INF-Vertrag: Stunde der Hardliner?
Am 2. Februar 2019 suspendierten die USA den INF-Vertrag zum Verbot landgestützter substrategischer atomarer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500km, kurz darauf folgte Russland, weshalb viel drauf hindeutet, dass das Abkommen in sechs Monaten endgültig Geschichte sein dürfte. Und auch das dürfte erst der Prolog für den nächsten Schritt darstellen, nämlich die Aufkündigung bzw. Nicht-Verlängerung der zweiten tragenden Säule der atomaren Rüstungskontrolle, des nur noch bis Ende nächsten Jahres geltenden „New-Start-Vertrags“ zur Begrenzung strategischer Nuklearwaffen mit einer Reichweite über 5.500km.
Einer neuen Schätzung des „Congressional Budget Office“ werden die USA im nächsten Jahrzehnt ihr Arsenal mit fast 500 Mrd. Dollar „modernisieren“. Mit dem im „Nuclear Posture Review“ bereits im Februar 2018 angekündigten Bau „besser“ einsetzbarer Mini-Atomwaffen, wurde laut Informationen des Guardian mittlerweile bereits begonnen. Vor aller Augen bahnt sich hier mehr als deutlich eine neue atomare Rüstungsspirale an, die hierzulande auch noch durch lautstarke Rufe nach einer neuen atomaren „Nachrüstung“ – sprich: „Aufrüstung“ – befeuert wird.
Irrationaler Kündigungskurs?
Für sein Vorgehen erhielt Washington umgehend Schützenhilfe seitens der NATO, die in einer Pressemitteilung verlauten ließ: „Die Verbündeten unterstützen das Vorgehen voll und ganz.“ Genauso schnell forderte der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz die Stationierung amerikanischer Atomraketen in Europa. „Es liegt in unserem europäischen Interesse, dass amerikanische Truppen und Atomraketen auf dem Kontinent stationiert sind.“
Ganz glücklich waren viele andere Verbündete allerdings nicht mit der US-Entscheidung, nicht zuletzt aus Deutschland wurden wiederholt Appelle an Washington gerichtet, Anstrengungen zu unternehmen, den Vertrag doch noch zu retten. Die hatten daran aber ganz offensichtlich keinerlei Interesse – kein Wunder, schließlich hatte US-Präsident Donald Trump mit John Bolton jemanden als seinen Nationalen Sicherheitsberater auserkoren, für den Rüstungskontrollverträge erklärtermaßen Werke des Teufels sind.
Hieraus erklärt sich auch, weshalb die USA das russische Angebot, das kritisierte Objekt, die SSC-8, von der Washington behauptet, sie überschreite die zulässige Reichweite, während Moskau sie mit 480km angibt, vor Ort zu inspizieren. Das Verhalten der US-Regierung untermauerte wiederum Russlands Verdacht, die USA seien primär erpicht darauf, den Vertrag zu versenken. So wird der stellvertretende Außenminister Sergej Ryabkow zitiert, Russland wolle den Vertrag retten, aber „kürzliche Ereignisse zeigen deutlich, dass gewisse Kräfte in den Vereinigten Staaten nicht daran interessiert sind, uns die Möglichkeit zu geben, ihre fehlerhaften oder gefälschten Informationen zu widerlegen“
Aus rein militärischer Sicht ist die Kündigung des Vertrages durch die USA möglicherweise sogar im russischen Interesse. Denn das INF-Verbot bezog sich nur auf landgestützte, nicht aber auf ungleich teurere see- oder luftgestützte Raketen. Wie bereits im Herbst letzten Jahres im National Interest angemerkt wurde, ermöglicht es der US-Ausstieg Russland nun, so gewünscht, sein militärisches Arsenal um ein Vielfaches kostengünstiger auszubauen, als es unter den INF-Beschränkungen möglich wäre. „Ein Rückzug vom INF-Vertrag wird aller Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass ungeachtet der konkurrenzlosen nuklearen Arsenale, über die beide Länder ohnehin bereits verfügen, Milliarden von Dollar für neue amerikanische und russische Waffen ausgegeben werden. Diese Waffen werden das Risiko und die Zerstörungskraft eines Atomkriegs auf europäischem Boden vergrößern. Mehr noch: Die Waffen spielen mehr Russland Stärken in die Hände als denen der USA, die Schwierigkeiten haben werden, Gastgeber in Europa und Asien zu finden.“
Eine plausible Erklärung für das scheinbar irrationale Verhalten ist, dass es Washington in Wahrheit überhaupt nicht primär um Russland und dessen tatsächliche oder vermeintliche Vertragsverletzung geht, wie etwa ein Kommentar in der Neuen Osnabrücker Zeitung vermutet: „Washington begründet die Kündigung des INF-Vertrags damit, dass Moskau den Vertrag verletze. Wirklich? Natürlich kann das so sein, doch die USA haben keine Beweise für einen russischen Verstoß veröffentlicht. Es spricht auch nicht gerade für die US-Regierung, dass sie russische Einladungen, den strittigen Marschflugkörper zu begutachten, und Gesprächsangebote ausgeschlagen hat. Da drängt sich der Verdacht auf, dass es den USA in Wirklichkeit um etwas anderes geht: um die Möglichkeit, selbst neue Waffensysteme zu bauen und zur Abschreckung zu stationieren, vor allem in Ostasien, ohne die lästigen Fesseln eines Abrüstungsvertrags. Denn nicht Russland ist im Visier, sondern China. Washington sieht sich durch den INF-Vertrag zunehmend ins Hintertreffen geraten gegenüber Peking, seinem Dauergegner, der in diesen Vertrag nicht einbezogen ist.“
Rufe nach Nachrüstung
Präsident Wladimir Putin erklärte mehr als deutlich, von russischer Seite würde erst in eine Rüstungsspirale im Bereich der Mittelstreckenraketen eingestiegen, sollte die NATO den Anfang damit machen: „Russland wird weder Mittelstreckenraketen […] in Europa noch irgendwo sonst stationieren, solange keine dementsprechenden US-Waffen in den jeweiligen Regionen der Welt stationiert werdend.“
Angesichts solcher Aussagen ist es schwer vorstellbar, dass Russland zuerst mit der großangelegten Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnt, erst ein solcher Schritt durch die NATO würde dies auslösen. Insofern erscheint das Argument der Nachrüstungsbefürworter, nur so könne Sicherheit und Stabilität garantiert werden, gelinde gesagt als reichlich fragwürdig. Dennoch schlug unmittelbar nach der Suspendierung die Stunde der Hardliner, die ohnehin schon länger eine atomare Nachrüstung mehr oder minder offen fordern. Unter ihnen sorgten besonders Aussagen von Außenminister Heiko Maas für Empörung, der ziemlich deutlich machte, dass er von einer solchen Nachrüstung aktuell zumindest nichts wissen will: „Europa ist nicht mehr geteilt wie in Zeiten des Eisernen Vorhangs und deshalb sind alle Antworten aus dieser Zeit völlig ungeeignet, die Herausforderungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, zu beantworten.“
Lautstark meldete sich etwa der Politikprofessor Christian Hacke zu Wort, der schon länger für eine deutsche Atombewaffnung trommelt. Bei Report München ließ er folgendes vom Stapel: „Russland ist zu kalkulieren, nämlich als revisionistische Macht. Und Putin ist ein erstklassiger Machiavellist, der genau weiß, wie er die russische Stärke wieder aufbaut. […] Das ist alles brandgefährlich. Und dann sind wir in einer Situation, brutal ausgedrückt, realistisch, sind wir Hammer oder sind wir Amboss? Und wir sind als Nicht-Nuklearmacht einfach Amboss. Und wir sind von anderen abhängig und wenn man drüber diskutiert, dann geht es vor allem um unsere eigene, um unsere nationale Sicherheit.“
Carlo Masala von der Bundeswehruniversität in München wird in der Süddeutschen Zeitung (SZ) folgendermaßen zitiert: „Das größte Problem an der Diplomatie von Heiko Maas liegt darin, dass er eine Option kategorisch ausschließt: auf den Bruch des Abkommens mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen zu antworten. Ohne diese Drohung gibt es für Moskau null Anreize, in den Vertrag zurückzukehren.“
Gerne beklagt wird in diesem Zusammenhang auch, dass es heutzutage keinen zweiten Helmut Schmidt gäbe, der seinerzeit maßgeblich die Nachrüstung zu verantworten hatte. So zitiert etwa der Deutschlandfunk Thomas Kleine-Brockhoff vom German Marshall Funds: „Thomas Kleine-Brockhoff runzelt die Stirn: ‚Was ich nicht sehe, ist irgendeine Person in Verantwortung, die eine Rolle des strategischen Realismus übernimmt – ich sehe keinen Helmut Schmidt.‘ Der Leiter des German Marshall Funds kritisiert vor allem die Positionierung von Außenminister Maas, eine mögliche Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland schon jetzt auszuschließen.“
Von Schopenhauer und Schmidt
Schon Mitte Dezember taten sich Masala und Kleine-Brockhoff mit Heinrich Brauss zusammen und lasen der „europäischen Debatte“ um den INF-Vertrag in der FAZ die Leviten. Diese sei von der „Schopenhauerschen Maxime der Welt als Wille und Vorstellung“ geprägt, nötig sei dagegen „Mehr Realismus, bitte!“, wie der Titel des Artikels lautete. Es sei „unbedingt zu vermeiden […] schon jetzt irgendwelche Optionen vom Tisch zu nehmen, so wie das jene tun, die eine erneute Stationierung von Mittelstreckenraketen auf europäischem Nato-Gebiet trotz des neuen russischen Drohpotentials kategorisch ausschließen wollen.“ Dagegen erforderlich sein, „notfalls Verhandlungen mit glaubwürdiger Androhung von militärischen Gegenmaßnahmen zu erzwingen.“
Mangelnder Realismus der Entscheidungsträger, das ist ein Vorwurf, dem sich der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger voll und ganz identifizieren kann. Ebenfalls von Report München wurde er befragt, ob er von einem Erstarken der Friedenbewegung im Falle einer neuen Nachrüstung ausgehe, wie dies bereits in den 80ern der Fall gewesen war: „Lassen sie es mich einmal von der anderen Seite her versuchen zu beantworten. 1978/79, als das Problem der russischen SS-20, das was das System, das damals Anlass gab, über eine Nachrüstung nachzudenken, damals […] stellte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hin und hielt eine Brandrede und sagte, wir können das nicht hinnehmen. […] Er hat also damals das Signal gesetzt: Da müssen wir gegenhalten! Wir müssen die Balance, das Gleichgewicht möglicherweise durch Nachrüstung herstellen. Ich kann im Augenblick ehrlich gesagt keine Regierung in Westeuropa […] erkennen, die bereit wäre, sich so hinzustellen und zu sagen, wir machen das jetzt nach dem Rezept von Helmut Schmidt Ende der 70er Jahre. Wir sind der nuklearstrategischen Debatte weitgehendst entwöhnt. Und unsere Wähler, unsere Bevölkerung damit vertraut zu machen, dass es hier tatschlich um eine reale Bedrohung unserer Sicherheitslage geht, das ist schwierig in einer Lage, in der viele Westeuropäer sozusagen von der Friedensdividende träumten. […] Es ist wirklich eine schwere Erschütterung, auf die wir nicht gut vorbereitet sind. Und deswegen wäre ich sehr skeptisch und ich würde fürchten, dass hier gewaltige Aufwallungen von friedensbewegten und pazifistischen und sonstigen Gruppen tätig werden würden und dass es uns sehr sehr schwer fallen würde, eine angemessene politische, abrüstungspolitische, strategische Antwort auf diese Lage zu finden, in die wir jetzt anscheinend hineinschlittern.“
Augenscheinlich sieht Ischinger in der Sorge vor diesem friedenspolitischen Protestpotenzial die Ursache dafür, dass in der heutigen SPD bislang noch keiner seinen Schmidtschen Moment erlebt hat. Es wird aber sicher in der nächsten Zeit durch Aktionen der Friedensbewegung erforderlich sein, dafür zu sorgen, dass dies auch so bleibt.
Erstveröffentlichung am 2. Februar 2019 auf Informationsstelle Militarisierung e.V.