Bundesverfassungsgericht stoppt Polizeiwillkür
Mitteilung der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. vom 10. August 2016
Die Polizei muss sich erneut durch das Bundesverfassungsgericht rüffeln lassen: Wenn sich Demonstranten rechtswidrig an einer Schienenblockade beteiligen, darf sie diese trotzdem nicht ohne Einschalten eines Richters in Gewahrsam nehmen.
Beim letzten Castortransport im Herbst 2011 hatten rund 3000 Menschen bei Harlingen die Gleise blockiert. Nur ein Teil war der Aufforderung durch die Polizei gefolgt, sich von den Gleisen zu entfernen, 1.346 Demonstranten blieben trotzig sitzen und wurden in Gewahrsam genommen und in einer “Freiluft” – Gefangenensammelstelle auf offenem Feld verbracht – ohne richterlichen Beschluss, wie es sich eigentlich gehört. Erst als der Castorzug den Verladebahnhof Dannenberg erreicht hatte, wurden sie peu à peu freigelassen.
Einer dieser Castor-Gegner hatte geklagt und verlangte Schmerzensgeld, wurde aber vom Landgericht Lüneburg belehrt, dass er als Folge sein rechtswidriges Verhalten keinen Anspruch auf Schmerzensgeld habe. Nun, nach dem Beschluss des Höchsten Gerichts, muss das Landgericht Lüneburg den Fall erneut verhandeln. (AZ: 1 BvR 171/15)
“Dieses Urteil erfüllt den Kläger aber auch uns alle mit Genugtuung”, kommentiert die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. (BI) den Fall. Wieder einmal musste erst ein Gang vor das Bundesverfassungsgericht erfolgen, damit die polizeiliche Willkür bei Castor-Transporten dokumentiert wird.
In der Regel, so BI-Sprecher Wolfgang Ehmke, bleibe das rechtswidrige Verhalten der Polizei folgenlos. “Wir erinnern keinen Fall, wo es dienstrechtliche Konsequenzen gehabt hat”, so Ehmke. Man musste sogar davon ausgehen, dass der Rechtsbruch durch die Polizei eingeplant war, um den Castortransport abzuwickeln. Allein Klagen, die ein Schmerzensgeld einforderten, hätten diese unsägliche polizeiliche Praxis bremsen können.
Wolfgang Ehmke, Pressesprecher
Ein Kommentar von Rechtsanwältin Ulrike Donat
Es gibt eine lange Geschichte von rechtswidrigen polizeilichen Gewahrsamnahmen/Freiheitsentziehungen bei Castor-Transporten. Es begann mit dem Karwitzer Kessel 1996, damals waren nach meiner Erinnerung „nur“ 196 Personen. Zuvor hatte die Polizei immer versucht, Atomgegner zu kriminalisieren, also strafrechtlich zu belangen, was ihnen nicht gelungen war, denn es kam immer zu Freisprüchen. Dann ging sie 1996 unter Bundesinnenminister Kanther dazu über, Demonstranten an den Schienen von der Bundespolizei in Gewahrsam nehmen zu lassen, ohne die von der Verfassung vorgeschriebene vorherige oder „unverzügliche“ Richterentscheidung über die Freiheitssentziehung einzuholen. Selbst die Richter verweigerten damals eine Entscheidung auf Antrag der Betroffenen (über den anwaltlichen Notdienst).
Daraus folgte eine lange Prozessgeschichte, das Verfahren gegen den Karwitzer Kessel (und 1997 gegen den Quickborner Kessel mit ca. 600 Menschen, gegen Dorfeinkesselungen in Laase und Grippel, später gegen Kessel mit mehr Tausenden von Betzroffenen) haben wir dann nach Jahren vor den Gerichten gewonnen. Die Freiheitsentziehungen waren jeweils rechtswidrig, zumeist weil die Voraussetzungen nicht vorlagen (die Polizei „erfand“ immer 150 angeblich Autonome Gewalttäter um einzugreifen….) und weil die Polizei die Eilrichter nicht oder zu spät oder mit falschen Informationen einschaltete.
Nach Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es Schadenersatz bei rechtswidriger Freiheitsentziehung. Es gab einige positive Entscheidungen zum Schmerzensgeld, weil die Menschen in Massen in Fahrzeughallen ohne Mobiliar oder stundenlang in engen Gefangenentransportern ohne Toilette etc festgehalten worden waren, auch Minderjährige. Es gab immer Streit über das Schmerzensgeld, und in der Regel für mehrstündigen Freiheitentzug nur unter miesen Bedingungen (nackt ausziehen, betagte Leute mit Rückenschmerzen, Minderjährige….) einige 100 €, auch erst auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes von 2005.. Das Landgericht Lüneburg und das Oberlandesgericht Celle waren der Meinung, die Feststellung der Rechtswidrigkeit sei ausreichende Genugtuung für mehrstündigen Freiheitsentzug. Das hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung von 2009 auch gehalten mit der Begründung, die Polizei habe ihre Abläufe inzwischen verändert.
Der Harlinger Kessel von 2010 und der erneute Harlinger Kessel von 2011 haben gezeigt, dass dem nicht so war. Die Polizei war in der Lage, über Stunden die Logistik für einen Freiluftkessel mit 3000 Insassen aufzubauen, incl. 30 Dixie-Toiletten, Personal, Scheinwerfern, Videokameras…… aber die Benachrichtigung des Gerichtes unterbliebt. Die Menschen mußten bei winterlicher Witterung bis zu 12 Stunden in diesem Kessel ausharren, ohne je einem Richter vorgeführt zu werden. Mehrere Anwälte und Abgeordnete wiesen die Polizei immer wieder auf die Rechtswidrigkeit ihres Tuns hin – die Polizei ignorierte das. Die Richter wurden nicht tätig, weil die Polizei behauptete, sie wisse nicht, wo namentlich genannte Gefangen sich aufhielten (denn die Polizei hatte keine Personalien erhoben und bot auch keine Transportkapazitäten zum Gericht an……) So „verschwanden“ die Gefangenen über Stunden und waren der Willkür der Polizei ausgeliefert, ohne sich wehren zu können, ohne Zugang zu Rechtsschutz.
Das war beim letzten CastorTransport der Gipfel der Polizeiwillkür.
Das Bundesverfassungsgericht schiebt dem jetzt einen Riegel vor und erklärt, dass bereits die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung – auch wenn es „nur“ wegen Mißachtung des Richtervorbehaltes ist – mehr Genugtuung braucht als die Feststellung der Rechtswidrigkeit, nämlich auch Schmerzensgeld (man erinnere sich an die horrendenen Schmerzensgeldzahlungen bei sonstigen Verletzungen des Persönlichkeitsrechtes durch die Presses… Gefangen sein ohne Möglichkeit zur Gegenwehr ist ziemlich schwer zu ertragen für betroffene BürgerInnen….). Zur Höhe sagt das Gericht allerdings nichts, weil die genauen Umstände, wie es zur Freiheitsentziehung kam etc vom Landgericht nicht aufgeklärt worden waren.
Also: Etwas Genugtuung für Castorgegner, aber noch nicht die letzte Entscheidung, da jetzt das Landgericht Lüneburg den Fall neu aufrollen muß. Und es zeigt, dass nur die hartnäckige gerichtliche Verfolgung von Unrecht durch die Anwälte des anwaltlichen Notdienstes der Polizeiwillkür Grenzen setzen kann. Das Recht tritt die Polizei bei Castor-Transporten seit Anbeginn mit Füßen – es zählte nur, dass der Transport sein Ziel erreicht. Demonstrationsrechte und Freiheitsrechte der Bürger blieben immer auf der Strecke….
Artikel zum Thema
26.06.2015 Castor-Gegner erhob Verfassungsbeschwerde: Bundesverfassungsgericht rügt Landgericht Lüneburg
Ein damals 27-jähriger Aktivist aus Göhda, der im November 2010 beim 12.Castor-Transport bei Harlingen zusammen mit rund 3000 Demonstranten an einer Sitzblockade teilgenommen hatte, wurde bei Minustemperaturen auf offenem Feld in Gewahrsam genommen. Der Kläger, ein fahrender Geselle, sah in der Freiheitsentziehung einen rechtswidrigen Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht und sein Persönlichkeitsrecht, da er ohne richterlichen Beschluss mehrere Stunden auf freiem Feld ohne Witterungsschutz, Verpflegung und ausreichende Toiletten bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes festgehalten wurde.
29.11.2013 Freispruch! Richter würdigt Castor-Blockierer: „Sie trauen sich etwas, was andere sich nicht trauen.“
Gerichtliches Nachspiel nach zweieinhalb Jahren des Transports von Atommüll findet ein gutes Ende mit grosser Anerkennung und Beifall seitens der Justiz (Radio Utopie-Ticker „Von Karlsruhe bis Lubmin: Ticker zum Castor-Transport“ zum Nachlesen der damaligen Ereignisse)