Von „Notstandsgesetzen“ zu „Selektoren“: Das anstehende historische Verfassungsurteil über die G 10-Kommission
Die Regierung versucht sich mit dem neuen B.N.D.-Gesetz vor einem anstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sicherheit zu bringen. Das Verfahren behandelt eine Klage des 1968 durch die „Notstandsgesetze“ geschaffenen Geheimgerichts, der G 10-Kommission, auf Einsicht in die Spionageziele („Selektoren“) von Bundesnachrichtendienst und National Security Agency.
Mitte des Jahres 2013, fast zeitgleich mit dem Beginn der Veröffentlichungen von Edward Snowden über ausgewählte Presseorgane, setzte der Staat die Republik außer Funktion. Seitdem agiert kein einziges staatliches „Verfassungsorgan“ mehr als solches. Exekutive, Legislative und Justiz ignorieren nach Belieben das Grundgesetz. Keine einziges „Verfassungsorgan“ kontrolliert die Aktivitäten der Regierung und ihrer Behörden. Eine parlamentarische Opposition findet effektiv nicht statt. Stattdessen verweigern „Grüne“ und „Linke“ weiter das Einsetzen ihrer Möglichkeiten, u.a. eine Verfassungsklage der von ihren Parteien geführten Landesregierungen in Thüringen und Baden-Württemberg gegen die Bundesregierung („abstrakte Normenkontrolle„).
Nächsten Freitag wird das Parlament die bereits praktizierte staatliche Totalüberwachung der Telekommunikation, auch der „vom und in das Ausland“ (Zitat Bundesverfassungsgericht, Beschluss 1 BvL 7/08, 13.05.2009) auf deutschem Boden „gezielt“ erlauben, und damit auch die damit einhergehende Möglichkeit der politischen Verfolgung, nicht nur in der Republik.
Es gibt demnächst ein Verfassungsurteil, welches dies ändern und Republik und Gewaltenteilung zumindest rudimentär wieder in Funktion setzen könnte.
HINTERGRUND
Die Kernstruktur des Internets, dessen Strukturen heute mehr und mehr auch den Telefonverkehr transportieren, basiert auf Entwicklungen des Pentagon bzw dessen Forschungsabteilung D.A.R.P.A. und dem damit eng verwobenen „Massachusetts Institute of Technology“ ab Mitte der 60er Jahre.
Am 19. Juni 1968 beschloss der Kongress der Vereinigten Staaten den „Omnibus Crime Control and Safe Streets Act of 1968“, in welchem zum ersten Mal das bereits praktizierte Abhören der Bevölkerung (und speziell von politischen Aktivisten) legalisiert wurde. U.a. wurde das Budget der Bundespolizei FBI um 10 % erhöht.
Fünf Tage später hob in Westdeutschland das „Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes“ („Notstandsgesetze“) das in Artikel 10 Grundgesetz garantierte Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis durch einen neuen Absatz 2 für die gesamte Bevölkerung faktisch auf, indem es dessen Beschränkung „durch Gesetz“ verfügte. Die diesbezügliche Gewaltenteilung (also die Möglichkeit sein Grundrecht vor Gericht einzuklagen) wurde durch eine Änderung von Artikel 19 Absatz 4 außer Kraft gesetzt, sowie in Artikel 10 Grundgesetz verfügt, dass Bürgerinnen und Bürger der Republik über an ihnen verübte Spionage nicht einmal im Nachhinein informiert werden müssen.
Ausdrücklich sei festgehalten: Formal ist damit das Grundrecht auf Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis immer noch vorhanden, bis heute. Faktisch ist es seit 1968 aufgehoben, da man es nicht einklagen kann und dessen Bruch durch Staatsorgane im Geheimen vonstatten gehen kann.
Es bleibt lediglich die Möglichkeit gegen Exekutivbehörden wegen ihres Bruchs vom Grundrecht auf Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu klagen, wenn man als Betroffener selbst beweisen kann, dass der Staat
a) nicht einmal auf Grund eines Gesetzes vorgeht bzw
b) nicht zum „Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes“.
Diese Außerkraftsetzung der Gewaltenteilung bezüglich eines elementaren Grundrechts der Bevölkerung, dem auf Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, zuerst in Westdeutschland, dann ab 1990 in der beginnenden Berliner Republik, dauert bis heute an.
Rund zwei Monate nach dem „Omnibus Crime Control and Safe Streets Act of 1968“ in den U.S.A und den Verfassungsänderungen der „Notstandsgesetze“ in Westdeutschland, beschloss der westdeutsche Bundestag am 13. August 1968 das erste „Artikel 10-Gesetz“, welches als ausführendes Gesetz nun die Beschränkung von Artikel 10 Grundgesetz umsetzte: das „Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses“.
Dieses bis heute in verschiedenen Formen erneuerte Artikel 10-Gesetz verfügte, als letztes Feigenblatt freiheitlich-demokratischer Grundordnung, die Wahl eines „Gremiums“ aus fünf Abgeordneten des Bundestages. Dieses fünfköpfige Gremium wiederum solle eine „Kommission“ aus drei Personen wählen, die nicht einmal Mitglieder des Parlaments sein mussten-
Es war ab 1968 diese „Kommission“ die fortan über jede Spionage der Regierungsbehörden im Inland entschied, als Geheimgericht ohne Verteidigung für die faktisch Verurteilten.
Das durch die ausführende Gesetzgebung der „Notstandsgesetze“ in 1968 geschaffene „Gremium“ heisst heute „Parlamentarisches Kontrollgremium“; und die „Kommission“ heisst „G-10-Kommission“, besteht aus vier Personen und muss sich nur einmal im Monat treffen.
Siebenundvierzig Jahre nach ihrer Installation widersetzte sich diese Kommission zum ersten Mal der Regierung.
ACCESS IS POWER / ZUGANG IST MACHT
Wie berichtet, verfügte die damalige Regierung von „S.P.D.“ und „Bündnis 90/Die Grünen“ ab 2002, in etwa zum Zeitpunkt des „Memorandum of Agreement“ mit der N.S.A., durch eine weitere Verschärfung der „Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) die „strategische Überwachung der Telekommunikation“ durch den Bundesnachrichtendienst.
Technisch umgesetzt wurde dies durch bei jedem relevanten Provider installierte technische Anlagen („SINA Boxen“) der Behörden, die die gesamte Telekommunikation der betreffenden Provider kopieren („doppeln“). In § 27 TKÜV Abs. 2 und 3 heisst es:
„(2) Der Verpflichtete hat dem Bundesnachrichtendienst an einem Übergabepunkt im Inland eine vollständige Kopie der Telekommunikation bereitzustellen, die über die in der Anordnung bezeichneten Übertragungswege übertragen wird.
(3) Der Verpflichtete hat in seinen Räumen die Aufstellung und den Betrieb von Geräten des Bundesnachrichtendienstes zu dulden, die nur von hierzu besonders ermächtigten Bediensteten des Bundesnachrichtendienstes eingestellt und gewartet werden dürfen (..)“
Diese Infrastruktur der Totalüberwachung wird bis heute von allen etablierten Parteien, Bürgerrechtsorganisationen und Journalisten nicht thematisiert, sondern peinlichst verschwiegen. Ob sich jemals ein Provider den „Anordnungen“ des Bundesnachrichtendienstes widersetzte, ist öffentlich unbekannt. Wie sich der B.N.D. diese „Anordnungen“ besorgte, oder ob und wie sich einzelne „ermächtigte Bedienstete des Bundesnachrichtendienstes“ Zugang zu diesen digitalen Räuberhöhlen des 21. Jahrhunderts erschlichen, und ob sie aus Deutschland kamen, und was sie dort wiederum installierten und konfigurierten, oder mit heraus schleppten, oder umleiteten, oder kopierten, undundund, dies alles sei vorerst hintenangestellt.
Die offizielle gesetzliche Legitimation für den Zugriff der Regierung und ihres „Auslandsgeheimdienstes“ und deren „Ermächtigten“ auf praktisch die gesamte Telekommunikation der Bevölkerung Deutschlands, sowie spätestens ab 2005 auch auf Telekommunikation „vom und in das Ausland“, namentlich die Internetknoten des rasch expandierenden World Wide Web im Internet, lautet bis heute wie folgt:
dem B.N.D. werde zwar faktisch der Zugriff auf die gesamte Telekommunikation gestattet, er dürfe aber „nur“ 20 Prozent des Datenverkehrs auswerten.
Heise.de schrieb dazu bereits am 1.Februar 2002:
„Offenbar, so vermuten nun Experten, will der Bundesnachrichtendienst wohl nun selbst 100 Prozent erfassen, um dann freiwillig nur 20 Prozent auszuwerten.“
Nur konsequent, dass die Regierung nun über vierzehn Jahre später dieses 20 Prozent-Feigenblatt im neuen B.N.D.-Gesetz ganz fallen lässt, offensichtlich weil die Öffentlichkeit langsam beginnt zu begreifen, was für ein Witz das ist (mehr zum „Doppeln“ der Daten direkt bei den Schnittstellen der Provider hier).
TKÜV §27 regelt nun in Abs. 4, wer Zugang zu diesen geheimen Anlagen des B.N.D. bei den Telekommunikations-Firmen bzw Providern bekommt – auch an den Internetknoten:
„(4) Der Verpflichtete hat während seiner üblichen Geschäftszeiten folgenden Personen nach Anmeldung Zutritt zu den in Absatz 3 bezeichneten Geräten zu gewähren:
1. den Bediensteten des Bundesnachrichtendienstes zur Einstellung und Wartung der Geräte,
2. den Mitgliedern und Mitarbeitern der G 10-Kommission (§ 1 Abs. 2 des Artikel 10-Gesetzes) zur Kontrolle der Geräte und ihrer Datenverarbeitungsprogramme.“
Im heutigen Artikel 10-Gesetz heisst es in §15 über die Kompetenzen der G 10-Kommission:
„(5) Die G 10-Kommission entscheidet von Amts wegen oder auf Grund von Beschwerden über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Die Kontrollbefugnis der Kommission erstreckt sich auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der nach diesem Gesetz erlangten personenbezogenen Daten durch Nachrichtendienste des Bundes einschließlich der Entscheidung über die Mitteilung an Betroffene. Der Kommission und ihren Mitarbeitern ist dabei insbesondere
1. Auskunft zu ihren Fragen zu erteilen,
2. Einsicht in alle Unterlagen, insbesondere in die gespeicherten Daten und in die Datenverarbeitungsprogramme, zu gewähren, die im Zusammenhang mit der Beschränkungsmaßnahme stehen, und
3. jederzeit Zutritt in alle Diensträume zu gewähren.„
Zuerst einmal gilt festzuhalten, dass im Gesetz nichts von „Anmeldung“ steht. Allein das wäre ein Angriffspunkt gegen die einfache Verordnung TKÜV, die eine Anmeldung der G 10-Kommission beim B.N.D. verlangt, bevor sie diesen kontrollieren soll.
Davon nun einmal abgesehen, liegt schlicht die Frage nahe:
Was hat diese Kommission spätestens seit 2002 eigentlich gemacht? Hat sie Fragen gestellt? Hat sie Einsicht in Unterlagen genommen? Hat sie Diensträume der Geheimdienste aufgesucht, z.B. an den Internetknoten?
UNRUHE IM ABBAUGEBIET
Der 2014 eingesetzte B.N.D.-„Untersuchungsausschuss“ des Bundestages hat bis heute nie irgendetwas untersucht, sondern ausschließlich das hin und her wälzt, was ihm von Regierung und Geheimdienst selbst zur Verfügung gestellt wurde. Das gilt auch für die sagenhaften „Beweisbeschlüsse“.
Am 27. März 2015 ist nun im „Untersuchungsausschuss“ eine Ikone der „Sicherheitsbranche“ zu Gast: Hans de With, Vorsitzender der G 10-Kommission von 1999 bis Januar 2014.
Nach seinem Eingangstatement sagt Hans de With im Gespräch mit Nina Warken („C.D.U.“) (Auszug Live-Blog von Netzpolitik.org):
Warken: Viel Erfahrung bei Kontrolle von Nachrichtendiensten. Im August 2013 sagten sie der taz: „Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte, dass wir in irgendeiner Weise ausgetrickst werden.“ Und „Mir ist kein Fall von Anlügen bekannt.“ Würden sie das heute nochmal so sagen?
With: Ich bleibe dabei. Nach meinem derzeitigen Kenntnisstand. Wir haben von Fall zu Fall zu entscheiden, ob Bezug der Beschränkungsmaßnahme gerechtfertigt ist. Nie Tricksereien oder unredliche Hinweise. Bin der Auffassung, dass alles korrekt und richtig war. Haben immer intensiv nachgefragt.
Warken: Art und Weise der Geheimdienst-Kontrolle durch G-10-Kommission?
With: Uns vorgelegte Akten prüfen.
Am 8. Mai 2015 reicht es uns und wir veröffentlichen den Artikel „Internet-Knoten DE-CIX: Diese 4 Personen haben Zugang zu den geheimen B.N.D.-Anlagen“.
In diesem Artikel benennen wir Andreas Schmidt, Frank Hofmann, Bertold Huber, Ulrich Maurer als die derzeitigen Mitglieder der weithin unbekannten G 10-Kommission und verweisen auf deren Kompetenzen und Verantwortung.
Im Juni 2015 verlangt die G 10-Kommission von der Regierung Einblick in die von National Security Agency in Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst anvisierten Spionageziele („Suchbegriffe“, „Selektoren“) in Deutschland bzw Deutsche betreffend.
Damit sagt die Kommission zunächst mal öffentlich, dass die Regierung eine Liste mit diesen Zielen hat.
Die „Zeit“ schreibt „Den Geheimdienstkontrolleuren reicht‘s“ und vermerkt konsterniert, der Streit schwele „schon einige Wochen“:
„Normalerweise arbeitet sie mit Regierung und Nachrichtendiensten kollegial zusammen, dass Anträge abgelehnt werden, kommt selten vor. Nach außen dringt fast nichts. Die Kommissionsmitglieder unterliegen der Geheimhaltungspflicht. Eigentlich eine komfortable Situation für alle Beteiligten: Die Kommission darf die Nachrichtendienste kontrollieren, die Vorgänge bleiben geheim, die Bundesregierung kann darauf verweisen, dass alles rechtsstaatlich zugeht.
Und jetzt das: Die G-10-Kommission begehrt auf und verweigert den Diensten die Zusammenarbeit.“
Die G 10-Kommission bekommt natürlich nichts von der Regierung.
Im Juli 2015 dann droht die Kommission damit, Verfassungsklage gegen die Regierung einzureichen. Im Dezember 2015 schließlich tut sie es.
Man sei „hereingelegt“ worden, heisst es aus der Kommission. Wer formuliert die Verfassungsklage?
Kein anderer als Oberleuchte Hans de With, Vorsitzender der G-10 Kommission von 1999 bis 2014.
REPUBLIK SEIN, ODER NICHT SEIN
Nach der in Deutschland historisch-traditionellen Wahrnehmungsstörung und Zeitverzögerung und dem moralisch-politischen Totalausfall einer weiteren Generation von Deutschen, entscheidet nun das Bundesverfassungsgericht nach eigenen Angaben in Organstreitverfahren 2 BvE 5/15 also im Jahre 2016, ob wenigstens das 1968 durch die „Notstandsgesetze“ installierte letzte parlamentarische Feigenblatt vor der Willkür von Staat, Spionen und geheimdienstlichen Komplex hält.
Würde das Bundesverfassungsgericht entscheiden, dass die Regierung selbst diesem Geheimgericht G 10-Kommission keine Unterlagen herausrücken muss – welches im elektronischen Zeitalter des 21. Jahrhunderts nicht nur Verantwortung trägt für sämtliche Spionage der Bundesbehörden gegen die Menschen im Inland, sondern auch gegen die Telekommunikation der Menschen weltweit, durch Anzapfen der Internetknoten und Telekommunikationsverbindungen über deutsches Territorium – kann Karlsruhe erstens seinen Laden gleich ganz dichtmachen und muss zweitens zugeben, dass weder Westdeutschland, noch die heutige Berliner Republik jemals eine parlamentarische Demokratie waren.
Das werden die Verfassungsrichter aber nicht machen. Im Gegenteil ist bei dieser einzig relevanten Verfassungsklage zur Sache damit zu rechnen, dass sie der G 10-Kommission Recht geben wird. Die hektische Betriebsamkeit der Regierung, samt ihrer großspurigen Blufferei und der ihrer wie üblich an Selbstsicherheit und vermeintlicher Unantastbarkeit ersaufenden Dienerschaft in den Geheimdiensten, deren unteren Chargen keine Ahnung haben was hier gerade vor sich geht, sind der beste Beweis dafür.
Nächsten Freitag versucht sich die Regierung aus der Verantwortung für jahrzehntelange Massenüberwachung und einen elektronischen Polizeistaat davon zu schleichen, indem sie diesen offiziell macht und nicht mehr hinter Verordnungs-Anordnungs-Dienstanweisungs-Rückwirkungsdschungel vor den Prothesen in Presse, Parlament und Parteien verbirgt. Ein paar Juristen des Generalbundesanwalts / der Bundesanwaltschaft, unter Regide des Justizministeriums, sollen nun die Gewaltensammlung der Regierung legitimieren, als Vorabverteidigung gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Klage der G-10-Kommission.
Es wird der Regierung nichts nützen. Und auch nicht ihren Tauschbörsianern in Washington, Utah, Langley und anderswo.