Bundestagspräsident Lammert: „keine Vorteile“ von verfassungsmäßig vorgeschriebener Immunität von Abgeordneten, sondern „eher eine Belastung“.
Schon vor über sieben Jahren, im Zuge der ersten „großen Koalition“ und den bereits damals üblichen wochenendlichen Drohungen, schrieb ich:
„Kommen die schon wieder an. Man traut sich schon gar nicht aus dem Haus. Einmal einkaufen, schon ´ne Grundgesetzänderung.“
So auch heute.
Norbert Lammert stellte sich für seine heutige Willensbekundung natürlich nicht etwa ins Parlament. Schließlich macht dieses summa summarum rund sieben Monate Urlaub im Jahr (30 von 52 Wochen), aber beklagt sich natürlich, wie überlastet es sei, in einer seit Mitte 2013 außer Funktion gesetzten Republik. Lammert setzte sich also mit einer der vielen journalistischen Freunde des Grundgesetzes zusammen, namentlich beim „Tagesspiegel“. Als Aufhänger seines Anliegens diente Präsident Lammert der Fall Volker Beck.
Nach einem selbst für mittlerweile gängige staatsjuristische Gepflogenheiten äußerst merkwürdigen Fehlverhalten der Berliner Staatsanwaltschaft – diese hatte nach Vorbild der berüchtigten Bundesanwaltschaft allen Ernstes erklärt, sie habe nur einen „Prüfvorgang“ (!) eingeleitet, ob sie gegen Volker Beck überhaupt ermitteln würde – hatte Lammert die Aufhebung der Immunität Becks abgelehnt. Erst als die Berliner Staatsanwaltschaft schließlich unter viel Gewimmer und Gebrumm doch noch erklärte, hm, ja, hm, na gut, man werde jetzt ermitteln, hatte der Bundestag die Immunität Becks aufgehoben.
Nun, am heutigen Sonntag: Auftritt Lammert. Auszug aus dem entsprechenden Artikel vom „Tagesspiegel“, der einmal mehr den Eindruck vermittelt, als habe da jemand ein Selbstgespräch mit der Bitte um Abdruck eingereicht:
Er sehe „keine Vorteile“ in dem grundgesetzlich festgeschriebenen Schutz vor Strafverfolgung, sagte Lammert dem Tagesspiegel am Sonntag. „Immunität wird in der Öffentlichkeit häufig als Privileg der Abgeordneten angesehen, ist in Wirklichkeit aber eher eine Belastung, da ein Immunitätsverfahren immer mit erheblicher Publizität verbunden ist, die schnell auch den Charakter einer Vorverurteilung annehmen kann.“ Im Übrigen, so Lammert, handele es sich nicht um eine Bestimmung zum individuellen Schutz von Abgeordneten, sondern um eine Regelung, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments sicherstellen solle.
Welchen Teil der Verfassung der Herr Lammert für vorteilhaft oder eine Belastung hält, interessiert die Republik einen Dreck.
Zitat vom Chef Lammerts, Artikel 46:
(2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.
(3) Die Genehmigung des Bundestages ist ferner bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten oder zur Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten gemäß Artikel 18 erforderlich.
Lammert schlägt nun im „Tagespiegel“ vor, die Verfassung auf den Kopf zu stellen, Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Bundestagsabgeordnete „jederzeit möglich“ zu machen und nur dann auszusetzen, „wenn der Landtagspräsident, eine Fraktion oder ein Abgeordneter“ dies beantragen. Als Beispiel dient Lammert der Landtag (!) von Brandenburg. Lammert weiß selbst, wie lächerlich das ist.
Sicherlich werden jetzt viele Freunde Volker Becks ausgerechnet diesen mit dem fleischgewordenen Grundgesetz verwechseln und wieder einmal heucheln bis zum Erbrechen. Aber um die Freunde Volker Becks geht es nicht. Um die geht es nie.
Sobald wieder an der Verfassung herumgepfuscht wird, wegen Umtrieben von Personen, über deren moralische Qualität kein Wort zu schmutzig zu wäre, wird alles nur noch schlimmer. Sofort wird der bereits freidrehende Staat seine neuen Möglichkeiten nutzen und z.B. alte oder neue renitente Abgeordnete versuchen zu erpressen oder loszwerden. Und auch, ob diese dann zum Abschuss durch „Ermittlungen“ (also Abhörmaßnahmen, Spionage der gesamten Telekommunikation, Durchreiche an die faktischen „atlantischen“ Vorgesetzten inklusive) freigegebenen Abgeordneten aus dem rechten Spektrum kommen, interessiert die Republik einen Dreck. Sollen doch diese Abziehbilder von „die Linke“ mal so tun, als seien sie welche.
Dass jetzt der Präsident des schlechtesten Parlaments der Welt, was seinen Job nicht nur nicht macht, sondern nicht machen will und sich stattdessen versucht vor allem zu drücken wo es nur geht, ist extrem peinlich. Dies passt zum Bild einer sogenannten „politische Klasse“, die mittlerweile so heruntergekommen ist, dass ihr jede Art von Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zuwider ist.
Das ist dieser Klasse zu gutem Recht peinlich, welches allerdings so bleibt, im Gegensatz zur „politischen Klasse“.
(…)
Artikel zum Thema:
15.02.2014 STAATSAFFÄRE: Die brisante Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Hannover
Fall Edathy +++ B.K.A. seit 2012 von Strafverfahren in Kanada informiert +++ Bereits vor oder im Oktober 2013 „Hunderte, Tausende Datensätze“ über das Bundeskriminalamt „flächendeckend über Deutschland“ versendet +++ Staatsanwaltschaft Hannover bekam erst am 5. November 2013 Verfahrensakte +++ Edathy-Anwalt Noll meldete sich bereits am 28. November bei Staatsanwaltschaft Hannover wegen Verfahren bezüglich Kinderpornografie, meldete sich schon vorher bei der Staatsanwaltschaft Berlin +++ Edathy-Anwalt Noll am 22. Januar 2014: Filme seines Mandanten seien keine Kinderpornografie, „sein Mandant besitze sie auch nicht mehr“ +++ Zwei Tage nach Versendung der Anzeige der Staatsanwaltschaft zum Bundestagspräsidenten melden „Medien“, Edathy sei am Vortag zurückgetreten, Schriftstück trifft erst nach über fünf Tagen beim Bundestagspräsidenten ein +++