Warum der Bericht der OAS zu den Wahlen in Bolivien nicht glaubwürdig ist
Regionalorganisation veröffentlicht Ergebnisse mit dreiwöchiger Verzögerung. Papier lässt Fragen offen. Beobachter kritisieren Schlussfolgerungen
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat am Mittwoch ihren Abschlussbericht über die Wahlen in Bolivien am 20. Oktober vorgelegt. Darin kommt die US-nahe Regionalorganisation zu dem Schluss, dass auf den gestürzten Präsidenten Evo Morales „zwar die Mehrheit der Stimmen entfallen sein könnten, er aber nicht die Differenz von zehn Prozent erhalten hat, um eine Stichwahl zu vermeiden“. Beobachter aus Lateinamerika, den USA und Europa übten umgehend Kritik an dem rund 100-seitigen Untersuchungsdokument und seinen Anhängen. Die scheidende Regierung in Uruguay forderte Maßnahmen der amerikanischen Staatengemeinschaft angesichts des Putschs in Bolivien.
Die OAS-Autoren bekräftigen nun ihre These, ein Sieg Morales‘ in der ersten Runde sei „statistisch unwahrscheinlich“. Sein Wahlsieg sei nur „durch eine massive und unerklärliche Zunahme der Stimmen der (Regierungspartei) MAS während der Auszählung der letzten fünf Prozent möglich geworden“.
„Eine statistische Analyse zeigt, dass Morales’ Sieg in der ersten Runde nur durch einen massiven Stimmenzuwachs am Ende der Zählung möglich war“, heißt es in dem OAS-Dokument. Die Wahlbeobachter hätten einen signifikanten Bruch in den Trends für die damals regierende Bewegung zum Sozialismus (MAS) und die Oppositionspartei Bürgergemeinschaft (CC) festgestellt, nachdem bereits 95 Prozent der abgegebenen Stimmen in einer Schnellauswertung erfasst wurden. Sie sprechen von einer „überwältigenden“ Menge an Beweisen „betrügerischer Operationen zur Änderung des Wählerwillens“.
Wie schon ein vorläufiger Bericht der OAS enthält allerdings auch der abschließende Rapport keine konkreten Informationen, wie ein mutmaßlicher Wahlbetrug vonstatten gegangen sein soll und ob er vorsätzlich begangen wurde. Diese Thesen vertritt das De-facto-Regime, das nach dem Sturz Morales’ die Macht übernommen hat.
Die OAS-Wahlbeobachter bekräftigen, sie hätten eine „umfassendes Inspektion“ durchgeführt, um „zu bestätigen, dass die Software keine Manipulationen durchführt und dass die eingegebenen Daten sicher und angemessen behandelt werden“. Diese Überprüfung habe sich nur bis zur Umkehr der Auszählungstendenz durchführen lassen. Nach diesem Zeitpunkt sei der Quellcode „an verschiedenen Tagen, an denen wir nicht anwesend waren, mehrfach geändert worden, so dass wir die Integrität der Software nicht mehr gewährleisten können“.
Ein Beweis von Manipulation könne aber nicht erbracht werden, weil man die digital übermittelten Informationen nicht mehr mit den Ergebnisprotokollen vergleichen könne, die in den Wahllokalen auf Papier erstellt wurden. Dieses Material wurde von Gegnern der MAS-Regierung im Zuge der Proteste verbrannt.
Bereits am 10. November hatte OAS-Generalsekretär Luis Almagro die Annullierung der Wahlen gefordert und Morales einen „Putsch“ durch „Betrug“ vorgeworfen. Diese Wortwahl ist im Bericht von Mittwoch nicht mehr zu finden. Parallel zu Almagros Äußerungen hatte die Regionalorganisation eine Erklärung veröffentlicht, in der erstmals von einer „massiven und unerklärlichen“ Trendwende in der Auszählung die Rede war. Wenig später kündigte Morales Neuwahlen und die Neubesetzung der Wahlbehörde TSE an. Die Entscheidung konnte die Situation jedoch nicht mehr beruhigen. Nur Stunden später forderten Armeechef Williams Kaliman und Polizeichef Vladimir Calderón den Rücktritt des Staatschefs. Morales und sein Vize Álvaro García Linera flohen ins mexikanische Exil. Bei Protesten gegen den Putsch sind seither mindestens 33 Menschen von Armee und Polizei getötet worden.
Kritik an dem Abschlussbericht der OAS kam umgehend aus den USA, Lateinamerika und Europa. Carmen Parejo Rendón, eine spanische Analystin und Direktorin des Onlineportals La Comuna, das eine MAS-nahe Position einnimmt, beanstandete, dass die OAS bis heute keinen konkreten Beweis für den angeblichen Betrug bei den Wahlen vom 20. Oktober in Bolivien erbracht hat.
„Der Bericht wiederholt die schlimmsten Fehler früherer Veröffentlichungen und enthält weitere Fehler“, schreibt der US-amerikanische Think Tank Zentrum für Wirtschafts- und Politikforschung (Center for Economic and Policy Research, CEPR). Die OAS belege einmal mehr, dass sie keine objektive Analyse durchgeführt habe. Kritisch sieht das CEPR vor allem die These, dass die Trendwende in der Auszählung nicht zu erklären sei. Auf diese These stützt sich die gesamte Argumentation der OAS.
In einem offenen Brief haben zahlreiche Wissenschaftler diese Behauptung hinterfragt. „Tatsächlich war das Endergebnis auf der Grundlage der ersten 84 Prozent der ausgezählten Stimmen ziemlich vorhersehbar. Dies wurde durch statistische Analysen und auch durch eine noch einfachere Analyse der Unterschiede in den politischen Präferenzen zwischen den später und den früher gemeldeten Gebieten aufgezeigt“, heißt es in der Stellungnahme, die unter anderem in der britischen Tageszeitung The Guardian erschienen ist. In den zuletzt ausgezählten Gebieten sei die Basis von Morales schlichtweg stärker gewesen als in den zuerst ausgezählten Wahlkreisen.
„In dem Bericht [der OAS] ist mehrheitlich von der Schnellauszählung die Rede, obwohl diese gar keine Rechtsgültigkeit besitzt“, schreibt der argentinische Forscher Rodrigo Quiroga. Die OAS habe in 226 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten festgestellt, die 34.718 Stimmen aus 38.001 Stimmen betreffen. „Selbst wenn all diese Stimmen annulliert werden, hätten die MAS und Morales immer noch einen Vorsprung von mehr als zehn Prozent“, so Quiroga. Der US-amerikanische Ökonom David Rosnick, Mitarbeiter des CEPR, twitterte, dass die Differenz bei Annullierung der kompletten strittigen Stimmen bei 9,99925 Prozent gelegen hätte.
Der IT-Spezialist Quiroga stellt indes auch die These in Abrede, lediglich bei den letzten fünf Prozent der Stimmen habe es eine massive Verschiebung zugunsten der MAS gegeben. „Bei den letzten fünf Prozent hat die MAS 65,62 Prozent erhalten und die CC 19,89 Prozent“, so Quiroga. Bei den fünf Prozent der davor ausgezählten Stimmen – also zwischen 90 und 95 Prozent der Gesamtstimmen – entfielen auf die MAS 66,41 Prozent und auf die CC 16,1 Prozent: „Das bedeutet, dass es nicht nur keine Trendwende gegeben, sondern dass die Differenz zwischen MAS und CC gegen Ende hin sogar abgenommen hat.“
Bei einem Treffen der Mitgliedsstaaten des südamerikanischen Staatenbundes Mercosur forderte die uruguayische Regierung angesichts der Lage in Bolivien indes die Anwendung der Demokratieklausel. Es müsse geprüft werden, ob die Mitgliedschaft des Landes suspendiert werden muss, weil nach dem Staatsstreich gegen Evo Morales die verfassungsmäßige Ordnung verletzt wurde. Der Vorschlag wurde vom uruguayischen Außenminister Rodolfo Nin Novoa bei einem Treffen in der brasilianischen Stadt Rio Grande do Sul mit seinen Amtskollegen aus Brasilien, Argentinien und Paraguay gemacht. Nin Novoa dazu: „Der Mercosur muss von den bolivianischen Behörden die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte, eine strenge Kontrolle der Gewaltanwendung und ein Ende der wahllosen Unterdrückung der Zivilbevölkerung fordern.“
Veröffentlicht am 6.12.2019 auf Portal amerika21.de