S21: „Wer bleibt eigentlich als Finanzier noch übrig? Der Heilige Geist?“

Die Rede der ehem. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin auf der heutigen 333. Stuttgarter Montagsdemo der Demokratiebewegung gegen „Stuttgart 21“ (S21). Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Demonstrierende gegen S21, liebe Organisatoren und Unterstützer von „Oben bleiben“, verehrte Anwesende und Neugierige, herzlichen Dank zunächst einmal für Ihre Einladung, heute hier vor Ihnen aus Anlass der 333. Montagsdemo einige Worte zu sagen.

333 Demonstrationen – das ist wirklich eine eindrucksvolle Zahl. Sie gibt Anlass nicht nur zu Dank, zumal wir ja wissen, dass längst nicht alle Montagsdemos bei so herrlichem Wetter wie heute stattfinden konnten. Und diese eindrucksvolle Kette von Montagsdemos und anderen Aktivitäten ist auch Anlass für Glückwünsche an alle, die schon lange dabei sind, die geholfen und unterstützt haben. Ich weiß, das sind viele.

Sie haben nicht aufgegeben. Sie sind hartnäckig. Trotz Frust und immer wiederkehrenden Enttäuschungen aus vielen Richtungen. Aber – das ist geradezu zu spüren – jetzt kreist die Frage in einigen Köpfen herum: Warum dankt die uns und warum gratuliert sie? Wo doch sicher viele von Ihnen häufig genug daran gezweifelt haben oder auch heute die Frage wälzen, ob Demos überhaupt etwas bringen und ob die heutige 333. oder ob vielleicht die 350. Demo dazu beitragen können, dieses tolle Vorhaben zu verhindern? Diese Frage schlüssig beantworten kann ich genauso wenig wie Sie.

Aber, ich weiß, dass ohne Ihr Aktionsbündnis, ohne die Parkschützer und ohne die Demos, also ohne Ihre Hartnäckigkeit – Frust und Problemen zum Trotz – bis heute Vieles nicht erreicht worden wäre und nur dadurch möglich gewesen ist: Das betrifft zum einen das schändliche und politisierte Vorgehen von Teilen der Polizei an jenem elenden schwarzen Donnerstag vor 6 Jahren und das leider auch kritikwürdige Vorgehen von Staatsanwälten und Richtern bis heute. Ohne Sie und Ihre Unterstützung wäre noch weniger aufgearbeitet, wären noch weniger Verletzungen gesühnt worden, als das heute der Fall ist.

Ich weiß, da ist noch viel zu tun und ich danke auch den vielen Kolleginnen und Kollegen aus Anwaltschaft und Justiz an Ihrer Seite, die dabei helfen.

Da ist aber noch mehr: Ohne Sie, ohne Ihre Aktivitäten und Demonstrationen, wären die Mängel bei der Konzeption, der Planung und bei der Durchführung von S21 noch weniger transparent, als sie es bis heute sind. Sie würden auch mit viel mehr Erfolg heruntergeredet, als das bis heute immer noch geschieht.

Und: Ohne Ihre Hartnäckigkeit – die übrigens auch künftig erforderlich sein wird – würden auch die immensen Kostensteigerungen, die heute längst die Spatzen von den Dächern pfeifen, weiter in der bekannten unendlichen Warteschleife von taktischen Manövern geleugnet werden können – jedenfalls von denen, die es genau wissen. Dank Ihrer Hartnäckigkeit gibt es heute Berichte und Fernsehbeiträge – wie den jüngst am 20.7. 2016 gesendeten Plusminus-Beitrag, den Sie alle noch im Internet anschauen können. Danach liegen die realistischen Schätzungen der Gesamtkosten von S21 derzeit bei 10 Mrd. Euro.

Keine Peanuts, wenn wir daran erinnern, dass unsere sparsamen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Baden-Württemberg, die dem Vorhaben in der Volksabstimmung ihre Zustimmung gegeben haben, damals von 2,6, bestenfalls von 4,5 Mrd. ausgehen konnten.

Übrigens erklären Journalisten und Experten – auch das ist belegt und nachprüfbar – dass ihnen Abgeordnete der CDU und sogar Experten der Bahn bestätigt hätten, die realistische Größenordnung von 10 Mrd. sei ihnen schon 2011 bekannt gewesen. Auch der zuständige Bundesrechnungshof spricht neben unabhängigen Verkehrsplanern von dieser Größenordnung.

Ich finde es empörend, dass damals, als es um die Volksabstimmung ging, von den Pro-S21-Interessenvertretern diese Schätzungen als Phantasien von Spinnern oder Fortschrittsfeinden verteufelt und ins Reich der Phantasie verwiesen wurden. Das hat mit Sicherheit viele Gutgläubige damals beeindruckt.

Mich ärgert zusätzlich, dass diese Kostensteigerung, dieser Schwabenstreich S21, den Skandal um den Berliner Flughafen um Längen schlägt – und den um die Hamburger Elbphilharmonie – und beide wurden doch auch in unseren Medien hier in Baden-Württemberg mit Recht gründlich verspottet. Dabei sind wir Schwaben doch so stolz darauf, dass wir alles können, außer Hochdeutsch.

Ein weiterer Punkt: Ohne Sie und das Aktionsbündnis, ohne die Unterstützung vieler Fachleute und ohne Ihre, lassen Sie mich das wiederholen, ohne Ihre Hartnäckigkeit gäbe es auch das spannende Umstiegskonzept „Umstieg 21 – heraus aus der Sackgasse“ nicht.

Es gäbe damit auch keine wirklich realisierbaren Überlegungen, was im jetzigen Stadium der Bauten am und um den Hauptbahnhof sinnvollerweise getan werden kann und muss. Mich hat dieses Umstiegskonzept auch deshalb beeindruckt, weil es zeigt, dass das Aktionsbündnis und seine Unterstützer eben keineswegs alleine gegen S21 sind, sondern dass hier viele zusammenarbeiten, um auch mit konstruktiven Konzepten und Vorschlägen weiter zu kommen. Auch dafür vielen Dank.

Wir alle wissen, wo wir heute stehen. Aber fassen wir das nochmals zusammen und folgern dann, welches die nächsten Schritte sein müssen: Die Mängel bei Planung und Durchführung sind heute für jedermann sichtbar. Und es rührt einen geradezu, wieder einmal nachzulesen, was der damalige Chefplaner der Deutschen Bahn für S21, Marquart, in einem Interview zur Großbaustelle S21 angekündigt hat. Seine Ausführungen hat die Deutsche Bahn per Anzeige am 22.12. 2007 in der Stuttgarter Zeitung veröffentlichen lassen:

Dort ist zu lesen – Originalton Marquart: S21 „dürfte die einzige Großbaustelle mitten in einer Großstadt sein, von der die Bürger kaum etwas mitbekommen“; das hat er damals wirklich gesagt. Und: Bei S21 handle sich von Anfang an um ein „grünes Projekt“, es handle sich um – wörtlich – ein „Lärmschutzprojekt“, um ein „ausgesprochen nervenschonendes Projekt“, „ohne Verzögerungen oder Zugausfällen“. Marketing, Schönrednerei oder Täuschung? Auf jeden Fall zum Lachen.

Traurig ist jedoch, dass die heutige Realität, die ja die Stuttgarter, die Pendler und die Bahnbenutzer täglich erleben und in den kommenden Jahren weiter erleben werden, bisher niemand aus der Deutschen Bahn dazu motiviert hat, diesen Unsinn zurecht zu rücken. Wie wäre es, Herr Pofalla? Vielleicht könnte ja auch einer unserer guten Journalistinnen oder Journalisten gelegentlich danach fragen…

Nächster Punkt: Über die Kostensteigerungen habe ich schon geredet. Die Berichte des Bundesrechnungshofs, die bei Medien liegen, bestätigen die Größenordnung. Frage deshalb: Warum dauert es dann so lang, bis das Gutachten der Deutschen Bahn über die Kostensteigerungen endlich zur Verfügung steht? Ist das Gutachten nicht noch vor wenigen Wochen verbindlich für September versprochen worden? Es wird endlich Zeit, und es muss auch klar sein, dass die Vorlage eines schönrednerischen Gefälligkeitsgutachtens das Schlimmste wäre, das der Bahn passieren könnte.

Es ist auch gut und richtig, dass aus den Reihen des Aktionsbündnisses zusätzlich nach der Verantwortlichkeit des Aufsichtsrats gefragt wurde. Kurz: Es kann keine langen Verzögerungen oder Verschleierungen der Kosten mehr geben. Und, es muss Tacheles geredet werden.

Dabei geht es endgültig und ernsthaft um die Fragen von Nutzen und Kosten, von Finanzierbarkeit und Kostenträger. Und da ist klar: Die Stadt Stuttgart will und kann nicht, die Landesregierung auch nicht. Beide berufen sich auf Verträge und Vereinbarungen – hoffentlich bleiben sie dabei und lassen sich nicht über den Tisch ziehen. Aber auch der Bund erklärt jetzt plötzlich, S21 sei kein Bundesprojekt. Das hat uns jüngst am 20.7.2016 der schon erwähnte Plusminus-Beitrag mit den Worten aus dem Mund des Herrn Bundesverkehrsministers wissen lassen.

Jetzt aber, nachdem es ja Goldesel nicht gibt, jetzt aber stellt sich die Frage: Wer bleibt dann eigentlich als Finanzier noch übrig? Der Heilige Geist?

Vielleicht werden sich jetzt einige von Ihnen wundern, dass ich an dieser Stelle den neuen Bundesverkehrswegeplan erwähne, den die Bundesregierung vor wenigen Tagen vorgelegt hat. Ich halte ihn für sehr interessant. Er enthält alle Planungen über Verkehrsinvestitionen des Bundes bis 2030 und zeigt nicht nur, dass die Schiene für ihre notwendigen Investitionen erheblich mehr Finanzmittel braucht.

Im Bundesverkehrswegplan lassen sich – deshalb der Name – auch die Planungen ablesen, wohin die bisher für Baden-Württemberg vorgesehenen Steuergelder für den Verkehrsbereich fließen sollen. Und wohin sie nicht fließen, also welche notwendigen Schienenprojekte eben wieder nicht berücksichtigt werden: In Baden-Württemberg betrifft das viele Projekte, meist solche in der Fläche. Das sind längst überfällige Ausbauten, Erhaltungsinvestitionen und Neubauten; sie konnten offensichtlich nicht berücksichtigt werden, weil die Steuergelder nicht ausreichen. Und – ein Schelm der, der das nicht mit S21 und den realistischen Kostensteigerungen in Zusammenhang bringt.

Auch deshalb ist es richtig und wichtig, die Planungen dieses Bundesverkehrswegeplanes im Zusammenhang mit den Kostensteigerungen bei S21 im Bundestag und im Landtag zu diskutieren. Bei diesen Diskussionen und – im Bundestag – bei der Abstimmung über den BVWPlan müssen dann endlich alle Informationen auf den Tisch und berücksichtigt werden. Das sind insbesondere

  • die Berechnungen des Bundesrechnungshofes zu S21 und
  • das dann hoffentlich endlich vorliegende realistische Gutachten der Bahn über die Kosten von S21
  • und vor allem auch die verdienstvollen Überlegungen des Aktionsbündnisses für einen realistischen Umstieg heute.

Ein Weiter so wie bisher jedenfalls kann es nicht mehr geben!

Das sind auch die baden-württembergischen Abgeordneten im Bundestag, die ja im kommenden Jahr in der Bundestagswahl wiedergewählt werden wollen, aber auch die Abgeordneten des Landtags den Bürgerinnen und Bürgern schuldig.

Damit bin ich jetzt bei meinem letzten Punkt, bei meinen Forderungen angekommen. Die an die Deutsche Bahn, an Landes- und Bundesregierung, an die Stadt Stuttgart und vor allem an die Abgeordneten von Bundestag und Landtag habe ich schon erwähnt.

Es wäre auch gut, wenn mehr Medien als bisher die Kostensteigerungen bei S21 und ihre Auswirkungen für die Finanzierbarkeit der Verkehrsinfrastruktur in Baden-Württemberg zum Thema machen würden. Das betrifft ja Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Im Übrigen ist es keine Schande, wenn Bürgerinnen und Bürger, Journalisten, Abgeordnete und Parteien, die früher ernstlich an den Nutzen und die vernünftige und finanzierbare Realisierbarkeit des Projekts geglaubt haben, angesichts der realistischen Zahlen dazu lernen. Man muss ihnen nur die Gelegenheit dazu geben!

Verehrte Anwesende, deshalb will ich heute noch eine weitere Forderung erheben. Mit der wende ich mit an Heiner Geißler, bekanntlich der sogenannte Schlichter oder Mediator in Sachen S21.

Vielen Menschen hat damals Manches imponiert, was er versucht hat. Viele haben ihm, trotz ganz sicher auch damals vorhandenen politischen Überlegungen – wie könnte das bei dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler auch anders sein – auch die Ehrlichkeit und seine Absicht abgenommen, in einem schwierigen Konflikt zu helfen. Er hat viel bewirkt. Das aber verpflichtet auch heute.

Heiner Geißler sieht ebenso wie wir hier, wie heute die Dinge stehen. Bisher aber schweigt er. Obwohl er, kundig wie er ist, mit Sicherheit längst weiß, dass auch er mit seiner Arbeit zu den irreführenden Grundlagen des Volksentscheides beigetragen hat.

Ich persönlich habe Heiner Geißler schätzen gelernt. Gerade deshalb geht meine Forderung heute an ihn: Jetzt ist es auch für Sie, Herr Geißler, an der Zeit, Ihre Stimme zu erheben! Jetzt ist die Zeit, Folgerungen aus dem missglückten Ergebnis der früheren Mediation zu ziehen! Und zusammen mit allen Seiten, nach einem heute machbaren, vernünftigen Ausweg zu suchen!

Sehr geehrter Herr Dr. Geißler! Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie sich ernsthaft zu Wort melden würden!

Verehrte Anwesende, zum Schluss ein Wort von Bundeskanzlerin Merkel aus dem Jahr 2010 – auch wenn ihr Verkehrsminister jetzt erklärt, S21 sei kein Bundesprojekt. Frau Merkel hat 2010 in ihrer Haushaltsrede vor dem Deutschen Bundestag auch über S21 geredet. Sie hat S21 sogar wörtlich als „Maßstab für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ bezeichnet. Hoffentlich hat sie auch hier Unrecht. Lassen Sie uns dazu beitragen!