Autoren: Peter Steiniger, Harald Neuber
Am heutigen Sonntag erlebt das größte Land Südamerikas den ersten Höhepunkt im Superwahljahr. Mehr als 145 Millionen Bürger sind aufgerufen, die 531 Mitglieder des Abgeordnetenhauses in Brasília und 54 der 81 Senatoren, zwei Drittel des Oberhauses, neu zu bestimmen.
Zur Wahl stehen auch die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und des Hauptstadtdistrikts sowie deren Parlamente. Im Fokus des öffentlichen Interesses steht die Entscheidung über den künftigen Staatspräsidenten. Dem zum Jahresende scheidenden De-facto-Präsidenten Michel Temer von der Demokratischen Bewegung (MDB) wird in Brasilien nur ein ganz enger Kreis Verbündeter nachtrauern.
Stichwahlen finden dann am letzten Sonntag im Oktober statt. Um daraus als Sieger hervorzugehen, benötigen Bewerber um Temers Job und als Regierungschef in den Bundesstaaten die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Wählen dürfen Bürger ab 16 Jahren, für die Altersgruppe von 18 bis 70 herrscht Wahlpflicht. Die Demoskopen gehen davon aus, dass mehr Wähler denn je die Lust an ihrer in Skandalen watenden politischen Klasse verloren haben und den Urnen dennoch fernbleiben oder leer oder ungültig wählen werden.
Zuletzt lag der ehemalige Militär Jair Bolsonaro in den Umfragen weiter vorne und konnte seinen Vorsprung sogar noch ausbauen. Nach den Ergebnissen einer Umfrage, die in der Nacht auf Freitag veröffentlicht wurde, kommt der Rechtsextreme auf 35 Prozent der Stimmen. Damit liegt Bolsonaro 13 Prozentpunkte vor dem linksgerichteten Kandidaten Fernando Haddad, der für die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) antritt. Haddad ersetzt den Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der nach einem international umstrittenen Prozess inhaftiert ist.
Im bisherigen Kongress waren 27 Parteien vertreten. Bis auf Ausnahmen sind ihre Programme leere Hüllen. Sie dienen lediglich als Vehikel für elitäre Politunternehmer, die nicht selten mit ihrem ganzen Clan im Geschäft sind. Die enorm kostspieligen Wahlkämpfe sind entsprechend stark personalisiert. Wer als Kandidat eigenes Geld mitbringt, ist bei der Finanzierung der Kampagnen im Vorteil. Die Parteien erhalten dafür auch Geld aus öffentlichen Fonds, nachdem die „zweiten Kassen“, die oft illegalen Zuwendungen von Firmen an die politische Klasse, in Verruf geraten sind. Tatsächlich ziehen im Parlament Lobbys die Fäden, wie die der Großagrarier und der Evangelikalen. Vor allem die letztere rechnet damit, ihren Einfluss diesmal noch beträchtlich auszudehnen. Sicherheitskreise gehen davon aus, dass auch die landesweit operierenden Kartelle des organisierten Verbrechens an vielen Orten Einfluss auf die Wahl nehmen werden.
Am Ende des Wahlkampfes hatten die beiden aussichtsreichsten Kandidaten den Ton noch einmal deutlich verschärft. Einen Tag nach dem Ende der öffentlichen Veranstaltungen – unmittelbar vor der Abstimmung sind solche Auftritte in Brasilien verboten – nutzen der Rechtsextreme Jair Bolsonaro und der Sozialist Fernando Haddad ihre bevorzugten Foren, um heftige Angriffe auf den politischen Gegner zu fahren: der Rechte auf Twitter, der Linke im direkten Kontakt mit Wählern. Bolsonaro schrieb über den Kurznachrichtendienst, Brasilien habe es nicht verdient, „aus dem Gefängnis heraus regiert zu werden“. Er nahm damit deutlich Bezug auf den inhaftierten da Silva. Auch dürfe das Land nicht von politischen Ziehsöhnen von Häftlingen regiert werden, fügte er mit Blick auf Haddad an.
Der sozialistische Kandidat wiederum nutzte die Anwesenheit der Presse bei einem politischen Spaziergang in Belo Horizonte, um seinen Rivalen heftig zu kritisieren. Bolsonaro sei eine Gefahr für verfassungsrechtliche Prinzipien wie Demokratie, Frieden und Wahrheit. „Unsere Verfassung hat sehr gefestigte Grundsätze, die zuletzt unter Beschuss standen, vor allem seitens Bolsonaros. Er fühlt sich der Demokratie gegenüber in keiner Weise verpflichtet, er fühlt sich dem Frieden gegenüber nicht verpflichtet und auch nicht gegenüber der Wahrheit“, sagte Haddad.
Der mögliche Sieg Bolsonaros führt international zu wachsender Sorge. Während der Rechtsextreme ein Liebling der neoliberalen Finanzmärkte ist und auch von der deutschen Bundesregierung indirekt Rückendeckung bekommen hat, indem sie das Politurteil gegen Lula da Silva rechtfertigte, warnen zahlreiche Beobachter vor den Konsequenzen seines Sieges. Der US-Linguist und Aktivist Noam Chomsky bezeichnete den brasilianischen Ex-Präsidenten als „einen der bedeutendsten politischen Gefangenen unserer Zeit“. Lula da Silva werde in Haft isoliert, damit der „sanfte Staatsstreich“, der mit der Absetzung der Lula Nachfolgerin Dilma Rousseff begonnen hat, weiter voranschreiten kann.
Veröffentlichung am 7.10.2018 auf Portal amerika21.de
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