Linientreues BVerfG: Streikverbot durch die Hintertür

Laut den Karlsruher Interpreten führt die Verfassungswidrigkeit von Teilen des Tarifeinheitsgesetzes „nur zur Feststellung seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz“, aber nicht zu dessen Verbot. Wohlgemerkt: nicht zum Verbot des Gesetzes.

Gleichwohl soll ein Verbot von Tarifverträgen und Streiks kleiner Gewerkschaften verfassungsgemäß sein.

Hinter diesem bizarren Winden im heutigen Mehrheitsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts und der Einschränkung von Artikel 9 Grundgesetz, steckt eine fast zehn Jahre alte Forderung aus dem Kapital, welche die Richter nun erfüllen.

Eine Analyse und Erinnerungsmaßnahme.

Das Bundesverfassungsgericht veröffentlichte heute Beschluss 1 BvR 1571/15. Durch dieses Verfassungsurteil bleibt das „Gesetz zur Tarifeinheit“ (Tarifeinheitsgesetz) in Kraft. Damit dürfen kleinere Gewerkschaften in Betrieben keine eigenständigen Tarifverträge abschließen und deren Streiks verboten werden. Artikel 9 der Verfassung, der die „Koalitionsfreiheit“ (und damit auch die Bildung von Gewerkschaften und das Streikrecht garantiert), wird damit interpretiert, faktisch eingeschränkt.

Der Beschluss erging in der Kernfrage mit 6 zu 2 Stimmen, sowie hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Übergangsregelung mit 5 zu 3 Stimmen. Für die Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes stimmten Ferdinand Kirchhof, Michael Eichberger, Wilhelm Schluckebier, Johannes Masing, Gabriele Britz und Yvonne Ott. Dagegen stimmten Andreas Paulus und Susanne Baer, welche ein Sondervotum abgaben.

Zum Tarifeinheitsgesetz hatte am 22. Mai 2015 der BundestagJa“ gesagt, gegen die Stimmen der „Opposition“ von „Bündnis 90/Die Grünen“. Am 10. Juni 2015 sagten diese dann als Teil der Länderregierungen, „von wegen machtlose Opposition“, zum Tarifeinheitsgesetz „Ja“ im Bundesrat.

Das Tarifeinheitsgesetz änderte das Tarifvertragsgesetz. Dort wurde u.a. ein neuer Passus § 4a eingefügt. Dessen Absatz 2 Satz 2 lautet :

„Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat.“

Diesen Passus, §4a Absatz 2 Satz 2 im neuen Tarifvertragsgesetz, befand das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss für verfassungswidrig – und ließ ihn in Kraft:

„Die teilweise Verfassungswidrigkeit des § 4a TVG führt nicht zu dessen Nichtigerklärung, sondern nur zur Feststellung seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz.“

Die relevanten Details des so kreativ interpretierten Grundrechts gaben die Verfassungsrichter wiederum zur Interpretation der untergordneten staatlichen Stellen wie Regierung, Parlament und Gerichten frei, was man durchaus mit „Abschuss“ übersetzen kann.

Entsprechend der von den „Verfassungshütern“ in Karlsruhe abgesegneten „Streikbremse“, sind die Arbeitenden in Betrieben insgesamt nun auf Gedeih und Verdeih und Verderb den mitgliederstärksten Gewerkschaften ausgeliefert. Deren Bosse sitzen oft genug in den Aufsichtsräten derjenigen Konzerne, deren Vorstände die Tarife „aushandeln“.

Die mitgliederschwächeren Gewerkschaften in Betrieben insgesamt, auch wenn sie z.B. 100 Prozent einer bestimten Berufsgruppe (wie Ingenieure, Telefonisten, Bürokraten, Anwälte, Sekretäre, andere Laufburschen, oder – surprise! – Lokomotivführer) innerhalb dieses Betriebes vertreten, können nun auch mit Segen des Verfassungsgerichts schlicht ignoriert und im Falle eines Streiks kriminalisiert und ihre Mitglieder vom Betrieb entlassen werden.

Den Arbeitenden bleibt nur die Wahl, die von der Gewerkschaft mit mehr Mitgliedern im Betrieb insgesamt „ausgehandelten“ Tarifverträge bzw Löhne und Bedingungen zu akzeptieren.

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (G.D.L.), Claus Weselsky, am 26. Januar 2017 nach einer zweitägigen Verhandlung zum Tarifeinheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht:

„Wenn jedoch nur noch die größere Gewerkschaft im Betrieb Tarifverträge schließen darf, dann ist die kleinere − und selbst wenn sie 100 Prozent ihres Berufsstandes organisiert hat − zum kollektiven Betteln verdammt. Das Tarifeinheitsgesetz zielt nicht nur auf den sehr guten Organisationsgrad von uns Berufsgewerkschaften ab, sie greift sogar unsere Existenz an“.

Der jetzige Beschluss des Bundesverfassungsgerichts folgt dem von „S.P.D.“, „Deutscher Gewerkschaftsbund“ und Kapital schon vor zehn Jahren geführten Putsch gegen das Streikrecht, explizit um eine Entstehung unabhängiger, tatsächlicher Gewerkschaften nach dem Vorbild der G.D.L. zu verhindern.

Im Zuge eines monatelangen, letztlich erfolgreichen Kampfes der Gewerkschaft um einen eigenständigen Tarifvertrag ihrer Mitglieder und Arbeitenden im Konzern Deutsche Bahn AG, hatte die G.D.L. schließlich am 2. November 2007 vor dem Sächsischen Landesarbeitsgericht in Chemnitz Recht bekommen – und das heisst Streikrecht. Jedenfalls hieß es das damals.

Nach diesem für seinen Konzern so unprofitablen Urteil startete der damalige Vorstandsvorsitzende der Bahn AG, Hartmut Mehdorn, einen sowohl hochnotpeinlichen, wie bezeichnenden Bettelbrief an die Ewige Kanzlerin. Enorm gestört darin, weiterhin erfolgreich vom Staat verschluckte Milliarden Euro Steuergelder wie bei „Stuttgart 21“ irgendwo ins Loch zu werfen und gleichzeitig den Arbeitenden im Konzern faire Löhne und Arbeitsbedingungen zu verweigern, schrieb Mehdorn also an Merkel: bitte, bitte, bitte, man möge doch endlich diese Lokomotivführer stoppen. Die würden ja einfach streiken, wenn sie was wollten, anstatt sich wie der Sapiens Transnet einem akkurat vor die Füße zu werfen und um diese herum bezeiten mal die Umlaufbahn zu wechseln. So ginge das doch nicht!

Auszug eines „Stern“-Artikels vom 3. November 2007 zum Bettelbrief Mehdorns an die Kanzlerin:

„Ziel müsse es sein, dass in einem Betrieb immer nur die Bestimmungen eines Tarifvertrages anwendbar sein sollen.

Genau dieser fast zehn Jahre alten Forderung aus dem Konzern Deutsche Bahn AG, aus dem Kapital heraus, folgte erst die Regierung, dann das Parlament, dann der Bundesrat und jetzt das Bundesverfassungsgericht. Alle ließen sie vorm Kapital die Hacken klacken.

Doch das war nicht alles. Wie weit Spezialdemokraten, pseudolinke Heuchler und der Staat insgesamt schon damals bereit waren auch und gerade gegen echte Gewerkschaften vorzugehen, begleitend von entsprechender Propaganda in den etablierten Medien, haben die Meisten heute natürlich vergessen.

Nach Mehdorns Bettelbrief an Merkel forderte im November 2007 der seinerzeitige wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Rainer Wend (heute bezeichenderweise Präsident der „Europäischen Bewegung Deutschland“), unbefristete Streiks wie die der Lokomotivführer – also die einzigen effektiven und ernstzunehmenden Streiks überhaupt – „vom Staat“ verbieten zu lassen.

Ein gespenstisches Detail in der damaligen Sitution, mit der gleichen Koalition an der Bundesregierung wie heute:

Bereits in der „Weihnachtspause“ der parlamentarischen Demokratie Ende 2006 hatte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble wieder einmal versucht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Schäubles Vorstellung: Artikel 87a Absatz 2 des Grundgesetzes so zu ändern, dass er den Einsatz der Bundeswehr im Inland im Falle „eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ erlaubt hätte.

Im Zuge der Kampagne von Kapital, Regierung, praktisch allen Parteien und etablierter Presse gegen die G.D.L., fiel uns bei Radio Utopie im Oktober 2007 auf, dass Artikel 9 Grundgesetz Streikende und Arbeitskämpfe nur vor Maßnahmen des Militärs nach Artikel 87a Absatz 4 ausdrücklich schützt.

Das hieß: über Schäubles anvisierte Verfassungsänderung hätte der Schutz von streikenden Arbeitern vor der Bundeswehr ausgehebelt werden können, wenn dieser Streik als ein „Angriff auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ interpretiert worden wäre.

Was wären die Folge einer entsprechenden Verfassungsänderung durch die Zwei-Drittel-Mehrheits-Koalitionäre bei einem unbefristeten und damit effektiven Streik im Bahnverkehr gewesen?

Die entsprechenden Stichworte der Funktionäre gab es bereits. Der damalige „S.P.D.“-Vorsitzende Kurt Beck im Oktober 2007 zur Forderung der Lokomotivführer-Gewerkschaft nach einem eigenständigen Tarifvertrag:

„Wenn das Schule macht, kann das im Chaos enden. Verhältnisse wie in Großbritannien dürfen wir in Deutschland nicht zulassen.“

Ein denkwürdiger Spruch, gerade aus der Schröder-Blair-Partei. Und gerade, wenn man auch an Anderes denkt, wie Kriegseinsätze, Inlandsspionage, und, und, und.

Der damalige Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee appellierte im November 2007 an die „große Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen“ (s.o.). Das Recht auf Streik müsse „in Relation gesetzt werden zum volkswirtschaftlichen Schaden, den der Arbeitskampf anrichte“.

Wohlgemerkt: damals unterstützten fast Zwei Drittel der Bevölkerung, 61 Prozent, die Allein gegen Alle in der „politischen Klasse“ des Kapitals kämpfende Gewerkschaft G.D.L. Und das selbst nach wochenlangem Streik.

Mit seinem heutigen Urteil gießt das Bundesverfassungsgericht also einen schon vor fast zehn Jahren von Kapital und Staat gefahrenen Angriff auf das Streikrecht in verfassungsrechtliche Interpretation.

Die von den Parteien über Jahrzehnte laut Expertenmeinung verfassungswidrig gewählten Verfassungsrichter folgen damit einer seit Jahren offenbar von unsichtbarer Hand vorgegebenen putschistischen Linie gegen das Grundgesetz und damit gegen die Republik insgesamt.

(…)

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