Der Turm stürzt ein: Held des zivilen Ungehorsams
Ein junger Farmer, der Geschichte schrieb und mit seinem „Lovejoy‘s Nuclear War“ in den späten siebziger Jahren zur selbstbewussten Erstarkung einer Anti-Atombewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika beitrug. Prof. Howard Zinn und Dr. John Gofman, Mitglied des Manhattan-Project, überzeugten die Justiz von der moralischen Rechtmässigkeit des „Saboteurs“ des Turms eines Kernkraftwerkes.
Vor zweiundvierzig Jahren, in den frühen Morgenstunden des 22.Februar 1974, dem Geburtsdatum von George Washington (1732), demontierte Sam Lovejoy, damals siebenundzwanzig Jahre alt, Zweidrittel des Windmesserturms aus Metall des Kernkraftwerkes, einem heissen Brüter, das von General Electric bei dem kleinen Städtchen Montague im U.S.-Bundesstaat Massachusetts betrieben wurde, der daraufhin umstürzte. Die Apparatur auf der nordöstlichen Seite des Betriebsgelände diente dazu, im Fall eines Austritts radioaktiver Substanzen bei einem Unfall die Verteilung in der Luft und in der Umgebung festzustellen. Die nukleare Anlage Montague Nuclear Power Plant selbst, die ihren geplanten Betrieb sechs Jahre später in 1980 endgültig einstellte, wurde dabei nicht gefährdet. Das Kraftwerk wurde aufgrund des Widerstandes in der Bevölkerung und wegen plötzlich festgestellter unrentabler Betriebskosten nie an das Netz geschaltet.
Nachdem der Turm zum Einsturz gebracht wurde, lief Lovejoy zu der nächstgelegenen Strasse und winkte einem vorbeifahrenden Streifenwagen zu. Dieser fuhr den Farmer zur Turners Falls Station, wo er bei dem Polizeibeamten Donald Cade eine Selbstanzeige stellte. In einer vierseitigen Erklärung gab er zu Protokoll, dass er besorgt ist, dass die natürliche Umwelt das organisch produzierte Obst, Gemüse und Fleisch durch Bestrahlung durch das nahe gelegene Atomkraftwerk in anorganische Produkte verwandelt und dass er kein natürliches Gleichgewicht mit einem Atomkraftwerk in dieser oder einer anderen Gemeinde findet. Loveloy befürchtete eine Schädigung der Neugeborenen. Er fragte zu den Konsequenzen einer nahen Zukunft:
„Keine Kinder? Kein essbare Lebensmittel? Was wird es sein?“ und weiter
„Er wolle keine Furcht schüren, aber er glaube, dass man handeln muss. Positive Aktion ist die einzige Möglichkeit, die für uns offen gelassen wurde. Gemeinschaften haben die gleichen Rechte wie Individuen. Wir müssen die Kontrolle über unsere eigene Gemeinde zurückerobern.
Die Kernenergie-Industrie und ihre Unterstützer in der Regierung üben aktiv eine Form des Despotismus aus. Sie haben die weniger dicht besiedelten ländlichen Gegenden ausgewählt um den Energiebedarf der Städte zu decken.
Zwar ist der städtische Bedarf an elektrischer Energie nicht zu leugnen (vielleicht ist „Sucht“ eine besser geeignete Beschreibung), aber warum können Reaktoren nicht in der Nähe von jenen gebaut werden, für die sie bestimmt sind? Sind sie dort nicht mehr leistungsfähig? Oder erleben wir eine korruptes Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Risiko?
Es ist meine feste Überzeugung, dass, wenn eine Jury aus zwölf unvoreingenommenen Wissenschaftlern ernannt würde und in einem normalen Verfahren alle relevanten Daten und Argumente abgegeben hätten, dann würde diese Jury nie mit Einstimmigkeit für den Einsatz von Kernreaktoren unter der Zivilbevölkerung votieren. Vielmehr glaube ich, dass sie für die vollständige Abschaltung aller kommerziell betriebenen Atomkraftwerke eintreten würde.“
Nach der Anzeige wurde Lovejoy gegen Sicherheitsleistung auf freien Fuss gesetzt. Sechs Monate später kam es zum Gerichtstermin wegen „Zerstörung von Privateigentum“, zu einer solchen Sachbeschädigung – in diesem Fall im Wert von 42500 U.S.-Dollar – wurde eine Strafe mit bis zu fünf Jahren Gefängnis in der Rechtssprechung des Bundesstaates verhängt, die von der Staatsanwalt in voller Höhe gefordert wurde.
Der Turm-Umstürzler sprach in dem sechs Stunden langen Plädoyer vor der Jury über sein Leben und die Wendung zu sabotieren, zudem sehr emotional über ein vierjähriges Mädchen mit dem Namen Sequoyah, dass sich nicht wehren kann gegenüber dem Handeln der Erwachsenen und das er wusste, das er handeln muss. Er plädierte auf „völlig unschuldig“.
Sam Lovejoy legte es direkt auf einen Gerichtsprozess an um von der Justiz eine eindeutige Ansage zu den Atomkraftwerken zu erhalten, aber sein Fall entwickelte sich in die gegenteilige Richtung.
Der Richter lud zwei hochkarätige Experten ein, um sich ein genaues Urteil über die moralische Seite bilden zu können. Einer war Dr. John Gofman, ein Mitglied des Manhattan-Project, der andere als Experte für zivilen Ungehorsam war der hochangesehene Bürgerrechtler, Historiker, Philosoph und Professor für Politische Wissenschaften an der Boston University, Howard Zinn.
Dr.Gofman beschrieb laut Definition der Atomenergie-Kommission (Atomic Energy Commission), das Plutonium als „die teuflischste giftige Substanz, die überhaupt bekannt ist. Drei Esslöffel könnten zu neun Milliarden menschlicher Krebserkrankungen führen. Aber jedes Kernkraftwerk erzeugt Tausende von Pfund von Abfällen an Plutonium, und es gibt keinen Weg, es zu speichern. Die Verbreitung von Kernkraft birgt die Verpflichtung, den radioaktiven Müll zu schützen. Nicht nur für unsere Generation sondern für die nächsten tausend oder mehrere tausend.“
Mit Howard Zinn verbrachte Richter Smith viel Zeit über die Fragen des zivilen Ungehorsams und lud ihn nach der Anhörung vor Gericht zum Abendessen ein, um sich weiter darüber auszutauschen. Vor Gericht sagte Zinn, dass der Turm-Sturz in der besten Tradition von Gandhi, Thoreau und den Abolitionisten (Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei) war, einschliesslich Elias P. Lovejoy, ein entfernter Cousin von Sam, der von einem Pro-Sklaverei Mob in Alton im südlichen U.S.-Bundesstaat Illinois im Jahr 1837 gehängt wurde.
Nach dem Verhandlungstag sagten mehrere Juroren, dass sie sehr durch Lovejoy Aussage bewegt waren. Eine Umfrage ergab, mindestens acht zu vier oder neun zu drei zu Lovejoy‘ Gunsten entscheiden würden. Der Richter stellte das Verfahren ein und schickte die Mitglieder der Jury nach Hause.
Video zu dem Prozess und den in ihm aufgeworfenen Fragen zur Berechtigung des zivilen Ungehorsam:
Der Prozess hatte Aufsehen erregt. Zuerst begannen lokale Zeitungen über die Probleme der Kernkraft zu berichten, ihnen folgten überregionale Blätter.
Es tauchten immer mehr Aufkleber an den Autos der Bevölkerung auf mit einem blauen Kreis, in dem zwei Wellen abgebildet waren.
Dieses Symbol sollte den Wassermann aus den astrologischen Tierkreiszeichen verkörpern als Zeichen für natürliche Energie.
Die Plaketten wurden zum Symbol der „No Nuke“-Bewegung, die viele Menschen inspirierte, zu eintausendvierhundert Verhaftungen und letztendlich zur Abschaltung von dreiundsechzig Atomkraft-Anlagen von 1975 bis zum Jahr 1980 in den Vereinigten Staaten von Amerika führten.
Loveloy schrieb ein Jahr später in 1975 seine Story auf und drehte einen Dokumentarfilm zur Stärkung der antinuklearen Bewegung. „Supported by a good use of film technique, the movie is excellent for public library film programs and for use in senior high school and college social studies, current events, and political science classes“ ist nur eine der vielen positiven Reaktionen, hier von der American Library Association.
Der Film wurde auf Festivals aufgeführt und premiert:
Chicago International Film Festival 1975 Silver Hugo
American Film Festival 1976 John Grierson Award Red Ribbon
Ann Arbor Film Festival 1976 American Tour
San Francisco International Film Festival 1975 Best Political Film
Berlin Film Festival 1976 American Representative
Midwest Film Conference 1976
Es wurden Konzerte, so ein mehrtägiges „No Nukes Concert“ im Madison Square Garden und viele Protestveranstaltungen organisiert.
Videos von den Konzerttagen am 19.-23. September 1979 mit Bruce Springsteen und den THE DOOBIE BROTHERS
Zweiundvierzig Jahre sind seit der Zerstörung des Turmes in Montague vergangen. Immer mehr Staaten setzen auf Kernenergie zur Stromerzeugung, unterstützt von den führenden Industrienationen. Oft unter dem Argument, die Stilllegung von Kohlekraftwerken damit auszugleichen.
Der heutigen Anti-Atombewegung ist grösster Respekt zu zollen, aber ihr Engagement reicht noch nicht, es erreicht nicht die breite Bevölkerung trotz grosser Beteiligung an Demonstrationen.
Die Erinnerung an Sam Lovejoy und seine damaligen Mitstreiter soll dazu motivieren, dass ziviler Ungehorsam ohne die Gefährdung von Menschenleben dringend geboten ist um zukünftige Generationen vor dem sicheren Degenerieren durch überall sich verteilende radioaktive Strahlung zu bewahren – von Reaktorunfällen ganz zu schweigen.
Von der Politik und Wirtschaft ist nichts Positives zu erwarten – nur grenzenlose Zerstörung.
Quellen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Montague_Nuclear_Power_Plant
http://zinnedproject.org/2016/02/lovejoys-nuclear-plant-civil-disobedience/