Krieg spielen im Einkaufszentrum
Autor: Martin Kirsch
Wie die Polizei in Anti-Terror-Übungen für den Ausnahmezustand probt
„Um 10.25 Uhr detonieren Feuerwerkskörper vor dem Hauptzugang neben der Buchhandlung. Streifenbeamte eilen vom Neumarkt herbei, sie streifen Schutzwesten über, betreten in kleineren Teams die Ladenpassage. Aus dem Innern sind Schreie zu hören, ungefähr 200 Kommissaranwärter der Fachhochschule mimen Kunden, Geiseln und Verletzte.“ (Kölner Stadtanzeiger zur Anti-Terror-Übung der Polizei in der Kölner Innenstadt)[1]
Bei dem beschriebenen Szenario handelt es sich um die größte Übung in der Geschichte der Polizei Köln. Bereits in den Morgenstunden des 25. Februar 2018, einem Sonntag, sperrten Polizist*innen diverse Straßen rund um ein Einkaufszentrum in der Innenstadt und errichteten Sichtschutzzäune. Bis zum Übungsbeginn am Vormittag füllen sich die umliegenden Parkplätze mit unzähligen Streifenwagen, Rettungs- und Feuerwehrfahrzeugen. Insgesamt kommen 500 Polizist*innen plus Rettungskräfte zusammen. In einem eigens dafür aufgebauten Zelt werden Übungswaffen- und Munition ausgegeben.
Die Neumarkt-Galerie öffnete in Absprache mit der Betreibergesellschaft ihre Türen für ein Rollenspiel der Polizei. Simuliert wird ein Anschlag im Inneren des Gebäudes mit 200 Polizeischüler*innen als Statist*innen – Einkaufspublikum, Verkaufspersonal und Anschlagsopfer. Die Rolle der Terrorist*innen übernehmen Polizeiausbilder*innen. Die dafür zusammengezogenen Streifenbeamt*innen und mehrere Spezialeinsatzkommandos sollten Attentäter*innen überwältigen, die sich in einem Einkaufszentrum verschanzt hatten und dort auf Unbeteiligte geschossen und Sprengsätze gezündet haben. Begutachtet wird das Treiben von rund 80 Beobachter*innen verschiedenster Polizeibehörden, der Feuerwehr und der Presse. Für den Fall, dass das auf maximale Realitätsnähe getrimmte Übungsszenario bei einer*einem Beteiligten vor Ort ungewollte psychische Reaktionen zeigen sollte, werden sogar Notfallseelsorger in die Übung eingebunden.[2]
Offizielles Ziel der Übung ist die „Einschränkung des Einwirkungsbereichs der Täter; im Idealfall Herbeiführen der Handlungsunfähigkeit [der Polizei], Retten von Opfern, Schutz gefährdeter Personen, Warnen von Unbeteiligten, Einrichten und Schützen von sicheren Bereichen (z. B. für Verletzte, Rettungsdienste, alarmierte weitere Einsatzkräfte).“[3]
Paramilitärische Grundausbildung für „Lebensbedrohliche Einsatzlagen“
„Wir haben uns schlau gemacht. In Ländern rings um von Frankreich bis Israel. Und bei der Bundeswehr waren wir auch, um uns militärische Taktiken anzuschauen. Kann man die auf polizeiliches Vorgehen adaptieren? Das gelingt meines Erachtens sehr gut.“ (Thomas Wimmer, Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz, Fachgebiet Einsatzlehre)[4]
Die beschriebene Übung in Köln fällt nicht vom heiteren Himmel. Bereits bei der Innenministerkonferenz Ende November 2016 im Saarland war es zu einer bundesweiten Abstimmung über „Eckpunkte für die Erstintervention bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen im Zusammenhang mit bewaffneten Gewalttätern“ gekommen.[5] Darauf aufbauend kamen bei einem Internationalen Fachforum der Direktion Bereitschaftspolizei der Bundespolizei Mitte Mai 2017 rund 230 Führungskräfte, Entscheider und Trainer der Bundespolizei, des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, der Bundeswehr, der 16 Länderpolizeien sowie von Polizeibehörden aus Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Belgien, Polen und der Schweiz zusammen, um die jeweiligen Ansätze zu diskutieren.[6]
Begründet mit den Eindrücken der Terroranschläge in Europa in 2015 und 2016, u.a. in Paris und Brüssel, waren bereits zuvor die Konzepte und Trainings der Polizeien zur Intervention bei Amokläufen, die bereits seit 2009 Jahre existieren, weiterentwickelt worden.[7] Das Spektrum der sogenannten „lebensbedrohlichen Einsatzlagen“ beschränkt sich dabei nicht, wie die öffentliche Debatte vermuten lässt, auf Terroranschläge. Es reicht von „Fällen gewalttätiger Beziehungstaten im sozialen Nahbereich, über vorsätzliche Tötungsdelikte oder Geiselnahmen bis hin zu Amoktaten und alle Formen terroristischer Anschläge“[8] und damit weit in den Alltag hinein. Im Gegensatz zu den Amoktrainings wurde die Komplexität der geschulten Vorgehensweise drastisch reduziert, um ein allgemeingültiges Konzept mit standardisierten Handlungsabläufen zu erhalten, das darauf abzielt, alle Fälle von „Bedrohungslagen mit bewaffneten Gewalttätern in der Anfangsphase zu bewältigen.“[9]
Die Erstinterventionskräfte, sprich Streifenbeamt*innen und Bereitschaftspolizist*innen, sollen nicht mehr weiträumig absperren und auf das Eintreffen von Spezialkräften warten. Laut Joachim Moritz, dem Präsidenten der Bundespolizeidirektion Koblenz, verantwortlich für eine Großübung am Frankfurter Hauptbahnhof, lautet der Auftrag wie folgt: „Die erste Streife, die vor Ort ist, hat die Täter zu eliminieren“ oder muss zumindest die „dynamische Lage in eine statische Lage verwandeln, bis Kräfte nachgeführt werden.“[10] Dafür soll neben dem gesamten Spektrum der vorhandenen Ausrüstung und Bewaffnung auch der rechtliche Rahmen bis hin zur gezielten Tötung des*der Täter*innen ausgenutzt werden.[11]
Vorreiter in der Konzeption und flächendeckenden Ausbildung für Lebensbedrohliche Einsatzlagen (LebEl) sind die Polizei Rheinland-Pfalz und die Bundespolizei. Die Schulungen der Bundespolizei, die unter Einbeziehung der GSG 9 entwickelt wurden, beinhalten im Theorieunterricht u.a. Rechtsgrundlagen über die Anwendung unmittelbaren Zwangs und Notwehrrecht, Informationen über Sprengstoff und weiteren Tatwaffen und die Identifikation und Motive von Selbstmordattentäter*innen, sowie die Eigensicherung.
Im praktischen Teil der Ausbildung liegt der Fokus neben dem Schießtraining mit Pistole und Maschinenpistole auf sogenannten Situationstrainings, also möglichst realitätsnahen Rollenspielen, in denen das „Urbane Vorgehen“ geprobt wird: „Der Begriff ist militärisch und beschreibt im Grunde einen Orts- und Häuserkampf, also eine bewaffnete Auseinandersetzung in Gebäuden und dicht bebautem Gelände.“[12] Damit werden militärische Elemente der Grundausbildung des Bundesgrenzschutzes von vor 1990 wieder aus der Schublade geholt und auf aktuelle gesellschaftliche Begebenheiten angepasst.
Dass es sich bei der aktuellen Verschiebung der Einsatztaktik nicht um eine Eintagsfliege handelt, belegen die Pläne der Bundespolizei ein eigenes Trainingszentrum für „Komplexe lebensbedrohliche Einsatzlagen“ einzurichten. Angegliedert an die örtliche Bundespolizeischule wird es vermutlich auf dem Gelände einer ehemaligen US-Kaserne in Bamberg Platz finden.[13]
Taktische Einsatzmedizin – Erste Hilfe für Krieger*innen
„Je gefährlicher die Lage ist, desto geringer fallen Erste-Hilfe-Maßnahmen zugunsten polizeilicher Maßnahmen aus.“ (Arjang Khoshnevisan und André Micklisch, Ausbilder der Bundespolizei)[14]
Im Rahmen der Ausbildung für LebEl wird auch die „taktische Einsatzmedizin“ (kurz TEMS für Tactical Emergency Medical Service) gelehrt. Das TEMS-Konzept wurde in den 1990er Jahren von der US-Armee für Einsätze von Spezialkräften entwickelt, um diese zu schulen ihre verwundeten Kolleg*innen im Gefecht selbst über die allgemeine Erste-Hilfe hinaus zu versorgen, wenn sie von der regulären Rettungskette abgetrennt sind. In Deutschland wurde TEMS zuerst von Spezialkräften der Bundeswehr und der GSG 9 angewendet, bis es 2013 von der Bundespolizeiakademie als Grundlage für Erste-Hilfe-Fortbildungen der gesamten Bundespolizei übernommen wurde.
Das TEMS-Konzept arbeitet nach zwei einheitlichen Einstufungen, einerseits der Verletzten nach Grad der Verletzung und nötigen Maßnahmen und andererseits des Gefahrenbereichs, in dem sich die Verletzten befinden. Während in unsicheren Bereichen nur das blanke Überleben gesichert werden soll, kommen in „teilsicheren Bereichen“ die regulären Erste-Hilfe Maßnahmen zum Tragen. Eine vollständige medizinische Behandlung findet nur in sogenannten sicheren Bereichen statt.[15] Damit wird die Erste Hilfe nicht mehr allein am Wohl der Verletzten ausgerichtet, sondern der „Gefechtssituation“ untergeordnet.
Für die praktische Umsetzung wurden seit 2015 für alle Bundespolizist*innen eine Beatmungshilfe für die Herz-Lungen-Wiederbelebung und eine Notfallbandage als „persönliche Ausstattung Erste Hilfe“ angeschafft. Die Notfallbandage (auch Tourniquet) kommt aus dem militärischen Sanitätsdienst und wird verwendet, um damit als einfach handhabbarer Druckverband stark blutende Wunden, z.B. nach Spreng- und Schussverletzungen, abzubinden.[16] Auch in diversen Bundesländern, z.B. in NRW werden aktuell taktische Erste-Hilfe-Pakete angeschafft, die neben der Erste-Hilfe Ausrüstung im Streifenwagen am Gürtel mit in den Einsatz genommen werden können.[17]
Eine Verschiebung im Bereich der Erstversorgung von Verletzten findet allerdings nicht nur bei der Polizei statt. Feuerwehren, Rettungsdienste, Katastrophenschutz und Krankenhäuser werden vermehrt in Anti-Terror-Übungen der Polizei wie in Köln eingebunden, um die Kooperation in solchen Einsätzen zu trainieren. Da es sich bei Anschlägen und ähnlichen Einsatzszenarien um sogenannte Polizeilagen handelt, verlieren Feuerwehr und Rettungskräfte faktisch ihre Eigenständigkeit, weil sie ihre Arbeit der Situationseinschätzung und Taktik der Polizei unterordnen müssen. Dementsprechend werden Einsatztrainings der Rettungsdienste für „Massenanfälle von Verletzten“, die bisher bei Großunfällen und Naturkatastrophen zum Tragen kamen, vermehrt auf Anschlagsszenarien abgestimmt.[18] Eng verzahnt mit der Polizei sollen auch Sanitäter*innen, Notärzt*innen, Feuerwehr und Katastrophenschutz vom Alltagsdienst in einen militarisierten Ausnahmemodus wechseln können.
Risiken und Nebenwirkungen – Im Polizeiapparat
„Der Terror hat unsere Welt verändert und jeder Bundespolizist muss jetzt auf komplexe lebensbedrohliche Einsatzlagen vorbereitet sein – ethisch, moralisch, rechtlich, taktisch und vor allem auch persönlich.“ (Christian Altenhofen, Pressesprecher der Bundespolizei und Redakteur von Bundespolizei KOMPAKT)[19]
Selbst die Mitarbeiterzeitschrift der Bundespolizei stellt in einem Artikel offensiv die Frage, ob sich der Polizeiberuf durch die Trainings für lebensbedrohliche Einsatzlagen verändert hat.[20] Zuvor wurde bereits festgestellt: „Aufmerksamkeit, Entscheidungswille, Aggressivität, Schnelligkeit, Selbstbeherrschung, Rücksichtslosigkeit und Überraschungseffekt klingen nicht nach polizeilichem Handeln.“[21] Und die Polizeigewerkschaft sieht gar eine Problematik in der veränderten Polizeitaktik: „Für die GdP ist es aber auch elementar wichtig, dass die Polizei in Deutschland trotz veränderter Sicherheitsbedingungen das bleibt, was sie in der Vergangenheit ausgezeichnet hat – eine in der Gesellschaft verankerte und angesehene Bürgerpolizei.“[22]
Näher an den Kern der Sache, zumindest auf der Ebene der Konsequenzen für die jeweiligen Polizeibeamt*innen, kommt die Evangelische Seelsorge in der Bundespolizei. Sie stellt in berufsethischen Seminaren, die zum Thema „Lebensbedrohliche Einsatzlagen“ seit März 2017 angeboten werden, Fragen nach „psychosozialen, religiösen und auch ethischen Dimensionen und Auswirkungen.“[23] Seminarinhalte sollen nach Selbstdarstellung der Umgang mit Extremstress und Gewalteinwirkung, Fragen nach Sterben und Tod, sowie dem gezielten Töten, ethische Konflikte wie „Schießen oder Helfen“, oder dem „Recht auf Feigheit“ und der Frage danach, ob ein*e Polizist*in verpflichtet ist sein*ihr Leben einzusetzen, sein.[24] Dabei handelt es sich um geradezu idealtypische Fragen, die sich an den Soldatenberuf stellen, in der Polizei bislang aber v.a. für Spezialeinheiten eine Bedeutung hatten, die über generelle, dem Dienstalltag eher ferne Überlegungen hinausgehen.
In den Fragen steckt aber neben moralischen Auseinandersetzungen auch ein entscheidender Hinweis auf die Verschiebung des Selbstverständnisses und der Rolle der Polizei, die die Polizeigewerkschaft ungeachtet der realen Entwicklungen zumindest floskelhaft auf dem Stand der demokratisierenden Teile der Polizeireformen der 70er und 80er Jahre einfrieren will.
Das behauptete Selbstbild der bevölkerungsnahen Bürgerpolizei als Dienstleister für die Gesellschaft, auf Augenhöhe mit den Menschen, für das die Reformer*innen gestritten hatten, steht einer paramilitärischen Grundausbildung für die breite Masse der Polizist*innen allerdings diametral entgegen. Vielmehr weisen aktuelle Ausbildung und Ausrüstung darauf hin, dass sich ein Selbstverständnis als Krieger*innen, die den Staat in einem permanent drohenden Ausnahmezustand gegen Terrorist*innen verteidigen sollen, auf dem Vormarsch befindet.
Ähnliche Tendenzen zu Zeiten der RAF-Fahndung waren damals nicht in der Lage den reformwilligen Teil der Polizei völlig auszubremsen. Technisches und polizeitaktisches Abbild dieser Auseinandersetzung waren die Gründung der paramilitärischen Spezialeinsatzkommandos für den Ausnahmezustand einerseits und die v.a. von den Polizeigewerkschaften eingeforderte Demilitarisierung der Bereitschaftspolizeien und des Bundesgrenzschutzes andererseits.[25] Aktuell scheinen diese Auseinandersetzungen innerhalb der Polizei fast völlig zu fehlen, was entdemokratisierenden und damit in der Konsequenz autoritären Tendenzen Vorschub leistet.
Die Masse der Polizeibeamt*innen nimmt den verschobenen Auftrag an, oder heißt es sogar gut, den Einsatz in Ausnahmesituationen nicht mehr den Rambos der Spezialeinheiten zu überlassen, sondern sich selbst technisch, taktisch und psychisch auf paramilitärische Einsätze vorzubereiten – militarisierte Vorgehensweisen und Befehlsketten sowie die Entmenschlichung der „Terrorist*innen“, also dem Teil der Bevölkerung, der durch ein Zielfernrohr betrachtet wird,[26] inklusive.
Wenn sich Polizist*innen also zunehmend selbst in der Rolle des*der Krieger*innen sehen, wächst damit auch die Bereitschaft demokratische Grundrechte zugunsten eines autoritären Ausnahmezustandes außer Kraft zu setzen.
Risiken und Nebenwirkungen – In der breiten Gesellschaft
„Die Bevölkerung werde unter anderem über die sozialen Medien informiert, damit keine Verunsicherung entstehe, falls etwa Schüsse zu hören sind. Eine Anti-Terror-Übung in dieser Größenordnung und mitten in einer Ladenpassage sei für die Kölner Polizei eine Premiere.“ (Tageszeitung die Welt zur Großübung der Polizei in der Kölner Neumarkt-Galerie)[27]
Auch wenn für diverse Polizeiübungen Sichtschutzzäune aufgestellt werden finden sie auch als öffentliche Inszenierungen statt. Dabei entwickeln sie eine perfide doppelte Wirkung. In einem ersten Schritt nehmen sie die bereits vorhandenen Unsicherheiten und Ängste in der Bevölkerung auf und schüren sie in der kaum begründbaren Logik des „es könnte auch mich in meinem Einkaufszentrum, Bahnhof… treffen“ weiter. Im zweiten Schritt bieten die Übungen auch unmittelbar eine vermeintliche Antwort auf die geschürten Ängste. Angesichts des angerufenen Ausnahmezustands erscheint ein starker Staat mit einer militarisierten Polizei, die sich permanent für den Ausnahmezustand vorbereitet und ihn damit mindestens in Teilen selbst schafft, als einzig mögliche Umgangsweise.
Aber auch die besonders nach Anschlägen immer wieder beschworene Position der trotzig Angstlosen, die ihren Alltag nicht ändern wollen, um „den Terrorist*innen“ keinen Erfolg zu gönnen, geht nur dann auf, wenn die staatlichen Reaktionen ausgeblendet werden. Die unwidersprochene gesellschaftliche Veränderung ist dann der nächste Einkaufsbummel oder Weihnachtsmarktbesuch, der unter Aufsicht von schwer bewaffneten Polizist*innen, oder Panzerwagen und Soldat*innen, wie in Frankreich oder Belgien, stattfindet.
So ist der Anti-Terror-Diskurs ist immer die Stunde der Autoritären, die durch entdemokratisierende Maßnahmen wie die Aussetzung von Grundrechten und die Aufrüstung des Sicherheitsapparats, die plötzlich legitim erscheinen sollen, gesellschaftliche Grundlagen zu ihren Gunsten verschieben. Zu welchen Entwicklungen eine allgemeine Entdemokratisierung, gepaart mit einer autoritären Stimmung in der Gesellschaft und einer diffusen Terrorangst, sowie einem für den Ausnahmezustand vorbereiteten und aufgerüsteten Polizeiapparat, in letzter Konsequenz führen kann, zeigt sich nicht nur historisch in der „Reichstagsbrandverordnung“ und deren Folgen 1933, sondern auch in den aktuellen Entwicklungen in der Türkei seit dem Putschversuch 2016.
Ohne diesen Teufel unmittelbar an die Wand malen zu wollen, zeigen die aktuellen Entwicklungen der Polizei in Deutschland, dass es jetzt gilt, sich den Grundlagen einer solchen Entwicklung entgegen zu stellen, um bereits der Option, dass ein aufgerüsteter Sicherheitsapparat autoritären Kräften in die Hände fällt, wie es aktuell in Österreich der Fall ist, die Grundlagen zu entziehen. Aber auch in den Händen eines Innenmisters Seehofer oder einer Rot-Grünen Landesregierung wie in Hamburg führt ein militarisierter Polizeiapparat schon jetzt zu Bedingungen, die einer emanzipatorischen Entwicklung der Gesellschaft massiv entgegenwirken.
Einen Einblick in die autoritären Spielräume staatlichen Handelns gab es bereits während des G20-Gipfels in Hamburg. Dort wurden gewalttätige Auseinandersetzungen auf der Straße von Polizei und Politik kurzerhand als Bürgerkrieg bzw. Terrorismus deklariert, um innerhalb des so geschaffenen Ausnahmezustands mit einem Polizeieinsatz im Bürgerkriegsformat dagegen vorgehen zu können.
Öfter, Größer, Martialischer – Anti-Terror-Übungen der Polizei
„Es ist angedacht, dass die Beamten jetzt häufiger an Orten trainieren, die Ziel von bewaffneten Angriffen werden könnten.“ (Ein Pressesprecher der Polizei Köln zur Großübung in einer Einkaufspassage)[28]
Als Konsequenz aus den bereits erwähnten Beschlüssen der Innenministerkonferenz zu Lebensbedrohlichen Einsatzlagen finden seit dem Frühjahr 2017 eine Vielzahl kleinerer und größerer Übungen der Polizei statt. Die zuvor beschriebene Ausbildung soll, so die Begründung, in möglichst realistischen Szenarien angewendet und getestet werden.
Dazu eine Chronik ausgewählter Großübungen:
09.03.17 Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen Saarland und Schleswig-Holstein: Den Startschuss für eine Reihe von Anti-Terror-Übungen in Deutschland bildet die „Gemeinsame-Anti-Terror-Excercise“ (GETEX).[29] In einem Planspiel, also ohne Einsatzkräfte auf der Straße, wird über drei Tage die Reaktion auf mehrere Anschläge „katastrophischen Ausmaßes“ geprobt. Begründet mit dieser Formulierung als juristischem Winkelzug ist an der Übung neben Länderpolizeien, Bundespolizei, Bundeskriminalamt und dem Inlandsgeheimdienst auch die Bundeswehr im großen Umfang beteiligt. Zentraler Teil der Übung ist die Koordination der Unterstützung der Bundeswehr für die Polizei geprobt.
19.04.2017 Hamburg: Auf dem Gelände einer Bundeswehrkaserne üben rund 100 Streifenbeamt*innen, BFE-Kräfte und ein Spezialeinsatzkommando die Reaktion auf einen Anschlag mit bewaffneten Tätern.[30]
27.04.17 Kiel: Bei der mit 1.500 Einsatzkräften wohl bisher grüßten Anti-Terror-Übung im Großraum Kiel mit dem Namen „Pandora“ kommen neben Streifenbeamt*innen und Bereitschaftspolizei, sowie Feuerwehr und Rettungskräften aus Schleswig-Holstein auch SEK-Einheiten aus sechs weiteren Bundesländern zum Einsatz. Geübt wird neben Geiselnahmen in einem Bürogebäude und einem Regionalflughafen auch ein Sprengstoffanschlag auf einen Linienbus.[31] Während alle anderen Übungsorte für die Öffentlichkeit abgesperrt sind, wird der reguläre Autobahnverkehr auf der A 21 bei Bad Segeberg auf einen Parkplatz umgeleitet und muss die Maßnahmen einer Fahndung nach flüchtigen Terrorist*innen über sich ergehen lassen.[32]
16.-17.05.17 Leipzig: Für eine Nacht werden Teile des Hauptbahnhofs gesperrt. Hinter den Absperrungen üben rund 500 Einsatzkräfte und 200 Polizeischüler*innen als Statist*innen die Reaktion auf einen Anschlag mit bewaffneten Täter*innen. Neben der Bundespolizei, die die Übung gemeinsam mit der Deutschen Bahn organisiert hat, nehmen auch Beamt*innen der Polizei Sachsen, sowie Feuerwehr und Rettungskräfte teil. Auch in der Umgebung des Bahnhofs sind die Nacht durch Sirenen, Schüsse und Explosionsgeräusche zu hören.[33]
31.05.2017 Leipzig: Im Rahmen einer Großübung der Polizei Sachsen zum Umgang mit gewaltbereiten Fußballfans wird ein Teil der Polizist*innen zum Stadion des RB-Leipzig gerufen. Dort sollen sie spontan auf einen Anschlag im Stadion reagieren. Der Teil der Übung im Stadion findet unter Ausschluss der Presse statt.[34]
08.09.17 Frankfurt/ Main: Auf einem Polizeigelände proben Feuerwehr, speziell ausgebildete und ausgerüstete Streifenbeamt*innen und das SEK Frankfurt einen Terroranschlag während eines Hochwassers.[35] Für die Übung hatte sich das SEK Frankfurt einen Transportpanzer Fuchs von der Bundeswehr geliehen.[36]
25.09.17 Berlin: Für eine Übung der Bundespolizei werden tagsüber Teile des Lichtenberger Bahnhofs gesperrt. Die 400 Übungsteilnehmer*innen (davon 150 Statist*innen) des Streifendienstes der Bundespolizei, der BFE+ und der GSG 9 laufen teils schwer bewaffnet auch durch die Teile des Bahnhofs, in denen der reguläre Zugverkehr weitergeht.[37]
11.10.17 Berlin: Als Katastrophenschutzübung wird auf einem Polizeigelände ein Anschlag mit Krankheitserregern simuliert. Bei der Übung kommen neben dem SEK Berlin, der BFE+ und der GSG 9 der Bundespolizei auch Feuerwehr, Kliniken, das Robert-Koch-Institut und das Bundeskriminalamt zum Einsatz. Zudem sind 80 Beobachter*innen, auch aus dem Ausland, anwesend.[38]
28.-29.11.17 Halle und Merseburg: Deklariert als Katastrophenschutzübung mit dem Namen „THEMIS 2017″ probt die Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Süd die Reaktion auf mehrere Anschläge, u.a. auf den Busbahnhof in Halle und eine Cyberattacke, die zu längerem Stromausfall führt. Die Übung findet allerdings nicht auf der Straße, sondern nur in der Einsatzleitstelle und den Krisenstäben statt. Unter den rund 300 Beteiligten der Übung befinden sich neben Polizei, Feuerwehr, Hilfsorganisationen, Mitarbeitern von Energieversorgern, dem Rettungsdiensten und Verwaltungsstellen auch 70 Soldat*innen vom Landeskommando der Bundeswehr.[39]
20.-21.03.18 Frankfurt/ Main: Von 22 bis 05 Uhr werden Teile des Hauptbahnhofs gesperrt. In sechs Durchgängen üben Bundespolizei, Beamte des Polizeipräsidiums Frankfurt und der Feuerwehr die Reaktion auf einen Anschlag mit bewaffneten Tätern. Explosionsgeräusche und Schüsse sind im gesamten Bahnhof zu hören. Neben 700 Polizist*innen sind auch Sanitäter*innen der Bundeswehr beteiligt, die Statist*innen als Verletzte schminken.[40]
Aktuell sind weitere Großübungen der Polizei in München und Stuttgart sowie am Flughafen Köln/Bonn geplant.[41] Hinzu kommt die Vorbereitung auf die jährliche Katastrophenschutzübung LÜKEX, bei der 2018 in sechs Bundesländern neben klassischem Katastrophenschutz auch die Kooperation von Bundeswehr und Polizei in der Terrorabwehr geübt werden soll.[42]
Neben den medial inszenierten Großübungen findet eine Vielzahl kleinerer Übungen lokaler Polizeibehörden sowohl innerhalb als auch außerhalb von Polizeigeländen statt. Hinzu kommen jährlich durchgeführte Notfallübungen z.B. an Flughäfen und in Krankenhäusern, bei denen aktuell vermehrt Terroranschläge geprobt werden.
Anmerkungen
[1] Kölner Stadt-Anzeiger, Tim Stinauer, Anti-Terror-Übung am Neumarkt – Kölner Polizei will weitere Probe-Einsätze veranstalten, 25.02.18, ksta.de
[2] Ebd.
[3] SEnews., Polizei Köln: Interventionsübung gegen bewaffnete Täter, 26.02.18, sek-einsatz.de
[4] SWR Fernsehen Rheinland-Pfalz, Beitrag: „Blut, Schweiß und Adrenalin“, 4.7.2017,19.30 Uhr, swr.de
[5] Innenministerkonferenz, Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 205. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 29. bis 30.11.16 in Saarbrücken, S. 7, innenministerkonferenz.de
[6] Direktion Bundesbereitschaftspolizei via Presseportal, BPOLD BP: Lebensbedrohliche Einsatzlagen in Zeiten von Terror und Amok – Internationales Fachforum der Polizei in Fuldatal, 17.05.2017, presseportal.de
[7] Bundespolizei Kompakt – Zeitschrift der Bundespolizei, 1/2017, S. 10, bundespolizei.de
[8] Sächsisches Staatsministerium des Inneren, Kleine Anfrage, Drs.Nr.: 6/10705, 11.10.17, S. 3, kleineanfragen.de
[9] Ebd.
[10] Frankfurter Rundschau, Oliver Teutsch, Terror zur Übung im Frankfurter Hauptbahnhof – Die Polizei übt im Frankfurter Hauptbahnhof die Bekämpfung von Terroristen, 21.03.2018, fr.de
[11] Drs.Nr.: 6/10705 a.a.O., S. 1
[12] Bundespolizei Kompakt – Zeitschrift der Bundespolizei, 1/2017, S. 12
[13] BR24, Heiner Gremer, Bundespolizei stockt auf – Trainingszentrum für Terrorabwehr in Bamberg geplant, 16.02.18, br.de
[14] Bundespolizei Kompakt – Zeitschrift der Bundespolizei, 1/2017, S. 18
[15] Ebd., S. 18-19
[16] Ebd., S. 48-49
[17] SEnews., Taktische Medipacks für die Polizei NRW, 06.02.2018, sek-einsatz.de
[18] In dem für „Massenanfälle von Verletzten“ vorgesehenen Konzept der Triage, das ebenfalls vom Militär entwickelt wurde, werden alle Verletzten oder auch sonst z.B. psychologisch zu versorgenden Personen nicht sofort behandelt, sondern zuerst gesichtet. Nach einer Ersteinschätzung von 20 bis 60 Sekunden pro Patient*in werden diese in fünf Kategorien eingeteilt und markiert, die über Priorität und Art der Bergung und Versorgung entscheiden: grün (leicht verletzt), gelb (schwer verletzt), rot (akute vitale Bedrohung/ Lebensgefahr), blau (ohne Überlebenschance) oder schwarz (tot) markiert – die über Priorität und Art der Bergung und Versorgung entscheiden.
[19] Bundespolizei Kompakt – Zeitschrift der Bundespolizei, 1/2017, S. 13
[20] Ebd.
[21] Ebd., S. 11
[22] Gewerkschaft der Polizei – Direktion Bundespolizei, KLE – Komplexe lebensbedrohliche Einsatzlagen – Jörg Radek beim Symposium in Fuldatal, dir-bundesbereitschaftspolizei.gdpbundespolizei.de
[23] Bundespolizei Kompakt a.a.O., S. 17
[24] Evangelische Seelsorge in der Bundespolizei, Berufsethisches Modul „Komplexe lebensbedrohliche Einsatzlagen“, bundespolizei-seelsorge-evangelisch.de
[25] Der Spiegel, Polizei – In Fett, Ausgabe 42/1970 vom 12.10.70, spiegel.de
[26] „Wir haben auch eine neue Visiertechnik für die Maschinenpistole beschafft damit man auf einer größeren Distanz den Gegenübern begegnen kann.“ (Roger Lewenz, Innenminister von Rheinland-Pfalz bei der Vorstellung des Trainings für Lebensbedrohliche Einsatzlagen) SWR Fernsehen Rheinland-Pfalz, Beitrag: „Blut, Schweiß und Adrenalin“, 4.7.2017,19.30 Uhr, swr.de
[27] Die Welt, Polizei in Köln startet Anti-Terror-Übung in Ladenpassage, 25.02.18, welt.de
[28] WDR Nachrichten, Große Anti-Terror-Übung in Kölner Innenstadt, 25.02.18, wdr.de
[29] Informationsstelle Militarisierung, Martin Kirsch, GETEX – Polizei und Bundeswehr üben Anti-Terror-Einsatz im Inland, IMI-Analyse 2017/10 – in: AUSDRUCK (April 2017), imi-online.de
[30] NDR 90,3, Hamburger Polizei trainiert Anti-Terror-Einsatz, 19.04.17, ndr.de
[31] Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag, Eckard Gehm, Heute in Kiel – So lief die Anti-Terror-Übung in SH, 27.04.17, shz.de
[32] Lübecker Nachrichten, Marcus Stöcklin, „Pandora“: Polizei probt den Einsatz im Terrorfall, 25.04.17, ln-online.de
[33] MDR Sachsen, Anti-Terrorübung – Schüsse und Explosionen am Leipziger Hauptbahnhof, 17.05.17, mdr.de
[34] MDR Sachsen, Übungseinsatz – Leipziger Polizei probt erneut Terror-Szenario, 31.05.17, mdr.de
[35] Hessenschau, Innenminister stellt Finanzplan vor – Beuth verspricht mehr Polizei und bessere Waffen, 08.09.17, hessenschau.de
[36] Wiesbaden112, Sebastian Stenzel, SEK Frankfurt übt terroristische Bedrohung während Hochwasser-Übung, 08.09.17, wiesbaden112.de
[37] Berliner Zeitung, Philippe Debionne, Terror-Übung in Lichtenberg – 400-Beamte simulieren den Ernstfall, 25.09.17, berliner-zeitung.de
[38] Tagesspiegel, Fatina Keilani, Bioterrorismus – Katastrophenschutzübung in Berlin, 11.10.17, tagesspiegel.de
[39] MDR Sachsen-Anhalt, Katastrophenschutz – Polizei und Bundeswehr proben Ernstfall in Sachsen-Anhalt, 28.11.17, mdr.de
[40] Frankfurter Rundschau, 21.03.18 a.a.O.
[41] Die Welt, Alexander Jürgs, Anti-Terror-Übung – Als plötzlich Schüsse fallen, zücken die Passanten ihr Handy, 21.03.18, welt.de
[42] Bundeswehr-journal, Bundeswehr bei Krisenmanagementübung LÜKEX 18, 05.01.18, bundeswehr-journal.de
Erstveröffentlichung auf Informationsstelle Militarisierung e.V. am 6.4.2018