Verfassungsgerichtsbeschluss dokumentiert jahrzehntelangen Totalausfall der Demokratie und Willkür im geheimdienstlichen Komplex
04.07.2016 Von „Notstandsgesetzen“ zu „Selektoren“: Das anstehende historische Verfassungsurteil über die G 10-Kommission
12.11.2016 „Wir können, also lasst es uns tun“: Über die Mentalität im elektronischen Polizeistaat
16.11.2016 Wie die Geschäftsordnung des Bundestages eine Verfassungsklage über die B.N.D.-N.S.A.-„Selektorenliste“ entschied
20.11.2016 Verfassungsgericht: B.N.D. kopierte seit 2002 die Telekommunikation am Internetknoten Frankfurt
20.11.2016 Wissen Sie eigentlich, was diese „N.S.A.-Selektorenliste“ überhaupt ist?
Im Vorfeld weiterer Beschlüsse und Urteile (hier mehr zum Unterschied) vom Bundesverfassungsgericht in Sachen Massenüberwachung / Totalüberwachung, B.N.D.-Gesetz und Kopieren an den Internetknoten bzw an der Spionage-Infrastruktur direkt bei den Providern, veröffentlicht Radio Utopie aufgrund der komplexen Sachlage eine Serie von Artikeln.
Diese Artikelserie dokumentiert für jeden einsehbare Inhalte der bereits erfolgten Verfassungsgerichtsbeschlüsse 2 BvE 5/15 (zur Nichtannahme der Verfassungsklage der G 10-Kommission auf Einsicht in die „N.S.A.-Selektorenliste“) und 2 BvE 2/15 (zur Geheimhaltung der „Selektorenliste“ auch vor dem „Untersuchungsausschuss“ von Bundesnachrichtendienst und National Security Agency).
Dieser Artikel, der nicht der letzte der Serie sein wird, dokumentiert, erläutert und kommentiert nun folgenden Auszug aus Beschluss 2 BvE 5/15:
„Der Bundesnachrichtendienst (BND) betrieb gemeinsam mit der National Security Agency (NSA) auf der Grundlage eines Memorandum of Agreement aus dem Jahr 2002 (MoA) unter dem Projektnamen Joint SIGINT Activity in Bad Aibling eine Kooperation zur Fernmeldeaufklärung von internationalen Fernmeldeverkehren zu Krisenregionen. Das MoA legte die Modalitäten für die gemeinsame Arbeit fest. Hiernach war eine Aufklärung europäischer Ziele nur beschränkt auf bestimmte Phänomenbereiche zulässig. Auch sollten ausschließlich solche Kommunikationen aufgeklärt werden, an denen kein G 10-geschützter Teilnehmer beteiligt war.
Im Rahmen dieser Kooperation durchsuchten BND-Mitarbeiter die aus einem Internetknotenpunkt in Frankfurt am Main ausgeleiteten Daten nach von der NSA definierten Merkmalen, den sogenannten Selektoren. Diese Selektoren wurden von Bad Aibling aus regelmäßig abgerufen und nach entsprechender Prüfung durch den BND in die Erfassungssysteme eingestellt. Aufgrund der hohen Anzahl an Selektoren wurde die Prüfung in einem automatisierten Verfahren mit Hilfe des vom BND entwickelten Datenfilterungssystems DAFIS durchgeführt. Die vorgeschaltete automatisierte Prüfung bezog sich dabei auf eine G 10-Relevanz der Selektoren und auf einen Verstoß gegen deutsche Interessen.
Bereits Ende des Jahres 2005 fiel BND-Mitarbeitern bei einer Durchsicht von NSA-Selektoren auf, dass die NSA auch Selektoren übergeben hatte, die nach ihrer Einschätzung gegen deutsche Interessen verstießen. Nachdem im Sommer 2013 in der Presse berichtet worden war, dass EU-Vertretungen und auch Deutsche von der Fernmeldeaufklärung im Rahmen der Joint SIGINT Activity betroffen seien, führte der BND eine interne Untersuchung der Selektoren durch. Dabei stellte sich heraus, dass die überprüften Selektoren nur zu einem Teil bei der ersten Filterung bereits von der weiteren Verwendung ausgeschlossen und nicht in die Erfassungssysteme übernommen worden waren. Ein anderer Teil war für unterschiedlich lange Zeiträume gesteuert worden.
Nachdem der Deutsche Bundestag zur Aufarbeitung der Selektorenthematik am 20. März 2014 den 1. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode (sogenannter NSA-Untersuchungsausschuss) eingesetzt hatte, wurden die Selektoren, welche von der NSA im Rahmen der Zusammenarbeit in Bad Aibling an den BND übergeben und durch diesen abgelehnt worden waren, aus den nachrichtendienstlichen Datenbanken generiert und sodann zu den sogenannten NSA-Selektorenlisten zusammengefasst.
Die Antragstellerin verlangte, nachdem sie Kenntnis von diesen Vorgängen erhalten hatte, die Herausgabe der NSA-Selektorenlisten oder Einsichtnahme in diese, um eventuelle Verstöße gegen Art. 10 GG festzustellen. Dieses Ersuchen lehnten die Antragsgegner in einer Sitzung der Antragstellerin vom 18. Juni 2015 ab.“
Laut dem Verfassungsgerichtsbeschluss wurde also seit 2002 durch den Bundesnachrichtendienst, in Kooperation mit dem U.S.-Militärgeheimdienst National Security Agency, die Telekommunikation am Internetknoten Frankfurt kopiert (hier im Detail).
Aber „bereits 2005“ (?!) fiel „BND-Leuten“ auf, dass von der Partnerfirma N.S.A. herüber gereichte Spionageziele „gegen deutsche Interessen verstießen“.
Und wieder acht Jahre später führt dann der B.N.D. eine „interne Untersuchung“ durch.
Im Klartext: Ein parlamentarische Kontrolle der durchgeführten Massenüberwachung war nicht vorhanden, nicht einmal eine Regierungskontrolle, nicht einmal eine Kontrolle durch den B.N.D. selbst. Effektiv herrschte Willkür. Der US-Militärgeheimdienst N.S.A., die U.S.-Regierung, sowie eine unbekannte Anzahl weiterer Tauschpartner weltweit (Regierungen, Konsortien, Spione, etc), bekamen von Einzelpersonen und / oder Gruppen im B.N.D. jedwede Daten, die nicht nur am größten Internetknoten des Planeten in Frankfurt, sondern überall auf deutschem Boden direkt bei den Providern „abgeleitet“, also rüberkopiert wurden: Emails, Finanzdaten, Ortsdaten, Privates, Geschäftliches, Fotos, Tonaufnahmen, Ideen, Emotionales, Geheimnisse, was auch immer über das Internet transportiert wurde und nicht effektiv verschlüsselt war.
Jeder Edward Snowden auf eigene Rechnung konnte mit der nach § 27 TKÜV vorgeschriebenen „vollständigen Kopie der Telekommunikation“ von Milliarden von Menschen am größten Knotenpunkt des Weltinformationsnetzes in Frankfurt machen was er wollte, so er nur über die entsprechenden Zugangsmöglichkeiten zur installierten Spionage-Infrastruktur des Bundesnachrichtendienstes bei den Providern hatte, „die nur von hierzu besonders ermächtigten Bediensteten des Bundesnachrichtendienstes eingestellt und gewartet werden“ dürfen (§ 27 TKÜV).
Und im Schlepptau des B.N.D. holten sich auch die Datenhändler und Tauschbörsianern im Inland ihren Anteil von der Beute, über immer neue Terrorgesetze zwecks „verbesserten Datenaustausch“ mit dem B.N.D.: vorneweg das 2008 zur Geheimpolizei transformierte Bundeskriminalamt, dicht gefolgt vom Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz, mit allerlei Beifang im Schlepptau wie „Contractors“, „Detekteien“, angeheuerte „Sicherheitsfirmen“, gern aus dem Abend-Aus-Inland oder gleich im Orbit der Interpreten.
Und heute, Ende des Jahres 2016, bekommen nicht einmal die vom Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages gewählte G 10-Kommission oder der schließlich in 2014 vom Bundestag installierte „Untersuchungsausschuss“ einer seit Jahrzehnten wertlosen und / oder in 2002 selbst noch an der Regierung sitzenden „Opposition“ Einblick in Spionageziele („Selektoren“) des B.N.D.
Noch schlimmer: G 10-Kommision und „Opposition“ wollen gar keine Einsichtnahme in die tatsächlichen Spionageziele des B.N.D. im Inland. Stattdessen wollen sie Einsichtnahme in eine Liste von Spionagezielen („Selektorenliste“), die nach Angaben des B.N.D. diesem von der N.S.A. vorgeschlagen wurde, aber die der B.N.D. angeblich abgelehnt hat (hier im Detail).
Werte Geschworene am Gerichtshof der Öffentlichen Meinung: wie nennen Sie so etwas? Und warum redet mit Ihnen darüber keiner außer uns?
(…)
nachfolgender Artikel der Serie:
03.01.2017 Terror-Thomas vorgelesen: Massenmord in Berlin für den „Starken Staat“ benutzen