Deutschland für den Zusammenhang zwischen Politik auf der einen Seite und militärischem Engagement wie ich‘s grade angedeutet habe: dass Krisendiplomatie nur so stark ist wie sie militärisch gedeckt ist. Und in unserem pazifistischen Umfeld ist hier eben Lernbedarf notwendig – mehr Realismus und ich denke dann werden wir insgesamt vorankommen mit Blick auf eine militärische Gesamtstrategie oder militärisch-politische Gesamtstrategie. Außenminister Steinmeier wird sicherlich – auch durch diese Militäreinsätze – seinen diplomatischen Spielraum dort Frieden zu schaffen vielleicht Waffenstillstand zu schaffen sicherlich gestärkt werden. Also, dieser Einsatz hat eine eminent politische Bedeutung und stärkt unser Land dort und als Zentralmacht in Europa auch und wirkt als Katalysator für die anderen Europäer wie die Italiener und auf die Briten zum Beispiel.“ (19)
Hacke trifft den Nagel auf den Kopf: Wer „Gestaltungsmacht“ sein will und seine Rolle als „Zentralmacht“ gestärkt sehen möchte, der kommt, so die omnipräsente Sichtweise, nicht um die Beteiligung an derartigen Kriegseinsätzen herum – wie (un-)sinnig sie dabei jeweils konkret auch sein mögen, ist dabei weitgehend unerheblich.
Politik gegen die Bevölkerung
Ob allerdings die Bevölkerung den Überlegungen der Verantwortungsmilitaristen allzu viel abgewinnen kann, ist mehr als fraglich. Positiv stimmen zum Beispiel die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage vom April und Mai 2014 zur Haltung der Bevölkerung in dieser Frage: „Verglichen mit den Ergebnissen einer ähnlichen Untersuchung der amerikanischen Rand-Corporation aus dem Jahr 1994 haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Damals plädierten 62 Prozent für ein größeres deutsches Engagement. Heute sind es noch 37 Prozent. Damit wird klar: Eine deutliche Mehrheit steht den Plädoyers von Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Steinmeier, Deutschland möge sich weltweit mehr engagieren, erst mal skeptisch gegenüber.“ (20)
Was konkret den Syrien-Einsatz anbelangt, stellt sich das Bild auf den ersten Blick nicht ganz so eindeutig dar. So meldete der DeutschlandTrend Anfang Dezember 2015, 58% der deutschen Bevölkerung würden einen Militäreinsatz gegen den IS befürworten, lediglich 37% seien dagegen. Allerdings sprachen sich laut derselben Umfrage lediglich 34% für eine deutsche Beteiligung an Luftschlägen und nur 22% für deutsche Bodentruppen aus. (21)
Wie belastbar diese Zahlen sind, ist dazu noch umstritten. Denn kurz darauf erschienen die Ergebnisse einer repräsentativen Forsa-Umfrage, denen zufolge nämlich mit 49% eine Mehrheit der Bevölkerung einen Militäreinsatz ablehnen und nur 44% ihn befürworten würden. (22)
Egal, welcher der beiden Umfragen man Glauben schenken will: Festzuhalten bleibt, dass es innerhalb der Bevölkerung für den militärinterventionistischen Kurs der Bundesregierung keine klare Mehrheit gibt. Worum es nun gehen muss ist es, dieser Politik weiter den Legitimationsboden zu entziehen und ein Mittel hierfür ist es, die aktuelle Verantwortungsrhetorik auf ihren (macht)politischen Kern hin abzuklopfen: „Deutschland, so heißt es, hat ‚Führungsverantwortung‘ zu übernehmen. Eine ‚Kultur der Zurückhaltung‘, wie sie in Bonner Zeiten verstanden wurde, ist mit einer derart gewachsenen außenpolitischen ‚Verantwortung‘ nicht mehr vereinbar. […] Berlin sagt ‚Verantwortung übernehmen‘, meint aber ‚Macht ausüben‘.“ (23)
Nicht zuletzt am Beispiel Syrien wird deutlich, was „Verantwortung übernehmen“ in der Praxis schlussendlich bedeutet: Destabilisieren – Aufrüsten – Bombardieren!
Anmerkungen:
1) Cremer, Uli/Achelpöhler, Wilhelm: Syrien? It’s the Bündnisraison, Stupid! Grüne Friedensinitiative, 08.12.2015.
2) Verteidigungspolitische Richtlinien, Bonn, 26.11.1992, Absatz 27.
3) „Diese Aussage ist auch heute noch Richtschnur militärpolitischen Handelns.“ (Cremer, Uli/Achelpöhler, Wilhelm: Syrien? It’s the Bündnisraison, Stupid! Grüne Friedensinitiative, 08.12.2015)
4) Rede des Bundesaußenministers Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Berlin, 08.11.2001.
5) Gierlichs, Sylvia: Täglich sterben zehn afghanische Polizisten, Nürtinger-Zeitung, 12.06.2008.
6) WACHSTUM. BILDUNG. ZUSAMMENHALT., Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 26.10.2009, S. 123.
7) Berichten zufolge plädierte Außenminister Guido Westerwelle scheinbar sogar für eine Ablehnung der Resolution 1973. Siehe Libyen-Enthaltung in der Uno: Wie es zu dem deutschen Jein kam, Spiegel Online, 23.3.2014.
8) Hellmann, Gunther: Berlins Große Politik im Fall Libyen, in: WeltTrends, September/Oktober 2011, S. 19-22, S. 22.
9) Fischer, Joschka: Deutsche Außenpolitik – eine Farce, Süddeutsche Zeitung, 24.3.2011.
10) Kaim, Markus: Interventionsoptionen, in: Internationale Politik, Mai/Juni 2012, S. 72-77, S. 77.
11) Aus Kaims Sicht war das Kernproblem schnell identifiziert: „In der Bezugnahme auf eine Kultur der Zurückhaltung spiegelt sich das außenpolitische Selbstverständnis der alten Bundesrepublik bis 1990 wieder. […] Aber die Rahmenbedingungen haben sich geändert: Wir haben es heute nicht mehr mit Konflikten wie während des Kalten Krieges zu tun, sondern in der Regel mit ganz unterschiedlichen innerstaatlichen Konflikten.“ Deutschlands Politik der Zurückhaltung, Deutsche Welle, 5.3.2013.
12) Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch, SWP/GMF, September 2013.
13) Ebd., S. 3; 9; 43.
14) Politik: Kleine-Brockhoff wird Gaucks Planungschef, Süddeutsche Zeitung, 18.7.2013. Dank an Clemens Ronnefeldt, der zuerst auf diese Verbindung hingewiesen hat.
15) Gauck, Joachim: „Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen“, München, 31.1.2014.
16) Lucke, Albrecht von: Der nützliche Herr Gauck, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2014, S. 5-8, S. 6.
17) Kamp, Karl-Heinz: Deutsche Einsätze sind heute Normalität, Der Tagesspiegel, 23.11.2015.
18) „Deutschland wird zur Gestaltungsmacht im Nahen Osten“, Interview mit Markus Kaim, Zeit Online, 02.12.2015.
19) http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2015/11/26/dlf_20151126_2313_19ff7681.mp3
20) Deutschland soll sich weniger einmischen, Süddeutsche Zeitung, 20.5.2014.
21) ARD-DeutschlandTrend vom Dezember 2015.
22) Forsa-Umfrage im Auftrag von „RTL Aktuell“ zur Anti-IS-Mission, Presseportal, 04.12.2015.
23) Hellmann, Gunther: Normativ nachrüsten, in: IP (online), Oktober 2010, S. 4 und 1.
Erstveröffentlichung auf Informationsstelle Militarisierung e.V. am 22. Dezember 2015