BGH folgt BVerfG: Untersuchungsausschuss und Opposition bei mehr als Dreiviertelmehrheit der Regierung im Bundestag rechtlos

Artikelserie (1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10) zu den Verfassungsgerichtsbeschlüssen 2 BvE 5/15 (zur Nichtannahme der Verfassungsklage der G 10-Kommission auf Einsicht in die „N.S.A.-Selektorenliste“) und 2 BvE 2/15 (zur Geheimhaltung der „Selektorenliste“ auch vor dem „Untersuchungsausschuss“ von Bundesnachrichtendienst und National Security Agency). Und zu deren Vorgeschichte und Folgen.

Während der Staat weiter die Republik durch Uminterpretation der Verfassung zersetzt, leiden Öffentlichkeit und Bürgerrechtler offensichtlich unter einer sie gefährdenden Wahrnehmungsstörung.

Wie wir in dieser Artikelserie bereits am 19. Januar dokumentierten, interpretierten die nach Expertenmeinung verfassungswidrig gewählten Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle, Peter M. Huber, Monika Hermanns, Sibylle Kessal-Wulf, Peter Müller, Doris König, Ulrich Maidowski in ihrem am 15. November veröffentlichten Beschluss 2 BvE 2/15 aus Artikel 44 Grundgesetz eine „Viertelminderheit als organisatorisch verfestigte selbstständige Teilgliederung des Deutschen Bundestages mit eigenen verfassungsrechtlichen Rechten“.

Konkret hieß das, laut der Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts: bei mehr als einer Dreiviertelmehrheit der Regierung im Parlament ist der verbleibende Rest keine Opposition im Sinne von Artikel 44 Grundgesetz und hat, auch im Falle der mit Billigung der Regierungsmehrheit erfolgten Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, in diesem kein Recht auf Akteneinsicht und Zeugenvernahme vor Ort (etwa in der Causa Edward Snowden).

Und das, so das Bundesverfassungsgericht, soll im Sinne des vier Jahre nach dem Faschismus in Kraft getretenen Grundgesetzes und des damaligen Verfassungsgebers sein.

Gestern veröffentlichte nun der Bundesgerichtshof seinen inhaltlich entsprechend nachfolgenden Beschluss 3 ARs 20/16. Auszug:

„Der Minderheit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses kommen im Verfahren nach § 17 Abs. 2 und 4 PUAG nur dann eigene Rechte zu, wenn sie entsprechend Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestags repräsentiert.“

Wie wir bereits in unserem Artikel vom 19. Januar dazu anmerkten, ist dies eine Interpretation der Verfassung. Artikel 44 Grundgesetz lautet wie folgt:

Artikel 44
(1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderlichen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden.
(2) Auf Beweiserhebungen finden die Vorschriften über den Strafprozeß sinngemäß Anwendung. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bleibt unberührt.
(3) Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet.
(4) Die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse sind der richterlichen Erörterung entzogen. In der Würdigung und Beurteilung des der Untersuchung zugrunde liegenden Sachverhaltes sind die Gerichte frei.

Der Bundestag hat also „auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen“. Und aus dieser Pflicht interpretierten die Verfassungsrichter das Recht der Regierung die Opposition und deren Minderheit in einem Untersuchungsausschuss – und damit faktisch diesen selbst – vollständig ignorieren zu dürfen, wenn diese kein Viertel der Abgeordneten im Bundestag stelle. Weil das im Sinne des Grundgesetzes sei.

Es ist nicht allein diese perfide Uminterpretation unserer Verfassung durch die Karlsruher Richter, die bei allen Demokraten größte Besorgnis auslösen muss. Es ist die kognitive Dissonanz zur Sache seitens der wie hypnotisiert wirkenden Öffentlichkeit, selbst bei solch wohlmeinenden KollegInnen von Netzpolitik.org. In ihrem Artikel zum BGH-Beschluss erwähnen diese nicht einmal den vorhergehenden Beschluss des Verfassungsgerichts.

Vielmehr erweckt Netzpolitik.org den Eindruck von der Materie überhaupt keine Ahnung zu haben und sich stattdessen mit großen Augen an den beiden Abgeordneten und Vertretern der „Opposition“ im „Untersuchungsausschuss“ festzuhalten, die seit Jahren bestenfalls vollständig versagt haben oder – wie wir seit Jahren dokumentieren – der Regierung selbst in die Hände spielen: Konstantin von Notz („Bündnis 90/Die Grünen“) und Martina Renner („Die Linke“).

Renner wagt es auch noch, nach bald vier vertanen Jahren Netzpolitik.org einen von der „S.P.D.“ zu erzählen. Diese hätte ja, und könnte ja, und ach und weh. Surreal!

Und was erzählt von Notz wieder, gegenüber Netzpolitik.org, zum Bundesgerichtshof und dessen Beschluss?

„Stattdessen beseitigt er die Minderheitenrechte von Grünen und Linken – der kompletten Opposition – bei der Beweiserhebung im Untersuchungsausschuss mit einem Federstreich.“

Das hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem am 15. November veröffentlichten Beschluss 2 BvE 2/15 bereits getan! Und der Jurist von Notz steht da und tut so, als wüsste er nicht dass in Karlsruhe seine eigene Klage abgelehnt wurde und mit welcher Begründung! Und Notzpolitik.org, oh Verzeihung, ich habe mich verschrieben, übernimmt diese Unverschämtheit auch noch! Unfassbar!

Stattdessen winkt die sogenannte „Opposition“ in der Länderkammer Bundesrat, in der sie 45 Stimmen von insgesamt 69 beeinflusst, unter extremen Geheuchel ein Polizeistaatsgesetz nach dem anderen durch und hofft, dass das nicht auffällt. Ebenso verzichten „Grüne“ und „Linke“ auf eine Verfassungsklage der von ihnen geführten Landesregierungen in Thüringen und Baden-Württemberg („abstrakte Normenkontrolle“) gegen die Bundesregierung. Das Bundesverfassungsgericht selbst bestätigte gegenüber Radio Utopie, dass Gegenstand einer Verfassungsklage einer Länderregierung gegen die Bundesregierung „Bundes- oder Landesrecht jeder Rangstufe“ sein können,  „also auch Rechtsverordnungen“ (wir berichteten).

Auch dazu, von allen populären Bürgerrechtlern, deren Organisationen, KongressteilnehmerInnen und Twitter-Follower-Kolonnen: nichts.

Es bleibt für unsere Leserinnen und Leser der erneute Hinweis: mit der Über-Dreiviertelmehrheit der Regierung ist es nach der Bundestagswahl im September vorbei. Und dann werden „Linke“ und „Grüne“, so sie wieder im Bundestag sind, keine weitere Chance haben sich auf ihr eigenes Nichtstun herausreden zu können. Und Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof nicht mehr auf eine angeblich verfassungsmäßige Regierungsdemokratie mit rechtloser „Opposition“.

Nachfolgender und abschließender Teil der Artikelserie:
15.06.2017 Als das Bundesverfassungsgericht Deutschland zur elektronischen Kolonie erklärte

Artikel zuletzt aktualisiert um 11.13 Uhr