Die Warnungen von Verfassungsrichtern vor dem „Notstandsgesetze“-Urteil von 1970.
Artikelserie (1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9) zu den Verfassungsgerichtsbeschlüssen 2 BvE 5/15 (zur Nichtannahme der Verfassungsklage der G 10-Kommission auf Einsicht in die „N.S.A.-Selektorenliste“) und 2 BvE 2/15 (zur Geheimhaltung der „Selektorenliste“ auch vor dem „Untersuchungsausschuss“ von Bundesnachrichtendienst und National Security Agency). Und zu deren Vorgeschichte und Folgen.
Wie zuvor von uns dokumentiert, hob im Sommer 1968 das „siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes“ („Notstandsgesetze“) die Gewaltenteilung bezüglich des Brief- Post- und Fernmeldegeheimnisses auf und schrieb zudem in das Grundgesetz ein Recht des Staates, den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern die Verletzung ihres Brief- Post- und Fernmeldegeheimnisses durch den Staat nicht einmal mitzuteilen.
Über nachfolgend eingereichte Verfassungsklagen gegen dieses „siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes“ vom 24. Juni 1968, sowie gegen das anschließend von „S.P.D.“, „C.D.U.“ und „C.S.U.“ ebenfalls beschlossene ausführende erste Artikel 10-Gesetz vom 13. August 1968, entschied das westdeutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe am 12. Dezember 1970 im Verfahren 2 BvF 1/69; 2 BvR 629/68; 2 BvR 308/69, auch „Abhörurteil“ genannt und heute zumeist zitiert als BVerfGE 30, 1. (Quelle 1, Quelle 2)
Mit 5 zu 3 Stimmen beurteilte der zweite Senat die „Notstandsgesetze“ als verfassungsgemäß. Aufgehoben wurde lediglich ein kleiner Abschnitt im ausführenden Artikel 10-Gesetz.
Für die „Notstandsgesetze“ der „großen Koalition“ stimmten die Richter Seuffert, Dr. Leibholz, Dr. Geiger, Dr. Kutscher und Dr. Rinck.
Dagegen stimmten die Richter Geller, Dr. v.Schlabrendorff und Dr. Rupp. Hier Auszüge ihrer abweichenden Meinung zum Urteil vom 15. Dezember 1970 (der Link zu den „Großer Lauschangriff“ genannten Verfassungsänderungen der „großen Koalition“ dreißig Jahre später in 1998, wiederum Grundlage für das B.K.A.-Gesetz der „großen Koalition“ in 2008, wurde hinzugefügt):
„Wir können dem Urteil vom 15. Dezember 1970 nicht zustimmen. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der Fassung des Siebzehnten Ergänzungsgesetzes ist mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar und daher nichtig.
1. Das verfassungsändernde Gesetz kann bei der Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit nicht – wie im Urteil vom 15. Dezember 1970 – nach Grundsätzen ausgelegt werden, die für eine Auslegung von Verfassungsnormen gelten (BVerfGE 19, 206 [220]); denn es fragt sich ja gerade, ob Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG eine gültige Verfassungsnorm ist. Für diese Prüfung am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG ist maßgebend, wie die verfassungsändernde Vorschrift nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck verstanden werden muß. Es ergibt sich dabei, daß sie der im Urteil vorgenommenen „grundgesetzkonformen“ Auslegung nicht zugänglich ist.
a) Nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG soll der einfache Gesetzgeber unter gewissen Voraussetzungen bestimmen können, daß Überwachungsmaßnahmen dem Betroffenen nicht mitgeteilt werden. Der Wortlaut ist eindeutig. Es heißt, ihn in sein Gegenteil verkehren, wenn man annehmen wollte, daß eine nachträgliche Mitteilung jedenfalls nicht ganz ausgeschlossen werden darf.
Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dient dem individuellen Rechtsschutz. Sie gewährleistet, daß jeder durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten Verletzte ein Gericht anrufen kann. Das Wesentliche an dieser verfassungsrechtlichen Regelung liegt darin, daß der Rechtsschutz durch ein sachlich und persönlich unabhängiges, von Exekutive und Legislative getrenntes, also neutrales Organ gewährt wird, das bestimmten Kautelen (z.B. ordnungsmäßige Besetzung) unterliegt und selbstverständlich nur nach Anhörung des Betroffenen entscheiden kann. Wenn nun auf Grund der verfassungsändernden Bestimmung „an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane“ tritt, so wird das eigentliche Rechtsschutzsystem ersetzt. Wenn die Bestimmung überhaupt einen Sinn haben soll, so muß sich dieses Ersatz-System von dem normalen „Rechtsweg“ unterscheiden. Dies kann nur bedeuten, daß es nicht die Garantien der Unabhängigkeit und Neutralität zu haben und nicht unter dem Zwang eines bestimmten Verfahrens zu stehen braucht. Dieser Unterschied wird noch dadurch ins rechte Licht gerückt, daß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG auch die Geheimhaltung der Überwachungsmaßnahme ermöglicht.
Im übrigen ist der verfassungsändernden Vorschrift auch keine greifbare Einschränkung des Kreises derjenigen, die überwacht werden dürfen, zu entnehmen. Die Beschränkung kann ganz allgemein angeordnet werden, wann immer es dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dient. Es kann durchaus zweckmäßig erscheinen, den eigentlichen Gefahrenpunkt in der Weise einzukreisen, daß zunächst ein weiter Bereich unter Kontrolle gestellt wird.
Es ist daher ausgeschlossen, Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG restriktiv dahin zu interpretieren, daß er zwingend eine Regelung vorschreibt, nach der das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nur in Fällen eines konkreten Verdachts beschränkt werden darf. Seinem Sinn nach schließt er auch eine ausgedehnte Beobachtungsaktion, bei der versuchsweise zahlreiche Stellen überwacht werden, nicht aus.
b) Die dem Urteil zugrunde liegende Auslegung ist auch nicht in Einklang zu bringen mit dem Zweck der Verfassungsänderung, der sich eindeutig aus der Entstehungsgeschichte ergibt.
(…)
Wenn von der Möglichkeit, Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis geheim zu halten, Gebrauch gemacht wird, so ist praktisch der Rechtsweg ausgeschlossen; der Betroffene kann ihn nicht beschreiten, weil er nicht weiß, was vorgeht. Dementsprechend war von Anfang an auch die Möglichkeit des Ausschlusses des Rechtsweges vorgesehen. Der Regierungsentwurf der 4. Wahlperiode wollte die Regelung davon abhängig machen, daß die Beschränkung durch einen Richter angeordnet oder bestätigt würde. Dieser Plan wurde indessen in dem letzten Regierungsentwurf fallen gelassen, einmal weil keinesfalls das rechtliche Gehör gewährt werden könnte und zum anderen, weil der Richter „im Hinblick auf die zwangsläufig ziemlich weite Formulierung der Zwecke, die eine nicht anfechtbare Überwachung der Betroffenen rechtfertigen sollten“, zu einer Entscheidung genötigt würde, „die nahezu außerhalb seiner berufstypischen Funktion, Sachverhalte an rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu messen, gelegen haben würde“ (amtliche Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes, BTDrucks. V/1879 S. 18).
Bei den Beratungen dieses Entwurfs und des gleichzeitig eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Art. 10 GG wurde als dann immer wieder betont, daß an die Stelle des Rechtsweges die „parlamentarische Kontrolle“, „der politische Weg der Kontrolle“ treten müsse. In der 1. Lesung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz wies der damalige Bundesminister des Innern, Lücke, darauf hin, daß der für die Anordnung zuständige Bundesminister einer besonderen parlamentarischen Kontrolle unterliege und neben der periodischen Berichterstattung an das politische Gremium monatlich auch noch der von dem Gremium bestellten „dreiköpfigen parlamentarischen Kommission“ berichten müsse. Der Abgeordnete Hirsch hielt es für richtig
`diese jetzt gewählte politische Lösung, nämlich die Kontrolle durch einen verantwortlichen Minister und durch die beiden vorgesehenen politischen Gremien, einer Prüfung durch den Richter vorzuziehen“; es handle sich um eine politische und nicht um eine richterliche Entscheidung.` (StenBer. über die 117. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29. Juni 1967 S. 5862 und 5882 D)
Später kam diese Auffassung dadurch zum Ausdruck, daß der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Dr. Reischl, erklärte, der Ersatzrechtsweg müsse der „Weg zu einem politischen Organ“ sein, „weil es sich um politische Fragen handelt“ (a.a.O. S. 9322 B). Auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Dr. Wilhelmi, erklärte, die Gerichte wären bei einer Nachprüfung von Überwachungsmaßnahmen völlig überfordert, da es sich um politische Fragen handle, die von Politikern entschieden werden müßten. Und dementsprechend war immer von der „Nachprüfung durch Organe und Hilfsorgane der Volksvertretung“ die Rede (a.a.O. S. 9320 C f; Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses – BTDrucks. V/2873 S. 4).
c) Nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck gestattet Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mithin, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu Zwecken des Verfassungs- und Staatsschutzes in einer Weise zu beschränken, die das heimliche, dem Betroffenen auch im nachhinein geheim bleibende und von einem Gericht nicht nachzuprüfende Abhören und Kontrollieren von Telefongesprächen, Fernschreiben, Telegrammen und Briefen ermöglicht.Der Kreis der Betroffenen ist unbegrenzt und nicht auf „Verdächtige“ beschränkt.Der Charakter der der „parlamentarischen Kontrolle“ dienenden Organe und Hilfsorgane bleibt völlig unbestimmt; sie können vom Gesetzgeber als politische Gremien oder auch als abhängige Verwaltungskörper ausgestaltet werden.
Die Auslegung, die Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG im Urteil findet, gibt daher dem Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG einen anderen Sinn. Sie engt ihn ein und verändert seinen normativen Inhalt. Dies zu tun, ist aber ausschließlich Sache des Gesetzgebers (BVerfGE 8, 71 [78 f.]; 9, 83 [87]).
Daß das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz möglicherweise den weiten Spielraum der ermächtigenden Verfassungsnorm nicht ausgeschöpft hat, ist nicht von Belang. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zwingt nicht zu einer entsprechenden Regelung. Der Gesetzgeber kann es bei dem Zustand belassen, der der bisherigen Verfassungslage entspricht. Er kann von ihm auch in den verschiedensten Variationen abweichen. Für die Prüfung der Frage, ob die Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässig ist, ist Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nur im ganzen Ausmaß der Möglichkeiten, die er dem einfachen Gesetzgeber einräumt, maßgebend.
2. In der zu 1) dargelegten Auslegung ist die Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig.
a) Art. 79 Abs. 3 GG erklärt bestimmte Grundsätze der Verfassung für unantastbar. Das Grundgesetz kennt also – anders als die Weimarer Reichsverfassung und die Verfassung des Kaiserreichs – Schranken der Verfassungsänderung. Eine solche gewichtige und in ihren Konsequenzen weittragende Ausnahmevorschrift darf sicherlich nicht extensiv ausgelegt werden. Aber es heißt ihre Bedeutung völlig verkennen, wenn man ihren Sinn vornehmlich darin sehen wollte, zu verhindern, daß der formallegalistische Weg eines verfassungsändernden Gesetzes zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht wird. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ein „Ermächtigungsgesetz“ wie das von 1933 unzulässig wäre. Art. 79 Abs. 3 GG bedeutet mehr: Gewisse Grundentscheidungen des Grundgesetzgebers werden für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes – ohne Vorwegnahme einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung – für unverbrüchlich erklärt. Diese vor einer Änderung zu schützenden Grundentscheidungen sind nach Art. 79 Abs. 3 GG einmal die Entscheidung für das föderalistische Prinzip und zum anderen die in den Artikeln 1 und 20 GG sich manifestierende Entscheidung. Wie weit oder wie eng auch immer man den Bereich der in Art. 1 GG und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze ziehen mag, jedenfalls gehören diejenigen Grundsätze dazu, die dem Grundgesetz das ihm eigene Gepräge geben. Die beiden Normen sind die Eckpfeiler der grundgesetzlichen Ordnung.
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört Art. 1 GG zu den „tragenden Konstitutionsprinzipien“, die alle Bestimmungen des Grundgesetzes durchdringen. Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an (BVerfGE 6, 32 [36]; 12, 45 [53]). Nun muß man sich bei der Beantwortung der Frage, was „Menschenwürde“ bedeute, hüten, das pathetische Wort ausschließlich in seinem höchsten Sinn zu verstehen, etwa indem man davon ausgeht, daß die Menschenwürde nur dann verletzt ist, wenn „die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht“, „Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ‚verächtliche Behandlung'“ ist. Tut man dies dennoch, so reduziert man Art. 79 Abs. 3 GG auf ein Verbot der Wiedereinführung z.B. der Folter, des Schandpfahls und der Methoden des Dritten Reichs. Eine solche Einschränkung wird indessen der Konzeption und dem Geist des Grundgesetzes nicht gerecht. Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 GG hat einen wesentlich konkreteren Inhalt. Das Grundgesetz erkennt dadurch, daß es die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung stellt, ihren Eigenwert, ihre Eigenständigkeit an. Alle Staatsgewalt hat den Menschen in seinem Eigenwert, seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen. Er darf nicht „unpersönlich“, nicht wie ein Gegenstand behandelt werden, auch wenn es nicht aus Mißachtung des Personenwertes, sondern in „guter Absicht“ geschieht. Der Erste Senat dieses Gerichts hat dies dahin formuliert, es widerspreche der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen (BVerfGE 27, 1 [6]; vgl. auch BVerfGE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]; 9, 89 [95]). Damit wird keineswegs lediglich die Richtung angedeutet, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Es ist ein in Art. 1 GG wurzelnder Grundsatz, der unmittelbar Maßstäbe setzt.
Die Frage, ob in Art. 20 GG, auf den sich Art. 79 Abs. 3 gleichfalls bezieht, das „Rechtsstaatsprinzip“ als solches oder nur ganz bestimmte Grundsätze dieses Prinzips „niedergelegt“ sind, bedarf keiner Erörterung; sie ist in dem hier. wesentlichen Punkt theoretischer Natur. Jedenfalls enthält Art. 20 GG ausdrücklich den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Dreiteilung der Gewalten; beides sind rechtsstaatliche Prinzipien. Schon aus ihnen ergibt sich, daß die Verfassung in ihrer Wertordnung dem Menschen nicht nur einen bevorzugten Platz einräumt, sondern ihm auch Schutz gewährt. In der Tat wären die Freiheit und die verbürgten Rechte des Einzelnen ohne einen verfassungsrechtlich gesicherten wirksamen Rechtsschutz wesenlos. Der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit bindet die Organe der Staatsgewalt an die verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Recht, und bietet damit einen objektiven Schutz. Dem Bürger muß es, wenn der Schutz wirksam sein soll, darüber hinaus aber auch möglich sein, sich selbst gegen den Eingriff der Staatsgewalt zu wehren und ihn auf seine Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen. Dies wird durch das nach Art. 20 Abs. 2 GG von Legislative und Exekutive getrennte Organ der Rechtsprechung gewährleistet; der Gewaltenteilungsgrundsatz, dessen Sinn in der wechselseitigen Begrenzung und Kontrolle öffentlicher Macht liegt, kommt damit auch dem Einzelnen zugute. Schon Art. 20 Abs. 2 GG enthält infolgedessen das rechtsstaatliche Prinzip individuellen Rechtsschutzes, das in Art. 19 Abs. 4 GG a.F. konkretisiert ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt von „der rechtsstaatlichen Forderung nach möglichst lückenlosem gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt“ gesprochen (z.B. BVerfGE 8, 274 [326]). Das kann aber nicht dahin verstanden werden, ein möglichst lückenloser Rechtsschutz brauche nicht gewährt zu werden, wenn dies – aus welchen Gründen auch immer – unmöglich erscheine. Daß der Rechtsschutz möglichst lückenlos sein soll, bedeutet nicht eine Relativierung, es ist vielmehr ein Postulat.
Auf Grund der vorstehenden Erwägungen kommen wir zu der folgenden Überzeugung: Zu „den in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen“ gehören jedenfalls einerseits der in Art. 1 GG wurzelnde Grundsatz, daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt des Staates gemacht, daß über sein Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf, und andererseits das sich aus Art. 20 GG ergebende rechtsstaatliche Gebot möglichst lückenlosen individuellen Rechtsschutzes. Diese beiden Grundsätze enthalten die Grundentscheidung des Grundgesetzgebers, die wesentlich das Bild des Rechtsstaates, wie ihn das Grundgesetz versteht, bestimmen und der Verfassungsordnung ihr besonderes Gepräge geben. Eben diese konstituierenden Elemente sollen nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich sein.
c) Durch die Verfassungsänderung werden die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze „berührt“.
Nach Wortlaut und Sinn erfordert die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG nicht, daß die oder einer der Grundsätze vollständig aufgehoben oder „prinzipiell preisgegeben“ werden. Das Wort „berührt“ besagt weniger. Es genügt schon, wenn in einem Teilbereich der Freiheitssphäre des Einzelnen die sich aus Art. 1 und 20 GG ergebenden Grundsätze ganz oder zum Teil außer Acht gelassen werden. Nur dies scheint uns der Bedeutung, die Art. 79 Abs. 3 GG im System des Grundgesetzes hat, zu entsprechen. Die konstituierenden Elemente sollen „unberührt“ bleiben. Sie sollen auch vor dem allmählichen Zerfallsprozeß geschützt werden, der sich entwickeln könnte, wenn den Grundsätzen nur „im allgemeinen Rechnung getragen“ werden müßte. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Grundgesetzgeber in Art. 79 Abs. 3 GG eine andere, und zwar substantiell engere Formulierung als in Art. 19 Abs. 2 GG gewählt hat.
Der nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mögliche heimliche Eingriff in die Privatsphäre des Bürgers unter Ausschluß des Rechtsweges trifft nicht nur Verfassungsfeinde und Agenten, sondern gleichfalls Unverdächtige und persönlich Unbeteiligte. Auch ihr Telefon kann abgehört, ihre Briefe können geöffnet werden, ohne daß sie jemals etwas davon erfahren und ohne daß sie imstande sind, sich zu rechtfertigen oder – was für die Betroffenen von äußerster Wichtigkeit sein kann – sich aus einer unerwünschten Verstrickung zu lösen. Mit dieser Behandlung aber wird über das Recht des Einzelnen auf Achtung des privaten Bereichs „kurzerhand von Obrigkeits wegen“ verfügt, der Bürger zum Objekt staatlicher Gewalt gemacht. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Mensch sei nicht selten Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen müsse. Daß der Bürger der Rechtsordnung unterworfen ist, bedarf keiner Hervorhebung; er wird damit aber keineswegs zum Objekt der Staatsgewalt, sondern bleibt lebendiges Glied der Rechtsgemeinschaft.
Die praktischen Beispiele, die das Urteil erwähnt, besagen schon deshalb nichts, weil solche Maßnahmen entweder nicht hinter dem Rücken des Betroffenen vorgenommen werden (etwa die ärztliche Meldung eines Kranken, dem mitgeteilt wird, daß er an einer ansteckenden Krankheit leidet) oder die geschützte Privatsphäre nicht tangieren (etwa beim Abhören des privaten Funkverkehrs, der sozusagen in der Öffentlichkeit der Atmosphäre stattfindet). Vor allem aber kann sich der Bürger in all diesen Fällen, sobald in seinen privaten Bereich eingegriffen wird, zur Wehr setzen; der Rechtsweg steht ihm offen. Der besondere Charakter der nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG möglichen Regelung tritt im übrigen durch nichts deutlicher in Erscheinung als dadurch, daß eine Änderung des Grundgesetzes für erforderlich gehalten wurde.
Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG berührt aber auch die sich aus Art. 20 GG ergebende rechtsstaatliche Forderung nach individuellem Rechtsschutz. Daß der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dieser Forderung noch nicht genügt, ist bereits oben dargelegt. Die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorgesehenen Organe erfüllen schon deshalb nicht die Voraussetzungen, die die Gewährung individuellen Rechtsschutzes erfordert, weil die Vorschrift nicht zwingend vorschreibt, daß die Organe unabhängig und frei von Weisungen sein müssen. Die Voraussetzungen wären aber selbst dann nicht gegeben, wenn man davon ausginge, daß es sich um „vom Parlament bestellte oder gebildete unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive“ handle. Derartige Institutionen dienen – wie etwa herkömmlicherweise die aus gewählten Mitgliedern bestehenden sog. Beschlußausschüsse in der kommunalen Selbstverwaltung – der Selbstkontrolle der Verwaltung, gewähren jedoch keinen individuellen Rechtsschutz und werden übrigens allgemein als Verwaltungsorgane angesehen. Die Gewährung eines individuellen Rechtsschutzes ist im System der Gewaltenteilung eine Funktion der Rechtsprechung, da sie dem Schutz gegen Eingriffe der beiden anderen Gewalten dient. Die Rechtsschutzorgane gehören daher in den Funktionsbereich der Rechtsprechung. Ob sie dem traditionellen Gerichtstyp entsprechen müssen, mag dahinstehen. Jedenfalls ist wesentlich, daß sie auch die Garantien der Neutralität erfüllen, was eine Trennung von Legislative und Exekutive bedingt, und daß sie in einem geordneten Verfahren entscheiden. Dies bedeutet vor allem, daß der Betroffene an dem Verfahren beteiligt wird. Es sollte nicht mehr besonders betont werden müssen, daß ein Geheimverfahren, wie es in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zugelassen ist, also ein Verfahren, in dem der Betroffene nicht gehört wird und sich nicht verteidigen kann, keinen Rechtsschutz bietet.
3. In den parlamentarischen Verhandlungen und auch in den Äußerungen des Bundesministers des Innern zu den Verfassungsbeschwerden wurde die Verfassungsänderung zu Art. 10 GG mit folgender Erwägung gerechtfertigt: Sie müsse die Grundlage für eine Regelung schaffen, die erforderlich sei, um a) die Ablösung der Vorbehaltsrechte der Drei Westmächte herbeizuführen, b) den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes wirksam gewährleisten zu können.
a) In den parlamentarischen Beratungen über Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ist von keiner Seite eindeutig behauptet worden, daß die Drei Westmächte die Aufhebung ihrer Vorbehaltsrechte ausdrücklich von dieser bestimmten Verfassungsänderung abhängig gemacht haben. Hierauf braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden. Denn selbst eine ausdrückliche und präzise Forderung der Drei Westmächte könnte die verfassungswidrige Grundgesetzänderung nicht rechtfertigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich verschiedentlich über Fragen, die mit der Überleitung des Besatzungszustandes in den vollstaatlichen Status der Bundesrepublik zusammenhingen, ausgesprochen (z.B. BVerfGE 4, 157; 9, 63; 14, 1; 15, 337). Es hat dabei Regelungen hingenommen, die „näher an das Grundgesetz“ heranführen oder nur eine zeitlich begrenzte und vorübergehende Abweichung unter der Voraussetzung einer Annäherung an den voll verfassungsmäßigen Zustand bedeuten. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß der Schritt vom verfassungsfremden Zustand der Postkontrolle durch Dienststellen fremder Mächte zu einer verfassungswidrigen Regelung „keinen Schritt näher an das Grundgesetz heranführt“ und daß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG kein Provisorium ist. Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht schon in der ersten Entscheidung (Band 4, 157 [169 f.]) betont, daß die Grenzen dort liegen, „wo unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, BVerfGE 30, 1 (44)BVerfGE 30, 1 (45)also etwa die in Art. 79 Abs. 3 oder 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze“. Wir haben dem nichts hinzuzufügen.
b) In dem Urteil wird auf die besondere Bedeutung der grundgesetzlichen Entscheidung für die „streitbare Demokratie“ hingewiesen, die einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung und den Bestand des Staates nicht hinnimmt. Niemand wird in Zweifel ziehen, daß der Bestand der Bundesrepublik und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung überragende Rechtsgüter darstellen, die es zu schützen und zu verteidigen gilt und denen sich notfalls Freiheitsrechte des Einzelnen unterordnen müssen.
Im Falle eines kriegerischen Angriffs und des damit eintretenden – wenn auch möglicherweise länger dauernden, so doch einmal endenden – Ausnahmezustandes werden die Freiheitsrechte des Bürgers vorübergehend sehr weitgehend beschränkt werden müssen und dürfen. Anders liegen die Dinge jedoch, wenn es sich um die Maßnahmen handelt, die in der Normallage im „juristischen Alltag“ (Dürig) zum Schutz der staatlichen Ordnung etwa in der Verbrechensbekämpfung oder in der Abwehr subversiver Tätigkeit von Agenten notwendig erscheinen. Hier sind der Einschränkung der Individualrechte Grenzen gesetzt. Denn die „streitbare Demokratie“ verteidigt die bestehende rechtsstaatliche Verfassungsordnung, deren integraler Bestandteil die Grundrechte sind. Der Gesetzgeber, auch der verfassungsändernde, hat daher bei Regelung der Gefahrenabwehr – etwa im Bereich der Verbrechensbekämpfung oder der im Wesen nicht anders gearteten Tätigkeit der Geheimdienste – die Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen unter Berücksichtigung des Wertes, den das Grundgesetz den Individualrechten beimißt. Die „Staatsraison“ ist kein unbedingt vorrangiger Wert. Verkennt der Gesetzgeber die Schranken, so kehrt die „streitbare Demokratie“ sich gegen sich selbst.
Die Schranken, die nicht durchbrochen werden können, sind dieselben wie in Art. 79 Abs. 3 GG. Der unabänderliche Bestand der Verfassungsordnung darf – abgesehen von dem AusnahmeBVerfGE 30, 1 (45)BVerfGE 30, 1 (46)fall des Notstandes – nicht berührt werden. Wie in den Artikeln 9 Abs. 2, 18 und 21 GG manifestiert sich in Art. 79 Abs. 3 GG die „streitbare Demokratie“. Auch diese Vorschrift ist – worauf Dürig in seinem Gutachten mit Recht hinweist – eine Norm des „Verfassungsschutzes“. Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt.
Der Spielraum des Gesetzgebers zur Regelung der Materie ist demzufolge insoweit begrenzt, als er den individuellen Rechtsschutz nicht ausschließen kann. Den besonderen Verhältnissen, unter denen sich angeblich die Tätigkeit der Geheimdienste abspielt, könnte durch besondere Vorkehrungen Rechnung getragen werden, etwa durch die Schaffung besonderer – von der Exekutive getrennter – Rechtsschutzorgane, also besonderer Gerichte, deren Verfahren trotz der unverzichtbaren Beteiligung des Betroffenen auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung abzustellen wäre. Ob eine solche Regelung überhaupt eine Verfassungsänderung erfordert, kann dahingestellt bleiben.
Die Verfassungsänderung ist „im Hinblick auf die zwangsläufig ziemlich weite Formulierung der Zwecke, die eine nicht anfechtbare Überwachung der Betroffenen rechtfertigen sollten“ (vgl. die zu 1 b zitierte Begründung des letzten Regierungsentwurfs), um so bedenklicher, als der darin verwirklichte Gedanke im Wege der Verfassungsänderung auch in andere Bereiche übertragen werden kann. So könnte in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der einfache Gesetzgeber ermächtigt werden, in Abänderung des § 136 a StPO sog. „verschärfte“ Vernehmungen zuzulassen, wenn dies dem Schutz der Verfassung oder des Bestandes des Staates dienlich wäre. So könnte Art. 13 GG dahin erweitert werden, daß unter bestimmten Voraussetzungen Haussuchungen ohne Zuziehung des Wohnungsinhabers und dritter Personen vorgenommen und dabei auch Geheimmikrofone unter Ausschluß des Rechtsweges angebracht werden dürften. Schließlich könnte man sogar daran denken, Art. 104 GG dahin einzuschränken, daß unter gewissen Voraussetzungen an die Stelle der richterlichen Anordnung und Kontrolle eine Kontrolle durch parlamentarische Gremien tritt.
Die Gefahr einer solchen Entwicklung mag, in Anbetracht der Erfahrungen seit 1949, fernliegen. Man mag davon ausgehen, daß in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie alle Normen „korrekt und fair“ angewendet und die Geheimdienste entsprechend kontrolliert werden. Ob dies aber für alle Zukunft gesichert ist, und ob der mit der Verfassungsänderung vollzogene erste Schritt auf dem bequemen Weg der Lockerung der bestehenden Bindungen nicht Folgen nach sich zieht, vermag niemand vorauszusehen. Deshalb sind wir der Auffassung, daß die Sperrvorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG – zwar nicht extensiv, aber – streng und unnachgiebig ausgelegt und angewandt werden sollte. Sie ist nicht zuletzt dazu bestimmt, schon den Anfängen zu wehren.“
Weitere Artikel zur Sache folgen. Mit innerer Sicherheit.
nachfolgender Artikel der Serie:
16.03.2017 BGH folgt BVerfG: Untersuchungsausschuss und Opposition bei mehr als Dreiviertelmehrheit der Regierung im Bundestag rechtlos