Gideon Levy: Eine herzliche Entschuldigung an Haaretz-Leser
Anmerkung der Redaktion: Zwei israelische Staatsbürger – Gideon Levy, Buchautor und Kolumnist der israelischen Zeitung „Haaretz“ und Mitri Raheb, Pfarrer an der lutherianischen Kirche in Bethlehem – wurden im Januar 2016 in Stockholm mit dem Olof Palme-Preis für ihren Einsatz gegen Gewalt und für ein friedliches Miteinander in Israel geehrt.
Von Gideon Levy
Eine herzliche Entschuldigung an Haaretz-Leser
An alle beleidigten Leser, bei denen ich mich für die Einseitigkeit entschuldige. Wie konnte ich die Balance nicht zwischen dem Mörder und dem Gemordeten halten; dem Dieb und seinem Opfer, dem Besatzer und dem Besetzten?
Liebe Orna und lieber Moshe Gan-Zvi, ich war traurig, als ich am Dienstag in der hebräischen Edition von Haaretz las, dass ihr euch entschieden habt, euer Abonnement zu kündigen. Ich kenne euch nicht, aber ich werde euch als Leser vermissen. Als jemand, der teilweise mit verantwortlich für eure Entscheidung ist, da euer Artikel darauf hinweist, erlaube ich mir, mich zu entschuldigen. Zu entschuldigen, dass ich all die Jahre die Wahrheit schrieb. Ich sollte beachtet haben, dass diese Wahrheit für euch nicht angenehm war und ihr entsprechend handeltet.
Es war für euch nicht angenehm, die Theorie zu lesen, die von mir und Haaretz‘ Korrespondentin Amira Hass über die Besatzung geschrieben wurde. Ihr, die ihr im Rotary-Club Israel aktiv seid, die ihr aus der Geschäftswelt kommt, die ihr so stolz auf Eure Kinder seid und die Tatsache, dass sie in der Westbank leben. Euer Sohn wurde in der ELI-Vormilitär-Akademie ausgebildet und eure Enkelin ist stolz als letzten Namen Sheetrit zu haben. Ihr, die ihr mit euch selbst und mit euren Werten zufrieden seid, mit euren Kindern und eurer Moral, denkt nicht, ihr müsst unangenehme Dinge lesen. Ihr verdient es einfach nicht.
Tatsächlich, wie konnte ich all die Jahre verbracht haben und Artikel veröffentlichen, durch die sogar ihr zugegeben habt, berührt zu sein, ohne jemals – zu meiner Schande – diese palästinensischen Familien kontrolliert zu haben, wie sie mit ihrem Dilemma fertig werden? Wirklich, wie konnte das geschehen? Natürlich war es ihre eigene Schuld, aber ich gebe dem israelischen Militär die Schuld – wie konnte ich dies tun? Und wie konnte Amira Hass so einseitig sein, dass ihr die Perspektive fehlte, die erklären würde, wie ein Volk die Eliminierung eines andern Volkes einer demokratischen Gesellschaft vorzieht. Wirklich, wie konntest du das, Amira.
Ich vermute, Moshe, dass falls sie dich jahrelang in einen Käfig gesperrt hätten, dann wärst du weiter im Rotary-Klub und würdest dich weigern einen Kampf gegen eure Einkerkerung zu kämpfen. Ich vermute Orna, dass wenn ausländische Soldaten mitten in der Nacht in deine Wohnung kämen und deinen Moshe vor deinen Augen verhaften, ihn stoßen, ihn auf seine Knie zwingen, ihm seine Augen verbinden, ihn an seinen Händen fesseln und ihn vor deinen Kindern schlagen, die in Eli studieren und ihn dann packen und monatelang ohne Gerichtsverhandlung aus eurem Heim reissen – du würdest nach einer kreativen Führung für dein Volk suchen.
Ich vermute, dass ihr, die ihr aus der Geschäftswelt kommt, liebevoll jene akzeptiert, die euren Besitz konfiszieren und euch aus eurem eigenen Land vertreiben. Ich bin mir sicher, es würde euch nie passieren, dass ihr gegen jene kämpft, die euch in so vielen Jahren gefoltert haben.
Was können wir tun? Die Palästinenser sind anders als ihr, liebe Orna und Moshe. Sie wurden nicht in solch vornehmen Höhen geboren wie ihr. Sie sind menschliche Tiere, blutrünstig, geboren, um zu töten. Nicht alle von ihnen sind so moralisch wie ihr und eure Kinder von der Eli-Akademie. Ja, es gibt Leute, die für ihre Freiheit kämpfen. Da gibt es Leute, die gezwungen werden, Gewalt anzuwenden. Tatsächlich gab es fast keine Nation – einschließlich dem erwählten Volk (auf das ihr so stolz seid) – die nicht in dieser Weise gehandelt hat. Ihr gehört nicht nur dazu. Ihr seid die Feuersäule, die das Lager anführt, ihr seid die besten, die moralische Elite, ihr die religiösen Zionisten.
Ich entschuldige mich für die Einseitigkeit. Wie konnte ich nicht die Balance halten zwischen dem Mörder und dem Gemordeten, dem Dieb und seinem Opfer, dem Besatzer und dem Besetzten. Vergebt mir, dass ich es wage, eure Freude und Stolz herunter zu machen auf ein Land, in dem es Milch und Mobileye und Cherry-Tomaten gibt. Es gibt da so viele wunderbare Dinge in diesem Land und Haaretz – mit seiner „moralischen Schädigung“ wie ihr dies nennt, ruiniert die Partei. Wie konnte ich nicht sehen, dass ihr nicht die Wahrheit lesen wollt und ich das nicht berücksichtigte, als ich jede Woche aus den besetzten Gebieten kam, um das schreiben, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.
Doch jetzt ist es zu spät. Der Aufruf, Schokoladenaufstrich zu boykottieren, ist zu viel für euch; so habt Ihr euch entschieden Haaretz zu boykottieren. Von jetzt ab wird nur eine Zeitung auf dem Frühstückstisch liegen, die wöchentliche rechte Makor Rishon. Sie wird nicht darüber schreiben, wie IDF Soldaten fünf palästinensische Autofahrer vor drei Wochen mit Kugeln durchlöchert haben und ich bin sicher, euer Schabbat wird von jetzt ab vergnüglicher sein.
Gideon Levy, 20. April 2017
Übersetzung ins Deutsche von Ellen Rohlfs
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