BWTEX: Anti-Terror-Übung “katastrophischen Ausmaßes”?

Autor: Martin Kirsch

Vom 18. bis 19. Oktober 2019 hielt das baden-württembergische Innenministerium eine Großübung zur Bekämpfung von Terroranschlägen im Inland ab. Nach Angaben des Ministeriums handelte es sich dabei mit 2500 Beteiligten, einem Jahr Vorbereitungszeit und reinen Materialkosten von rund 250.000 Euro,[1] um die größte Anti-Terror-Übung in der Geschichte der Bundesrepublik. Laut Bundeswehr, die ebenfalls an der Übung beteiligt war, eine Übung „von großer strategischer Bedeutung“,[2] weil erstmals der Ablauf eines gesamten Anschlagsszenarios vom ersten Schuss bis zur Versorgung von Verletzten im OP mit realen Einsatzkräften trainiert wurde.

Unter dem Titel BWTEX (Baden-Württemberg Terrorismusabwehr Exercise) kamen am 19. Oktober rund 1.500 Einsatzkräfte aus Landespolizeien, Bundeswehr, Bevölkerungsschutz, Feuerwehren, THW und Rettungsdiensten auf dem Bundeswehr-Truppenübungsplatz Heuberg auf der schwäbischen Alb zusammen. Dazu waren bis zu 450 Einsatzkräfte in vier umliegenden Krankenhäusern, sowie Polizeikräfte aus der Schweiz samt Panzerfahrzeug, an der Übung beteiligt. Mit der Übungsorganisation und -koordination waren rund 500 weitere Personen der beteiligten Organisationen beschäftigt.[3] Diese hatten bereits am Vortag in den Stäben von Polizei, Bundeswehr und Rettungskräften an diversen Standorten im Südwesten, von Göppingen, über Stuttgart bis Konstanz, sowie in Berlin, die Abläufe und Kommunikationswege der Kommandoebenen trainiert.

Laut Übungsdrehbuch war es bereits in den Vormonaten zu sechs Anschlägen mit über 100 Toten und diversen Anschlagsversuchen durch eine Islamistische Gruppierung in ganz Deutschland gekommen. Das konkrete Szenario am 19. Oktober umfasste einen Doppelanschlag mit Bombenexplosion, Schießerei, totem Terroristen mit Sprengstoffgürtel und einer Geiselnahme in der Innenstadt von Konstanz, die dafür auf dem Truppenübungsplatz extra nachgestellt wurde.

Der Pressesprecher des Innenministeriums, Renato Gogliotti, nennt es „ein Anschlagsszenario, das sicherlich katastrophischen Ausmaßes ist”.[4] Eine Formulierung, die nicht zufällig gewählt wurde, weil sie nach der neuen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts von 2012 den Einsatz der Bundeswehr in der Terrorabwehr im Inland mit „militärischen Mitteln“ ermöglicht. So wurden im Übungsverlauf neben Polizei und Bevölkerungsschutz auch Soldat*innen einbezogen, um Verletze mit Panzerfahrzeugen aus dem Gefahrenbereich zu bergen. Zudem wurde die maßgeblich von zivilen Rettungskräften betriebene Verletztensammelstelle durch Reservist*innen aus der Region mit „hoheitlichen Zwangs- und Eingriffsbefugnissen“ und gezogenen Gewehren gesichert. Darüber hinaus wurde das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm mit einbezogen. Weitere Bundeswehreinheiten, die innerhalb des Übungsszenarios in Bereitschaft versetzt worden waren, darunter Bombenentschärfer der Pioniertruppe, kamen nicht zum Einsatz.

Rechtsgrundlage

Die Worte des Ministeriumssprechers Gogliotti, der am 19. Oktober in Polizeiuniform vor die Presse trat, waren so gewählt, dass er die aktuellen juristischen Grundlagen der Übung auf eine Minimalformel brachte. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 zum Luftsicherheitsgesetz hatte die Mehrheit der Karlsruher Richter*innen die Tür für einen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Inland weiter aufgestoßen. Dazu waren beide Kammern des Gerichts zu einem Plenumsentscheid zusammengekommen. Ein seltenes Vorgehen, das die Brisanz der Entscheidung verdeutlicht. In einer schriftlich im Urteilstext vermerkten abweichenden Meinung des Verfassungsrichters Gaier hieß es damals: „Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.“ Während der Abschuss von Zivilflugzeugen durch die Bundeswehr als klar verfassungswidrig eingestuft wurde, ließen es sich die Verfassungsrichter*innen nicht nehmen, in einer Grundgesetzänderung per Gerichtsentscheid den Einsatz von bewaffneten Einheiten der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr zu legalisieren, wenn es sich – beispielsweise bei Anschlagsszenarien – um eine „Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ handeln würde.[5]

Während der Einsatz der Bundeswehr im Inland von 1955 bis 1968 vollständig verboten war, erlaubten die Notstandsgesetze den unbewaffneten Einsatz der Armee bei Naturkatastrophen und den bewaffneten Einsatz im Fall eines sogenannten Inneren Notstands. Dafür wurden allerdings juristisch extrem hohe Hürden angesetzt, die eher an ein Bürgerkriegsszenario angelehnt sind, als an eine Anschlagsserie. Daher unterscheidet sich die Rechtslage stark von Ländern wie Frankreich,[6] Belgien oder Italien,[7] wo Soldat*innen regelmäßig in der Öffentlichkeit patrouillieren.

Von den bereits eröffneten neuen Spielräumen durch das Karlsruher Urteil weitestgehend unbeeindruckt hatte das CDU-geführte Verteidigungsministerium in der Debatte um das Weißbuch 2016 versucht, eine Verfassungsänderung in der Regierungskoalition durchzusetzen, scheiterte aber am Widerstand der SPD, den Inlandseinsatz der Bundeswehr vollends freizugeben. Damit verschob sich die politische Handlungsebene von der Debatte um eine Verfassungsänderung auf die zeitnahe praktische Ausgestaltung der neuen Möglichkeiten im Rahmen des Katastrophennotstandsartikels 35. So ließ die damalige Verteidigungsministerin von der Leyen bereits im Sommer 2016, während eines rechtsmotivierten Amoklaufes in München, Militärpolizei und Sanitätskräfte der Bundeswehr in Alarmbereitschaft versetzen lassen.[8]

Verfassungsrechtliche Grenzfälle als Grundlagen für die TEX-Übungsserie

Seit März 2017 wird sich aktiv auf die Anwendung des Katastrophenschutzparagraphen im Grundgesetz für die polizeilich-militärische Terrorabwehr vorbereitet. Den Aufschlag bildete die Gemeinsame Terrorismusabwehr Execise (GETEX),[9] bei der Bundesbehörden, sechs Länderpolizeien, Bundeswehr und Rettungskräfte den gemeinsamen Einsatz übten – allerdings nur per Simulation in den Kommandozentralen, ohne dass ein Soldat die Kaserne verließ. In der damaligen Berichterstattung schienen die Nennung der neuen Rechtsgrundlage und eine politische Einordnung dieser für den auch medialen Präzedenzfall zum absoluten Standard zu gehören.

Mittlerweile scheint sich, anstelle der weiterhin verfassungsrechtlich komplizierten Einordnung von Bundeswehreinsätzen zur Terrorabwehr im Inland, das Zauberwort von der „Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ weitestgehend durchgesetzt zu haben. Wenn das für die Übung erstellte Bedrohungsszenario nur groß genug ist und das Zauberwort fällt, dann darf die Bundeswehr kommen und „helfen“, so die Lesart. Nach der GETEX-Übung auf Bundesebene ist Baden-Württemberg-TEX nicht die erste Übung dieser Art, bei der versucht wird für Behörden und Politik auf Landesebene Klarheit im Umgang mit der neuen Rechtsgrundlage zu schaffen. Zuvor hatten bereits Bayern (BAYTEX 2018), Brandenburg (BBTEX 2019) und Niedersachsen (NITEX 2019) ähnliche Übungen abgehalten – wenn auch in kleinerem Maßstab.

Dass es sich bei BWTEX durchaus um eine rechtlich umstrittene Ausgangslage handeln könnte, war den Soldat*innen, die am 17. Oktober in der Stettener Kaserne ihre Ausrüstung und Panzerfahrzeuge präsentierten, durchaus bewusst. Ein Soldat verwies bei der Frage nach möglichen Einsatzszenarien gleich an den Presseoffizier, der allerdings auch von der Polizei nicht gefunden werden konnte. Ein Sanitätssoldat machte sich über Vorgaben lustig, die sie anscheinend im Vorhinein bekommen hatten. So sei eine „No Boots on the Ground“-Order erlassen worden, die Soldat*innen dazu verpflichtet, ihre gepanzerten Fahrzeuge nicht zu verlassen und die Arbeit in der Gefahrenzone von der Polizei erledigen zu lassen. Darüber lachend wurde im selben Atemzug eine Änderung des Artikel 35 im Grundgesetz gefordert, um die Armee im Inland leichter einsetzen zu können. Damit bläst der Soldat ins selbe Horn wie der Gastgeber der Übung, CDU-Innenminister Strobl.

Rechtspolitik wird in den Stäben und Ministerien gemacht

Der mediale Fokus bei solchen Großübungen liegt zumeist dort, wo Bilder erzeugt werden – wo Spezialkräfte der Polizei mit Panzerwagen oder Marineschiffen zum Einsatzort gebracht werden, Sanitätspanzer Verletzte abtransportieren, oder bewaffnete Soldat*innen öffentliche Flächen militärisch sichern. Hier wird ein Bild der Normalisierung von Inlandseinsätzen der Bundeswehr zur Terrorabwehr in die Öffentlichkeit vermittelt.

So ließ sich Innenminister Strobl, der zum law-and-order-Flügel der CDU gezählt werden kann, während der Übung wie folgt zitieren: „Die Bedrohungslage ist real. Wir können zwar hoffen, dass es nicht eines Tages wirklich zum Schlimmsten kommt. Aber allein mit der Hoffnung kommen wir nicht weiter.“[10] Damit untermauerte Strobl implizit auch seine über den Übungsrahmen hinausgehende Position als Befürworter einer Verfassungsänderung, mit dem Ziel den Spielraum der Bundeswehr im Inland auszuweiten. Ein realistischeres Bild der Wahrscheinlichkeit einer Anschlagsserie, wie sie in der Übung dargestellt wurde lieferte der Sprecher des Innenministeriums Renato Gogliotti: “Ein Anschlagsszenario, das sicherlich katastrophischen Ausmaßes ist und so für uns keine konkrete Basis hat. Aber wir wollen das Undenkbare üben.“[11] (Hervorhebung MK) Er beschrieb damit ein rein fiktives Szenario, ohne reale Basis, das die Anwendung der neuen Rechtsgrundlage ermöglicht. Eine skeptische, aber nicht grundlegend ablehnende Position formulierte der Innenexperte der Landtags-Grünen Uli Sckerl: „Wir werden genau hinschauen, ob die vom Grundgesetz verlangte Rollenverteilung zwischen Polizei und Bundeswehr überhaupt eingehalten werden kann.“. Damit erklärte er die BWTEX-Übung im Vorhinein zum Test dafür, „welche Rolle die Bundeswehr tatsächlich spielt“.[12] Bei diesen drei politischen Einordnungen der juristischen Ausgangslage handelt es sich um Positionen, die so oder so ähnlich nicht nur innerhalb der Landesregierung, sondern auch in den beteiligten Behörden vertreten sein werden.

Diese unterschiedlichen Grundeinstellungen in praktische Handlungsmuster, Kommunikationswege und Arbeitsabläufe zu übersetzen, war abseits der Fernsehkameras auch Teil der BWTEX-Übung und ihrer Vorgänger. So waren alle öffentlich präsentierten Übungen der TEX-Reihe auch mit einer Stabsrahmenübung verknüpft – einem reinen Kommunikationsplanspiel der Leitungsebenen. Dort sitzen Führungskräfte von Polizei, Militär und Rettungsdiensten in ihren jeweiligen Kommandozentralen und bearbeiten Szenarien ausschließlich auf den Ebenen von Kommunikation, Alarmierung und Organisation. Hier werden die juristischen Grenzfälle durchgespielt, um zu testen, wann die Bundeswehr hinzu gerufen werden kann und wann nicht. Interpretationen der Rechtslage, die sich hier durchsetzen, haben gute Chancen in den nächsten Jahren zu Handlungsgrundsätzen für Inlandseinsätze der Bundeswehr zu werden. Hier werden die Spielräume ausgelotet, wie weit Behördenvertreter gehen können, die eine Begrenzung von Inlandseinsätzen am liebsten ganz kippen würden.

Mit dem Versuch im Rahmen der TEX-Übungen Fälle zu konstruieren, in denen der Paragraph 35 greift, wird so eine behördenübergreifende Verfassungsinterpretation für den Inlandseinsatz der Bundeswehr zur Terrorabwehr etabliert, von der nicht klar ist, ob sie einer späteren Prüfung durch das Verfassungsgericht standhalten würde. Sollte es zum Fall der Fälle kommen, herrscht dann allerdings eine vorläufige Einigung, die zur Anwendung gebracht werden kann.

Normalisieren, Kennenlernen, Kommunizieren

Neben der Aushandlung der rechtlichen Grundlagen haben die TEX-Übungen allerdings auch die beabsichtigte, unmittelbare Wirkung den Inlandseinsatz der Bundeswehr in den Köpfen der breiten Bevölkerung und der ausführenden Polizist*innen, Feuerwehrleute, Sanitäter*innen und Soldat*innen zu normalisieren. Dass die BWTEX-Übung auch auf ihre Öffentlichkeitswirksamkeit ausgelegt war zeigt sich daran, dass zur Live-Übung am 19. Oktober 300 geladene Gäste aus Behörden und Parlamenten – einige auch aus der Schweiz, Österreich, Frankreich und Großbritannien – sowie 65 Pressevertreter*innen anwesend waren, um sich das inszenierte Anti-Terror-Spektakel von einer Tribüne aus anzusehen und darüber zu berichten. Für Innenminister Strobl war es zudem eine Möglichkeit seine „Handlungsfähigkeit“ pressewirksam zu inszenieren: „Wer heute erlebt hat, wie leistungsfähig hier gearbeitet wurde, wie konsequent aufeinander abgestimmt gehandelt wurde, kommt sicher zu dem gleichen Schluss wie ich: Die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben sind hoch professionell und sehr gut vorbereitet.“[13]

Neben der Öffentlichkeitswirksamkeit greift der Effekt der Normalisierung allerdings auch innerhalb der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. Ein idealtypisches Beispiel dafür war die Vorbereitung der Bevölkerungschutz-Einsatzeinheit des Roten Kreuz Zollernalb für die BWTEX-Übung. Bereits im Frühjahr hatten sie auf dem Truppenübungsplatz in Heuberg mit Bundeswehrsanitätskräften einen Tag zusammen gearbeitet und sich kennengelernt. Ein dort trainiertes Szenario war die gemeinsame Verletztenversorgung im Rahmen eines Zusammenstoßes zwischen Feldjägern der Bundeswehr und Demonstrant*innen im Rahmen eines fiktiven NATO-Gipfels. Danach gab es dann ein „echt cooles Fest“, so der Rotes Kreuz-Vertreter. In der Rolle des mit staatlichen Hoheitsrechten versehenen Bevölkerungsschutzes wurden, sowohl während der Übung als auch beim späteren gemeinsamen Feiern, die Neutralitätsgrundsätze des Roten Kreuzes anscheinend gepflegt an den Nagel gehängt. Ausgehend von diesem Beispiel muss von einer ähnlichen Verbrüderung von zivilen Behörden und Organisationen mit dem militärischen Gegenüber im Rahmen dieser Übungen ausgegangen werden.

Dass Rettungsdienste, Feuerwehr, spezialisierte Einheiten der Polizei wie Bombenentschärfer und Geräteeinheiten der Bereitschaftspolizei auf dem Feld der staatlichen Finanzierung durchaus in einem Konkurrenzverhältnis zu ihren militärischen Gegenstücken stehen, wenn diese vermehrt im Inland zum Einsatz kommen, schien keine besondere Rolle zu spielen. Bei der Leistungsschau am 17. Oktober auf diesen Themenbereich angesprochen, wurde gegenteilig, ausweichend, oder mit einem Verweis auf die Führungsebene, die ohnehin das Sagen habe, geantwortet.

Die Parole, auf die sich auf der ausführenden Ebene alle einigen konnten, wer in etwa: „Wir sind hier um Fehler zu machen und daraus zu lernen“. Eine pragmatische Einstellung, die sich wiederum mit der Vorgehensweise der Stabsebene deckt – den verfassungsrechtlichen Grenzfall in Übungsszenarien so lange durchspielen, bis sich eine gewisse Routine einstellt.

Großübungen sind nur die Spitze des Eisbergs

Mit jeder bildgewaltigen Übung der TEX-Reihe setzt sich die vermeintliche Normalität von bewaffneten Soldat*innen zur Terrorabwehr in der Öffentlichkeit weiter durch.

Dafür wird ein Verfassungsgerichtsurteil herangezogen, welches die Grenzen des rechtlich Möglichen beschreibt. Dass dieser Grenzfall zur Grundlage für regelmäßige Übungen gemacht wird, zeigt, dass im Bereich der Inneren Sicherheit und was den Einsatz des Militärs im Inland angeht aktiv mit Katastrophenszenarien gearbeitet wird. Ob mögliche künftige Einsätze dann tatsächlich die rechtliche Prüfung überstehen würden ist ungewiss. Sollte es so weit kommen, kann ein Verfassungsgerichtsurteil nach einigen Jahren entsprechender Praxis, selbst wenn es weitere Beschränkungen setzen würde, den entstandenen Schaden allerdings nicht mehr auffangen.

Abseits des Rampenlichts ist die bis vor wenigen Jahren noch weitestgehend als Tabu eingestufte Kooperation von Bundeswehr und Polizei in den letzten Jahren längst zum Alltag geworden. Für die Entwicklung der Ausbildung von Streifenpolizist*innen für sogenannte Amok- und Terrorlagen, die sich seit 2015 durchgesetzt hat, standen neben der Bundeswehr auch weitere Militärs, u.a. aus Frankreich und Israel, Pate.[14] Mittlerweile ist diese militarisierte Zusatzausbildung für „lebensbedrohliche Einsatzlagen“ fest in den Lehrplänen von Bundes- und Länderpolizeien verankert. Sie bildete auch bei BWTEX die Grundlage für das Vorgehen von übenden Streifen- und Bereitschaftspolizist*innen. Ähnliches gilt für die Spezialausrüstung, die mittlerweile in jedem Streifenwagen deponiert ist und bei der Übung zur Schau gestellt wurde. Auch beim Kauf von Schnellfeuerwaffen, Titanhelmen, schweren Schutzwesten und gepanzerten Fahrzeugen durch die Polizei wurde auf Erfahrungen der Bundeswehr aus den Auslandseinsätzen, wie in Afghanistan, zurückgegriffen.

Die intensivste Kooperation mit der Bundeswehr betreibt die Bundespolizei. Auf einer Konferenz für Führungskräfte im Juli 2019 unterzeichneten der Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, und der Präsident des Bundespolizeipräsidiums, Dr. Dieter Romann, in Blumberg bei Berlin eine Kooperationsvereinbarung.[15] Ziel soll es sein, auch einzelne Dienststellen beider Organisationen enger zu vernetzen. Als zentrale Arbeitsfelder wurde die Zusammenarbeit im Bereich Personal, sowie bei der Materialwirtschaft und -erprobung hervorgehoben.

Für Zusammenarbeit auf diesen Feldern gibt es allerdings schon jetzt Beispiele. So findet die Fallschirmausbildung der Spezialkräfte der Bundespolizei bereits bei der Bundeswehr statt.[16] Zudem besuchten im März 2019 zwei Schießtrainer der Bundespolizei eine Ausbildung zur Nutzung von ferngesteuerten Maschinengewehren auf Fahrzeugen im Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg.[17] Diese Waffensysteme sollen künftig auch auf gepanzerten Fahrzeugen der Bundespolizei genutzt werden. Zudem laufen aktuelle Materialerprobungen des Bundesinnenministeriums zur Beschaffung von gepanzerten Fahrzeugen für Bundes- und Landespolizeien u.a. bei der Wehrtechnischen Dienststelle 41 in Trier.

Auch über die Bundespolizei hinaus hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt, dass Polizeibehörden und Zoll regelmäßig Bundeswehrgelände nutzen, sowohl für Ausbildungsvorhaben, als auch als Park-, Unterbringungs- und Versorgungsinfrastruktur bei Großeinsätzen.[18] Ein Vorgehen, das lange für Ausnahmesituationen vorbehalten war, in den letzten Jahren aber zum absoluten Alltagsgeschäft geworden ist. Eine weitere Verschmelzung von Polizeien und Armee auf der Ebene der Infrastruktur, die darüber hinaus zu einer alltäglichen Annäherung führt.

Zusammenbringen, was nicht zusammengehört

Solange die aktuelle Auslegung der Verfassung Bestand hat, ist nicht davon auszugehen, dass Soldat*innen der Bundeswehr in der näheren Zukunft das Bild Deutscher Städte prägen werden, wie es beispielsweise in Frankreich oder Belgien zum Alltag gehört. Die Bundeswehr steht vielmehr weiter für Ausnahmesituationen bereit, auch wenn es sich dabei um Gipfelproteste handelt, wie die beschriebene Übung aus dem Frühjahr und Ereignisse der letzten Jahre zeigen.

Aktuell ist es kaum vorstellbar, dass Streifen der Bundeswehr die Polizei im Alltagsgeschäft ablösen. Sollte sich das politische Klima allerdings, z.B. durch eine Reihe von Anschlägen oder weitere Wahlerfolge der AFD verschärfen, steht die Bundeswehr bereits in den Startlöchern, weil erste Annäherungsschwierigkeiten durch regelmäßige gemeinsame Übungen bereits ausgeräumt wurden. Mit der permanenten Annäherung von Polizei und Bundeswehr wird nicht nur die politische Option ausgefeilt. Es werden auch die organisatorischen Unstimmigkeiten behoben, die einem großflächigen Inlandseinsatz der Bundeswehr bis vor Kurzem auch strukturell im Wege standen. Ein Prozess der zu einer permanenten Absenkung der Schwelle für Inlandseinsätze der Bundeswehr, auch solchen für repressive Zwecke, führt.

Unterhalb des bewaffneten Inlandseinsatzes der Bundeswehr hat sich in den letzten Jahren allerdings ein weiterer Trend durchgesetzt – die Militarisierung der Polizei. So ist ein Effekt des Abfärbens militärischer Vorgehensweisen, Denkmuster, Materialien und Waffen auf die Polizei zu beobachten, der sich in der Eskalationshirarche abwärts von den Spezialkräften bis hinunter zur Ebene des Streifendienstes bemerkbar macht.[19] Damit ist die Bundeswehr als Orientierungspunkt für die Polizei mittlerweile nicht nur bei Anti-Terror-Einsätzen, sondern bis weit in den Polizeialltag hinein zum Teil der inneren Sicherheitsarchitektur geworden, auch wenn kein*e Soldat*in die Kaserne verlässt, oder sich auf anderen Wegen aktiv beteiligt.

Die gesellschaftliche Katastrophe liegt also mitnichten allein in einem Gerichtsurteil oder der Durchführung einer Anti-Terror-Übung mit Beteiligung der Bundeswehr. Vielmehr ist in den letzten Jahren ein Dammbruch im Bereich des Trennungsgebots zwischen Polizei und Armee zu beobachten. Die schleichende Katastrophe ist somit in der zunehmende Verschmelzung von Polizei und Armee und der Normalisierung militärischer Mittel in der Innenpolitik zu sehen, die historisch, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum NS immer einen zentralen Stützpfeiler autoritärer Staatlichkeit bildete. Paramilitärisches Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung war immer ein Mittel, dass jenen politischen Kräften in die Hände spielte, die – allzu oft erfolgreich – versuchten, die Rechte und Widerstandsoptionen der Bevölkerung gegenüber dem Staat zu beschneiden.

Für März 2020 wird nach Informationen des Journalisten Björn Müller[20] bereits eine zweite Auflage der GETEX-Übung auf Bundesebene geplant. Diese Übung könnte einen Anlass bieten, Kritik an Verschmelzung von Polizei und Militär und der damit einhergehende Entdemokratisierung auf die Straße zu bringen.

Anmerkungen

[1]Welt, Hannelore Crolly, Wenn die Polizei an ihre Grenzen gerät, 20.10.2019, welt.de

[2]Streitkräftebasis, Andreas Steffan, „Die Polizei schützt, die Bundeswehr unterstützt“, 23.10.2019, streitkräftebasis.de

[3]Genauer beteiligt waren 320 Einsatzkräfte der Polizei, 300 Einsatzkräfte des Bevölkerungsschutzes, 120 Einsatzkräfte der Bundeswehr, 80 Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerkes (Versorgung), 240 Statisten der Polizei, 100 Statisten der Bundeswehr, 380 Personen für die Übungsorganisation von Polizei/Bevölkerungsschutz und 100 Personen für die Übungsorganisation von Bundeswehr. Dazu kamen 300 Gäste (Presse / VIPs / Fachpublikum) und weitere beteiligte in Krankenhäusern und an anderen Standorten. Zu finden unter: Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg, Interview zur BWTEX 2019, aus: Polizei-Zeitschrift Baden-Württemberg (DPZ), im.baden-wuerttemberg.de

[4]SWR Aktuell, Polizei und Bundeswehr in Stetten am kalten Markt – Schüsse und Bomben bei größter Anti-Terror-Übung Deutschlands, 19.10.2019, swr.de

[5]IMI-Analyse 2012/022, Michael Haid, „Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen“! – Die Bundeswehr im Innern nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 19.10.2012, imi-online.de

[6]IMI-Analyse 2017/36, Sven Wachowiak, Opération Sentinelle – Wie Frankreichs Anti-Terror-Krieg nach Hause kommt, 30.08.2017, imi-online.de

[7]IMI-Standpunkt 2014/004, Jacqueline Andres, Drohnen und Militär gegen die Umweltmafia in Italien, 19.01.2014, imi-online.de

[8]IMI-Analyse 2016/33b, Martin Kirsch, Bundeswehr in den Straßen? – Einschätzungen zur aktuellen Debatte um Bundeswehreinsätze zur Terrorabwehr in Deutschland, 17.10.2016, imi-online.de

[9]IMI-Analyse 2017/10, Martin Kirsch, GETEX – Polizei und Bundeswehr üben Anti-Terror-Einsatz im Inland, 12.04.2017, imi-online.de

[10]WELT, Hannelore Crolly, Wenn die Polizei an ihre Grenzen gerät, 20.10.2019, welt.de

[11]SWR Aktuell, Polizei und Bundeswehr in Stetten am kalten Markt – Schüsse und Bomben bei größter Anti-Terror-Übung Deutschlands, 19.10.2019, swr.de

[12]WELT, Hannelore Crolly, Wenn die Polizei an ihre Grenzen gerät, 20.10.2019, welt.de

[13]Südwestpresse, Luca Stettner, BWTEX-Übung in Stetten am kalten Markt – Polizei und Bundeswehr proben Kampf gegen Terroristen, 20.10.2019, swp.de

[14]SWR Fernsehen Rheinland-Pfalz, Beitrag: „Blut, Schweiß und Adrenalin“, 04.07.2017,19.30 Uhr, swr.de

[15]Streitkräftebasis, Patrick Schweitzer, Gemeinsame Potenziale nutzen, 12.07.2019, streitkraeftebasis.de

[16]Deutsches Heer, Michael Krause, Freifaller der GSG 9 der Bundespolizei lernen künftig beim Heer, 16.11.2018, deutschesheer.de

[17]Kommando Streitkräftebasis, Sandra Sander, Vom Auszubildenden zum Ausbilder – Bundespolizisten lernen bei der Bundeswehr, 07.04.2019, kommando.streitkraeftebasis.de

[18]Aktuelle Beispiele und ein Überblick über die Menge der Aufenthalte von Polizeikräften auf Bundeswehrgeländen finden sich in einer Anfrage der Linkspartei im Bundestag: Deutscher Bundestag, Drucksache 19/12704, Stattgefundene und geplante Amtshilfe- und Unterstützungsleistungen der Bundeswehr im Inland (Stand: zweites Quartal 2019), kleineanfragen.de

[19]IMI-Analyse 2019/018, Martin Kirsch, Paramilitärische Polizei – Vorbild Bundeswehr – Die Innenministerkonferenz koordiniert die bundesweite Aufrüstung und Militarisierung der Polizei, 18.07.2019, imi-online.de

[20]Pivot Area, Björn Müller, Germany: Large anti-terror drill with armed forces in the works, 27.06.2019, pivotarea.eu

Veröffentlicht am 30.10.2019 auf Informationsstelle Militarisierung (IMI)