Die alte Maulwurfs-Nummer „Wir müssen das Grundgesetz wegen denen opfern gegen die wir es verteidigen“ will offenbar mit dem Spaten erschlagen werden.
Schon vor zwölf Jahren warnte ich vor einer Kampagne der bürgerlichen Medien und „großen Koalition“ gegen Verfassung und Gewaltenteilung, nach dem Motto „diese-Moslems-haben-was-gegen-unser-Grundgesetz“, „also-müssen-wir-es-zuerst-stürzen“ (dieser Artikel vom August 2006 wurde nach der Gründung der Medienstation Radio Utopie Anfang 2007 unserem Archiv hinzugefügt).
Nicht nur in diesem Zusammenhang hat nun zum ersten Mal überhaupt eine hochrangige Juristin offen ausgesprochen, dass das Agieren der Bundesregierung nicht der vom Grundgesetz diktierten Gewaltenteilung entspricht.
Die Präsidentin des Oberlandesgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, Ricarda Brandts, umschrieb in einem auf „Legal Tribune Online“ dokumentierten Interview eine bewusste Vorenthaltung von Informationen durch das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (B.A.M.F.) vor der Gerichtsbarkeit:
„In seiner Entscheidung hat der zuständige Senat des OVG am Mittwoch klargestellt, dieses Informationsverhalten sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gewaltenteilungsprinzips nicht vereinbar.“
Die Präsidentin des OVG umschrieb zur laufenden Affäre gleichzeitig, wie praktisch seit Inkrafttreten des Grundgesetzes vier Jahre nach dem Faschismus bis heute die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative im Kern, in der Fläche und in der real existierenden Rechtspraxis nie vollständig zur Anwendung kam.
„Eine weitere gravierende Folge ist die Störung des Vertrauensverhältnisses im Umgang mit den handelnden Behörden. In der Praxis gehen Gerichte und Behörden grundsätzlich mit Respekt vor der Gewaltenteilung vertrauensvoll miteinander um. Dazu gehört, dass die Behörden auf die Fragen der Gerichte die notwendigen Antworten geben.
Regelmäßig sagen sie dabei auch zu, vor einer Entscheidung des Gerichts keine Vollzugsmaßnahmen zu ergreifen. Sie geben eine so genannte Stillhaltezusage ab.“
Wozu hat man eigentlich eine Teilung der Gewalten, wenn sie nicht geteilt wird, weil die eine Instanz (die Gerichtsbarkeit) vertrauensvoll stillhält, weil sie sich darauf verlässt, dass die andere (Regierung, Behörden, Polizei, Geheimdienste, etc) schon machen wird was sie versprochen hat?
Dr. Ricarda Brandts weiter:
„Nach der Erfahrung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen würde ich den Kollegen nun raten, sich auf diese Praxis vorerst nicht mehr in jedem Fall zu verlassen.“
Es gibt auch ein Aufgeben durch Naivität, Passiviät, blinden Glauben an die Autorität als verheerende Ersatzreligion oder schlicht Faulheit. Und das ganze Ausmaß der Demokratie-, Politik-, Lese- und Denkunfähigkeit großer Teile der Bevölkerung und auch ihrer Juristen zeigt sich u.a. darin, dass sie allen Ernstes bereit sind für / gegen / wegen irgendwen und irgendwas das aufzugeben, was sie selbst angeblich verteidigen.
Zum Tausendsten Male für AnfängerInnen:
wer das Grundgesetz für / gegen / wegen irgendwen und irgendwas – Flüchtlinge, „Sami A.“, Linke, Rechte, Europa, die Vereinigten Irgendwas, Aliens vom Mars, den Krieg, den Terror, den Krieg gegen den Terror, etc, etc, usw, usw – aufgeben will, verteidigt es nicht.
Und nicht nur unfähig, sondern extrem zynisch, heuchlerisch und berechnend und systemisch putschistisch ist es, direkt oder indirekt diese Aufgabe (und damit die Beseitigung) der Verfassungsordnung zu betreiben, mit dem Argument, man müsse sie ja verteidigen gegen diejenigen die sie beseitigen wollen.
Wenn sogenannte „Verfassungsorgane“, namentlich die Exekutive, ob Bundesregierung oder Landesregierung, bewusst die Gewaltenteilung ignorieren, ignorieren sie damit einen wesentlichen und nicht wegzuschwätzenden Bestandteil der Verfassung und ihrer Identität. Ein Ignorieren der Gewaltenteilung läuft damit auf den Versuch der Beseitigung der Verfassung selbst hinaus.
Und eine „teilweise“ Ignoranz gegenüber der Verfassung gibt es genauso wenig wie eine teilweise Verfassungstreue.
Das Urteil des OVG vom 15. August liegt übrigens immer noch nicht im Volltext vor (hier die Pressemitteilung).
Und wer es immer noch nicht weiß: das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis der Bevölkerung verlor die Gewaltenteilung bereits im Jahre 1968, durch die Verfassungsänderungen der „Notstandsgesetze“.
Dass die Bundesregierung und ihre Behörden, oder die Landesregierung von Nordrhein-Westfallen, auch diesmal nicht wegen der versuchten Beseitigung der Gewaltenteilung vor Gericht angeklagt werden, oder generell wegen Verbrechen, liegt daran, dass sie sich selbst anklagen müssten. Was sie natürlich nicht tun, weil sie es nicht müssen.
Dazu bald mehr.